30 Jun fK 5/08 Avnery
„Ich bin ein Flüchtling“
von Uri Avnery
Ich war gerade 10 Jahre alt, als meine Familie Deutschland fluchtartig verlassen musste. Es war Ende 1933. Mein Vater befürchtete, dass Konkurrenten ihn bei der Gestapo denunzieren würden.
Ich erinnere mich gut an den Tag. Meine Eltern und wir vier Kinder hatten uns in kleine Gruppen geteilt. Mein Vater war schon mit meinem Bruder in Straßburg angelangt, als ich mit meiner Mutter unsere abenteuerliche Fahrt begann, kreuz und quer mit der Eisenbahn durch Deutschland zu fahren, um unsere Spur zu verwischen. Als unser Zug endlich um Mitternacht bei Kehl über den Rhein fuhr, atmeten wir auf. Wir waren in Freiheit. Hundert Tausende von deutschen Juden, darunter alle meine Verwandten, waren nicht so glücklich. Sie wurden Opfer des Holocausts.
Meine Familie war seit Jahrhunderten, vielleicht Jahrtausenden, in Deutschland verwurzelt. Sie stammt aus dem Rheinland, obwohl ich selbst in Westfalen geboren und in Hannover aufgewachsen bin. Mein Vater hat immer behauptet, seine Vorfahren wären mit Julius Cäsar nach Deutschland gekommen. Leider haben sich dafür keine archäologischen Beweise gefunden.
Trotzdem war mein Vater einer der wenigen, die die Gefahr vom ersten Augenblick an erkannten. Er fühlte sich auch beleidigt. Dass das deutsche Volk einen Mann wie Adolf Hitler legal und demokratisch an die Macht bringen konnte, hat ihn aufs tiefste betroffen.
Ich erinnere mich noch gut an meine Onkel und Tanten, die glaubten, mein Vater wäre verrückt geworden. „Aber Alfred“, sagten sie, „die Deutschen sind doch ein Kulturvolk! Hier kann uns nichts passieren! In ein paar Monaten wird der Spuk vorbei sein! Höchstens werden ein paar polnische Juden ausgewiesen werden!“ Mein Vater hat ihnen nicht geglaubt, und darum bin ich heute am Leben.
Als meine Eltern beschlossen hatten auszuwandern, waren die Tore fast aller Länder verriegelt. Da wir ziemlich wohlhabend waren, hatten wir noch eine Auswahl. Ich erinnere mich, dass über Finnland und die Philippinen gesprochen wurde. Aber mein Vater, ein Zionist von Jugend auf, wählte Palästina, und ich, als Kind, war begeistert davon. Keiner von uns hat das jemals bereut. Meine Eltern waren in ihrer neuen Heimat glücklich, obwohl sie hier physisch schuften mussten wie noch nie.
Meinem Vater wäre es nie eingefallen, wieder deutschen Boden zu betreten. Als die Synagogen im Hitler-Deutschland zu brennen begannen, und auch die Optimisten unter den deutschen Juden merkten, dass die Flucht der einzige Ausweg ist, war kein Tor mehr offen. Die Vereinigten Staaten hatten schon 1924 die Einwanderung stark begrenzt. Alle anderen Staaten wollten keine Juden aufnehmen. Die Schweiz bestand darauf, dass deutsche Pässe für Juden den Buchstaben „J“ trugen. Mehr und mehr Länder wollten keine Juden mehr haben.
Der Name Evian ist in meinem Gedächtnis eingeprägt. Es ist ein Symbol für die Schande der Menschheit. Die Diplomaten von 32 Staaten kamen dort im Juli 1938 zusammen, um über die Rettung der deutschen Juden zu beraten. Nichts, absolut nicht kam dabei heraus. Hunderttausende waren in unmittelbarer Lebensgefahr, und die Diplomaten redeten und redeten und redeten.
Das deutsche Schiff St. Louis ist ein anderes Symbol. 937 Juden – Männer, Frauen und Kinder – konnten sich im Mai 1939 an Bord retten. Es brachte sie bis an die Küste Kubas, und danach an die Küste der Vereinigten Staaten. Keiner ließ sie ans Land. Sie mussten zurück nach Europa, wo die meisten im Holocaust umkamen.
Was ist die Lehre dieser schrecklichen Zeit? Ist die Menschheit überhaupt bereit, daraus eine Lehre zu ziehen? Scheinbar nicht. Wieder gibt es Millionen von Flüchtlingen, die keine neue Heimat finden. Die Opfer von Genoziden, Verfolgungen und Hunger verlieren ihr Leben auf der verzweifelten Suche nach Sicherheit und Arbeit. Die Menschheit sieht zu, wie sie damals zugesehen hat. Leider ist unser Staat Israel keine Ausnahme. Der Staat der Juden, der Staat der Überlebenden, benimmt sich genau wie alle anderen. Das ist unsere private Schande.
Wie Albert Einstein sagte: „Die Welt ist nicht gefährlich wegen denen, die Schaden anrichten, sondern wegen denen, die zusehen und nichts tun.“ Die Menschlichkeit klopft an unsere Tore. Werden wir sie wieder verriegeln?
Uri Avneryist Journalist, Schriftsteller und Friedensaktivist. Für seine Tätigkeit wurde er u. a. mit dem Alternativen Nobelpreis und dem Aachener Friedenspreis ausgezeichnet.
Sorry, the comment form is closed at this time.