29 Jul fK 5/05 Höhme
Partizipation in der Kindertagesstätte
von Evelyne Höhme-Serke
Erfahrungen mit Veränderungsprozessen in dem Projekt „Demokratie leben in Kindergarten und Schule“ in Eberswalde
Eine demokratische Gesellschaft lebt von den Menschen, die das Unterfangen Demokratie selbstbewusst und verantwortlich weiterentwickeln. Dass auch kleine Kinder frühzeitig gefördert werden sollen, zivilgesellschaftliche Fähigkeiten zu entwickeln, ist zunehmend Gegendstand in der pädagogischen Diskussion. Kindertagesstätten sind da vor eine ganz besondere Aufgabe gestellt.
Partizipation gehört nicht nur zu den Grundrechten von Kindern. Kinder benötigen Partizipationskompetenzen, um den Anforderungen gewachsen zu sein, die die Bedingungen des gesellschaftlichen Wandels an jedes Individuum stellt. Menschen müssen viel mehr als früher in der Lage sein, entscheiden zu können: Was will ich und was brauche ich? Dabei müssen sie ebenfalls fähig sein, Verantwortung für andere und die Gemeinschaft zu übernehmen. Die Entwicklung der gesamten Persönlichkeit und das Erlernen von Kompetenzen zu Selbstbestimmung sind zu einer wichtigen Bildungsaufgabe geworden. Die Gesellschaft der Zukunft wird eine Wissensgesellschaft sein, in der „Neugier, lernen wollen und können, Problemlösen und Kreativität eine wichtige Rolle spielen“ (Bundesjugendkuratorium, Streitschrift Zukunftsfähigkeit 2001).
Seit 2002 sind Erzieherinnen-Teams in Eberswalde im Projekt „Demokratie leben“ dabei, ihre pädagogische Praxis im Hinblick auf diese Bedingungen zu überprüfen und neue Vorgehensweisen und Methoden zu entwickeln, die eine Partizipation von Kindern gewährleisten.
Demokratie wird im Projektzusammenhang als Alltagskultur verstanden, die auf Verständigung, Verabredungen und Begründungen basiert. Demokratie ist kein statischer Zustand, der – einmal erworben – als gesichert gilt. Ebenso wenig ist es möglich, Kindern demokratisches Verhalten beizubringen. Kinder lernen Demokratie, indem sie erleben, als einzigartiges Individuum in der Gemeinschaft wahrgenommen und anerkannt zu werden und einen Platz zu haben. Sie eignen sich Kompetenzen für ein demokratisches Zusammenleben an, wenn sie ihren Bedürfnissen, Interessen und Vorstellungen in Aushandlungsprozessen in einer prinzipiell gleichberechtigten Begegnung mit anderen Geltung verschaffen können. Und sie wachsen gleichsam in eine demokratische Alltagskultur hinein, indem sie ihr Recht ausleben, sich an der Gestaltung des alltäglichen Zusammenlebens zu beteiligen und an den wichtigen Entscheidungen mitzubestimmen. Die Bedingungen dafür zu schaffen, ist in Kindertageseinrichtungen Aufgabe der pädagogischen Fachkräfte.
Neue Herausforderungen für Erzieher(innen)
Dies ist jedoch alles andere als eine leichte Aufgabe. Die Erfahrungen im Projekt „Demokratie leben“ haben gezeigt, dass Erzieher(innen) Unterstützung auf verschiedenen Ebenen benötigen, wenn sie ihre pädagogische Praxis so verändern wollen, dass die Kinder sich an der Gestaltung des Kita-Alltags beteiligen und ihre Bildungsprozesse selbst bestimmen können: Sie brauchen Kenntnisse partizipativer Verfahren und Methoden, die Möglichkeit des kollegialen Austauschs und der Reflexion, eigene Erfahrungen mit respektvollem Umgang und Partizipation, und sie brauchen theoretisches Wissen.
Erzieher(innen) benötigen Kompetenzen in Verfahren und Methoden der Beteiligung, sowohl in der Wahrnehmung dessen, was die Kinder beschäftigt, als auch in der Fähigkeit zu einer dialogischen Gesprächsführung und der Moderation von Kindergesprächen.
Der Situationsansatz ist die theoretische und methodische Basis des Projekts. Für die pädagogische Arbeit mit den Kindern heißt das, dass die Erzieherinnen grundsätzlich von den Lebenssituationen der Kinder ausgehen und in den vier Planungsschritten – Situationsanalyse, Zielformulierung, Gestaltung, Reflexion – vorgehen.
Im ersten Schritt, der eingehenden Situationsanalyse, vermittelt die Erzieherin den Kindern die Botschaft: Jede und jeder einzelne von euch ist so wichtig, dass ich große Anstrengungen dafür unternehme, um herauszubekommen, was euch beschäftigt, und was ihr braucht, um euch euren Interessen und Bedürfnissen angemessen und umfassend zu bilden und um euch selbstbewusst in der Gemeinschaft entfalten zu können.
Die Erzieherin beginnt mit gezielten Beobachtungen, die zumeist mit einer oder mehreren Kolleginnen ausgewertet werden. Jedoch kann sich die Erzieherin nicht allein auf ihre Interpretation stützen, um die Themen der Kinder herauszubekommen. Sie muss in die Perspektive der Kinder gehen, ihre Deutungen und Sinngebungen erfahren, will sie nicht riskieren, wieder in eine erwachsenenzentrierte Pädagogik zurückzufallen. Dazu führt sie Gespräche mit den Kindern, bei denen es darauf ankommt, dass sie wirklich dialogisch – also ergebnisoffen – sind und von einer Gleichwertigkeit der Gesprächspartner ausgehen, bei aller Unterschiedlichkeit und Ungleichheit, bezogen auf das Alter, spezielle Erfahrungen, Kenntnisse, Ansichten usw. Entscheidend ist dabei, dass die Erzieherin sich eine offene, fragende Haltung bewahrt. Kinder, die nach ihrer Sicht der Dinge gefragt werden, entwickeln das Gefühl, wichtig zu sein und etwas bewirken zu können. Dies ist eine Voraussetzung, um sich aktiv einbringen zu können.
Eine Erzieherin stellte aufgrund ihrer Beobachtungen fest, dass die Kinder mit Vorliebe Katzen spielten. Sie zog daraus den Schluss, dass die Kinder sich für das Thema Katzen interessierten. Hätte sie sich damit zufrieden gegeben, wäre daraus möglicherweise ein Projekt entstanden, bei dem alles Wissenswerte über Katzen behandelt worden wäre. Erst in Gesprächen mit den Kindern wurde ihr klar, dass hinter ihren Aktivitäten noch weitere Interessen und Bedürfnisse standen, nämlich so zu sein wie Katzen, zu kuscheln und zu raufen, auch mal kratzen und beißen zu dürfen und vom Fußboden zu essen.
Nach der Analysephase – bei der die Erzieherin auch das Umfeld der Kinder einbezogen und Informationen von den Eltern eingeholt hat – geht es darum zu entscheiden, was aus diesen Erkenntnissen folgen soll. Auch hier werden die Kinder beteiligt. Die Erzieherin meldet den Kindern (dem Alter der Kinder angemessen) ihre Beobachtungen zurück und bespricht mit ihnen, welche Aktivitäten daraus folgen sollen. Das Aufnehmen der Interessen der Kinder enthebt die Erzieherin jedoch nicht der Verantwortung, aufgrund ihrer fachlichen Kenntnisse in ihrer Zielformulierung die Sach-, Selbst-, sozialen und lernmethodischen Kompetenzen zu bestimmen, die die Kinder vielleicht noch nicht entwickelt haben, und die sie noch erweben sollen.
Um die Kinder bei ihren Planungen und Ideenentwicklungen zu unterstützen, brauchen die Erzieher(innen) Moderationskompetenzen. Es war schon eine neue Lernerfahrung, in den Kinderbesprechungen den „eigenen Senf“ herauszuhalten und sich auf die Rolle der Moderatorin zu beschränken, die auch einschließt, dafür zu sorgen, dass alle Kinder zu Wort kommen, die wollen. Für Pädagoginnen ist es nicht immer einfach, sich zurückzuhalten und den Kindern Zeit und Raum zu geben, ihre Ideen selbst zu entwickeln, sie zu vertreten und sich auf Vorschläge zu einigen.
Am Ende von Aktivitäten und auch immer wieder zwischendurch werden die Erfahrungen reflektiert, dokumentiert und damit den Kindern und Eltern zur Verfügung gestellt.
Um ihre pädagogische Praxis zu reflektieren und sich fachlich auszutauschen, brauchen Erzieher(innen) genügend Zeit und Raum. Im Arbeitsalltag, der von ständig wechselnden Anforderungen bestimmt ist, ist es notwendig, ab und zu innezuhalten und darüber nachzudenken: Wo stehen wir? Was läuft zu unserer Zufriedenheit? Wo sehen wir Veränderungsbedarf?
Da ein partizipativer Umgang mit den Kindern nicht ohne eine entsprechende Haltung auskommt, haben wir uns viel Zeit dafür genommen, um gemeinsam in einen Diskurs zu gehen, in dem es z.B. um die Auseinandersetzung mit dem Bild vom Kind und der Rolle als Erzieherin ging. Eine pädagogische Arbeit, die auf Beteiligungsprinzipien basiert, ist immer auch ein Prozess der persönlichen Entwicklung der Pädagog(inn)en. Dabei geht es auch um eine kontinuierliche Reflexion über die eigenen Sichtweisen, Gefühle, Betroffenheiten und inneren Konflikte. In Workshops beschäftigten wir uns beispielsweise eingehend mit der Haltung und dem Umgang mit den Gefühlen, die Kindern äußern, und mit den eigenen Abwehrmechanismen, die bei Gefühlen auftreten, die – aus welchen Gründen auch immer – schwer zu handhaben sind.
Eine Kultur der wechselseitigen Anerkennung
Dieses Infrage-Stellen ist der erste und zugleich schwierigste Schritt der Veränderung. Um dazu bereit zu sein, müssen die Teams ein Klima der gegenseitigen Wertschätzung pflegen, wozu auch eine Fehlerfreundlichkeit gehört in dem Sinne, dass es nicht um „richtig“ oder „falsch“ geht, und Fehler für jeden Lernprozess unerlässlich sind.
Beteiligung beginnt bereits mit der Erfahrung, als einzigartiges Individuum mit all seinen Besonderheiten anerkannt zu werden. Eine Voraussetzung dafür, Kindern diese Erfahrungen zu ermöglichen, ist, dass auch die Erwachsenen dies selbst erleben. So gehört es zu den zentralen Aufgaben innerhalb der Projektarbeit, für eine Kultur der wechselseitigen Anerkennung zu sorgen. Dabei meinen wir mit Anerkennung nicht Bestätigung um jeden Preis, sondern auch eine kritische Distanz, die den Respekt vor der Eigenart jeder einzelnen Person einschließt.
Eine weitere Bedingung für die Bereitschaft zur Entwicklung einer partizipativen Pädagogik ist eine konsequent partizipative Haltung in der Zusammenarbeit der Fachkräfte. Das ist für alle Beteiligten ein Lernprozess. So war es vor allem in der Anfangszeit oft nicht einfach, der Versuchung zu widerstehen, zugunsten der Effektivität oder aus pragmatischen Gründen darauf zu verzichten, in Aushandlungsprozessen einen „Dritten Raum“, eine neue, gemeinsame Basis zu finden, auf der alle Beteiligten sich wieder finden können.
Die am Projekt beteiligten Kita-Leiterinnen haben uns mitgeteilt, dass die eigene Erfahrung, persönlich und fachlich wertgeschätzt zu werden und als Subjekte Prozessverläufe mitgestalten zu können, sich positiv auf ihre Haltung gegenüber Kindern, den Kolleginnen und Eltern ausgewirkt hat.
Nicht zuletzt brauchen Erzieher(innen) Wissen, u.a. aus der Hirnforschung und der neueren Entwicklungspsychologie, die überzeugend nachgewiesen haben, dass Beteiligung in der Bildungsarbeit eine dem Menschen sehr angemessene Form ist. Wenn Erzieher(innen) wissen, dass Kinder sich von Anfang an die Welt aktiv aneignen, werden sie die Lernbereitschaft und die Potentiale der Kinder aufgreifen und unterstützen, und sie werden ihre erzieherische Arbeit so gestalten, dass Kinder ihren Bildungsprozess selbst bestimmen können.
Zwar führen neue Informationen und andere Formen des Umgangs miteinander zu Verunsicherungen, stellen sie doch für selbstverständlich Gehaltenes in Frage. Sie setzen aber auch Potentiale frei. Im Projekt „Demokratie leben“ konnten wir erleben, dass nicht wenige Erzieherinnen das Angebot der Reflexionsmöglichkeit und die Aufforderung, sich mit zu ihrem bisherigen Selbstverständnis quer liegenden Wissensbeständen auseinanderzusetzen, als befreiend und vorantreibend erlebten.
Evelyne Höhme-Serke ist Erziehungswissenschaftlerin und Leiterin des Projekts „Demokratie leben in Kindergarten und Schule“ in Eberswalde.
Das Projekt „Demokratie leben in Kindergarten und Schule“ arbeitet seit 2002 in Eberswalde. Es wird von der Bernard van Leer-Stiftung und der Lindenstiftung für vorschulische Erziehung finanziell unterstützt. Projektträger sind das Institut für den Situationsansatz (ISTA) an der Internationalen Akademie für innovative Pädagogik, Psychologie und Ökonomie (INA) gGmbH und die RAA Berlin (Regionale Arbeitsstellen für Ausländerfragen, Jugendarbeit und Schule e.V.).
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