19 Jun fK 4/10 Köckeritz
Vollzeitpflege zwischen Ideologie und Realität
Perspektiven zum fachlichen Handeln in Sozialen Diensten
Von Christine Köckeritz
Vielfältige Bemühungen um die Sicherung und ständige Verbesserung von Qualität gehören seit geraumer Zeit mit großer Selbstverständlichkeit zum Alltag in der Jugendhilfe. Darüber hinaus werden die fachlichen Bemühungen inzwischen sogar noch weiter gespannt. Es geht längst nicht mehr nur darum, die Dinge richtig zu tun, sondern es wird immer häufiger auch danach gefragt, ob das, was getan wird, auch das Richtige ist, mit anderen Worten: ob die vielfältigen Hilfeangebote die Ergebnisse, die sie anstreben, auch tatsächlich erreichen.
Das Pflegekinderwesen macht hier eine traurige Ausnahme. In den großen Untersuchungen zu Jugendhilfeleistungen und -effekten (Baur et al, 1998, Schmidt et al., 2002) kommt die Vollzeitpflege gar nicht vor. Auch finden sich – sieht man von einigen regionalen Studien ab – keine bundesweit erhobenen repräsentativen Daten über Standards und Ergebnisse von verschiedenen Vollzeitpflegekonstellationen. In diesem Beitrag soll deshalb versucht werden, einen kritischen Blick auf die Praxis der Jugendämter im Bereich der Vollzeitpflege zu werfen und einige Forderungen hinsichtlich ihrer fachlichen Qualifikation zu formulieren.
Für die Ausgestaltung von Pflegeverhältnissen gibt es hierzulande – vereinfachend gesagt – zwei stark voneinander abweichende Leitideen: das Konzept der Ersatzfamilie und das Konzept der Ergänzungsfamilie. Das Konzept der Ersatzfamilie umfasst die dauerhafte Unterbringung von Kindern bei Pflegeeltern, die für die Kinder alle Elternverantwortung übernehmen und ihnen die Chance zur Beheimatung in ihrer Familie bieten. Die Herkunftseltern erhalten Unterstützung dabei, sich von den Kindern abzulösen und ihren Alltag ohne sie zu gestalten (Nienstedt, Westermann, 1998).
Das vom Deutschen Jugendinstitut formulierte Konzept der Ergänzungsfamilie geht von der Vorstellung aus, dass Kinder mit der Pflegefamilie eine größer gewordene Familie erhalten. Die Pflegefamilie habe dabei die Aufgabe, diejenigen Aufgaben dem Kind gegenüber zu übernehmen, die von der Herkunftsfamilie zeitweise so nicht erbracht werden können. Sie leiste einen wichtigen Beitrag zur Unterstützung des Kindes und vor allem auch der Herkunftseltern. Die Bindungen des Kindes an die Herkunftsfamilie sollen durch die Kooperation der Herkunftseltern und der Pflegeeltern geschützt und gefördert werden. Die Hoffnungen richten sich darauf, das namentlich regelmäßige Besuchskontakte zwischen Kind und Herkunftseltern, die von den Pflegeeltern gefördert werden, zum Erhalt gewachsener Bindungen beitragen. Die Frage, ob das Pflegeverhältnis auf Dauer angelegt oder nur befristet sein soll, wird zugunsten einer grundsätzlich anzustrebenden Rückführung beantwortet.
Soziale Dienste, deren Fachleute sich an der vom Deutschen Jugendinstitut entwickelten Konzeption der Ergänzungsfamilie orientieren, unterstellen, dass das Kind zwischen zwei Familien lebt (und auch gut leben kann) und verstehen sich selbst als Vermittler in einem Beziehungsdreieck von Pflegekind, Herkunftsfamilie und Pflegefamilie. Sie setzen zumindest stillschweigend auf eine gelingende Kooperation beider Familien und räumen der Rückkehr des Kindes in seine Herkunftsfamilie fast immer eine Chance ein.
Alltag bei der Betreuung von Pflegeverhältnissen
Wie steht es mit den praktischen Erfahrungen bei der Ausgestaltung von Vollzeitpflegeverhältnissen? Wegen des Mangels an repräsentativen Studien basieren die nachfolgenden Beobachtungen auf Einzeluntersuchungen, einigen Jugendhilfestatistiken sowie Erfahrungen aus Fortbildungen und Organisationsberatungen in örtlichen und überörtlichen Jugendhilfeträgern insbesondere im süddeutschen Raum.
Die Kooperation zwischen beiden Familien gestaltet sich erfahrungsgemäß schwierig
Blandow (2004) weist darauf hin, dass bei den für den Beziehungserhalt des Kindes notwendigen Besuchen die Konflikte zwischen den beiden Familien deutlich zutage treten. Besuchskontakte werden seltener durchgeführt als ursprünglich geplant. Auf längere Sicht kommt es zunehmend zu einem Rückzug der Herkunftsfamilie. Am ehesten besteht noch ein gelegentlicher Kontakt zur Mutter fort. Wenn Besuche stattfinden, scheinen sie nicht selten eine Belastung für die Pflegeeltern zu sein. Kötter (1997) zeigte in ihrer Studie, dass die Besuche von den Pflegeeltern, die gut in ein tragfähiges soziales Netz eingebunden sind, besser verkraftet werden als von Pflegefamilien mit starreren Außengrenzen. Die befragten Pflegeeltern berichteten ebenfalls von Belastungen der Pflegekinder durch Kontakte mit den Herkunftseltern. Daten aus Niedersachsen lassen vermuten, dass ca. 50 Prozent der Kinder nicht oder eher nicht belastet seien und starke und sehr starke Belastungen 20 Prozent der Kinder träfen (Blandow 2004). In anderen Untersuchungen (Eckert-Schirmer, 1997 zit. in Nienstedt und Westermann 2003, Novacki, Ertmer, 2002) zeigte sich indessen, dass aufrechterhaltene Besuchskontakte der Pflegekinder bei ihren Herkunftsfamilien mit einem höheren Risiko des Abbruchs der Vollzeitpflege verbunden sind. Repräsentative und differenzierte empirische Aussagen darüber, wie Kinder unterschiedlichen Alters und mit unterschiedlichen Vorerfahrungen Besuchskontakte erleben und welche Bedeutung Besuchskontakte für den Bestand des Pflegeverhältnisses haben, liegen jedoch bisher nicht vor.
Obwohl die Rückkehroption der Kinder von vielen Ämtern unterstellt wird, wissen wir nicht genau, wie es sich mit ihrer Realisierung verhält Die Statistik erfasst nur die Aufenthaltsdauer in der Pflegefamilie bis zur Beendigung des Pflegeverhältnisses, berücksichtigt keinen Zuständigkeitswechsel und weist keine biografischen Verlaufsdaten auf. Immerhin steigt die Aufenthaltsdauer mit wachsendem Lebensalter. Salgo (2001a) geht davon aus, dass in Deutschland ca. 60 Prozent aller Pflegekinder de facto Dauerpflegekinder sind.
Genauso wenig oder sogar noch weniger wissen wir darüber, wie die Zusammenarbeit der Jugendhilfe mit der Herkunftsfamilie gestaltet wird
Ob den Eltern systematisch Hilfeangebote gemacht werden, darf nach meinen Erfahrungen bezweifelt werden. Bei der herrschenden hohen Arbeitsdichte in den Ämtern kann sie dort jedenfalls nicht, schon gar nicht in der erforderlichen Intensität erbracht werden. In manchen Diensten wird zudem die Unterbringung des Kindes in der Pflegefamilie eher als Endpunkt einer Misserfolgsgeschichte mit den Herkunftseltern wahrgenommen und nicht auf weitere Unterstützung gesetzt. Umso erstaunlicher ist dann aber das behördliche Festhalten am Vorrang der Rückkehroption im Allgemeinen und auch an der Möglichkeit der Rückführung im einzelnen Fall.
Im behördlichen Verfahren gibt es keine unabhängige, parteiliche Vertretung von Kindesinteressen
Dieses Defizit wird auch durch die Kinder und Jugendliche betreffenden Beteiligungsvorschriften im Kinder- und Jugendhilfegesetz nicht ausgeglichen. Vor allem junge, behinderte oder traumatisierte Kinder brauchen eine deutlich stärkere Unterstützung, damit ihre Interessen zur Sprache gebracht werden (zu den rechtlichen Möglichkeiten der kindlichen Interessenvertretung im behördlichen Verfahren siehe Fieseler 2002).
Wir haben keine verlässliche Kenntnis darüber, ob die als gültig angesehenen Spielregeln (Offenhalten der Rückkehroption, Beziehungserhalt durch Besuchskontakte) den Kindern gut tun
Immerhin liegen einige oben bereits erwähnte Ergebnisse zu den Verläufen von Vollzeitpflegeverhältnissen vor, die nach dem Konzept der Ersatzfamilie (Nienstedt, Westermann, 1998) konzipiert sind. Sie sprechen überwiegend für eine hohe Stabilität der einmal begründeten Vollzeitpflegeverhältnisse (Eckert-Schirmer, 1997, zit. in Nienstedt, Westermann, 2003, S. 20, Novacki, Ertmer, 2002). Es gibt jedoch keine umfassende langzeitige Begleituntersuchung, die die Entwicklungsverläufe von Pflegekindern wissenschaftlich dokumentiert und empirisch fundierte Empfehlungen zur Ausgestaltung von Pflegeverhältnissen ermöglicht.
Ursachen der Probleme in der Praxis des Pflegekinderwesens
Die fachliche Diskussion im Pflegekinderbereich fokussiert derzeit stark auf die Notwendigkeit des Aushandelns von Hilfeangeboten mit den Herkunftseltern. Exemplarisch dafür ist die Position Faltermeiers (2001), der die Verantwortung für die Gestaltung des Pflegeverhältnisses bei Eltern und Kindern sieht und den sozialen Diensten die Rolle des Begleiters, ausdrücklich nicht die des Gestalters und Entscheiders zuweist.
Bei aller Bejahung von Verständigungsprozessen an Stelle unüberlegter Übergriffe kann der kritischen Beobachtung nicht entgehen, dass das Bemühen der Fachleute um Anschlussfähigkeit an die lebensweltlichen Positionen der Eltern eine Schattenseite haben kann: Es kann ihnen den Blick darauf verstellen, dass die vertrauten alltäglichen mütterlichen und väterlichen Deutungen und Handlungsmuster für die Kinder zweierlei konstituieren: ihren lebensweltlichen Erfahrungshorizont und zugleich ihre Entwicklungsrisiken (vgl. Brisch, 2002, 2004, Dornes, 2005).
Die Orientierung von Fachleuten an lebensweltlich gewachsenen Orientierungen, Selbstdeutungen und Interaktionen in der Familie darf jedoch eine eigenständige, fachlich begründete Wertung der aus ihnen folgenden kindlichen Lebensbedingungen nicht behindern. Genau dies geschieht aber, wenn die Diagnose von Risikofaktoren in der Familie als hoheitliche Anmaßung denunziert wird (z. B. Langhanky, 2004) und wenn soziale Dienste das staatliche Wächteramt zugunsten einer Dienstleistungsorientierung am liebsten aufgeben wollen, um mögliche Arbeitsbündnisse mit den Eltern nicht zu gefährden (Salgo (2001b) in einer kritischen Stellungsnahme gegenüber Mörsberger).
Die Lebensweltorientierung der Jugendhilfe bei der Hilfeplanung muss durch ihre Parteilichkeit mit Kindern ergänzt werden. Parteilichkeit (statt Allparteilichkeit oder Neutralität) ist ein unabdingbares Handlungsprinzip der Sozialarbeit in Kontexten, die durch ein strukturelles Machtgefälle gekennzeichnet sind. Das Eltern-Kind-Verhältnis ist ein solcher Kontext. Parteilich mit Kindern zu sein heißt keinesfalls, sich gegen Eltern zu stellen, jedoch: die ihnen geltenden Hilfen zur Erziehung müssen immer zunächst Hilfen zur Entwicklung der Kinder sein. Keinesfalls dürfen den Kindern die Kosten für eine erhoffte Entwicklung ihrer Eltern aufgebürdet werden.
Thesen zu den Aufgaben der Jugendhilfe bei der Ausgestaltung von Vollzeitpflegeverhältnissen
These 1: Pflegeverhältnisse brauchen eine klare Perspektive
Keinesfalls akzeptabel ist es, unter Verweis auf das Elternrecht grundsätzlich der Rückkehroption den Vorrang einzuräumen. Die Jugendhilfe sollte in einem überschaubaren Zeitraum entscheiden, ob eine Rückkehr des Kindes in die Herkunftsfamilie erfolgen kann oder ob die dauerhafte Beheimatung in der Pflegefamilie angestrebt werden soll. Für eine solche Entscheidung sind folgende Kriterien bedeutsam:
Kindbezogene Kriterien: Kinder, die in ihrer Herkunftsfamilie schwersten Misshandlungen und Vernachlässigungen ausgesetzt waren, sollten nicht durch die Aussicht auf Rückführung oder gar entsprechende Bemühungen re-traumatisiert werden. Für die Überwindung ihrer traumatischen Erfahrungen brauchen sie in erster Linie die Sicherheit einer Ersatzfamilie (Nienstedt, Westermann 1998).
Elternbezogene Kriterien: Eltern können z. B. durch Erkrankungen soweit beeinträchtigt sein, dass die Verbesserung ihrer Lebenssituation in einer dem Kind zuträglichen Zeitspanne wahrscheinlich nicht zu erreichen ist. Sehr kleine Kinder beheimaten sich in relativ kurzer Zeit bei den Personen, die sie liebevoll umsorgen. Dettenborn (1996) empfiehlt im Anschluss an Goldstein, Freud und Solnit für Kinder in den ersten drei Lebensjahren einen maximalen Trennungszeitraum von einem halben Jahr, danach ein Jahr, wobei er zu Recht vor jeder Art von Pauschalisierung warnt. Auch ältere Kinder brauchen Gewissheit über den Ort ihres Aufwachsens.
These 2: Rückkehroptionen bedürfen der Ausgestaltung
Eine realistische Rückkehroption erfordert erstens eine wirksame Unterstützung der Eltern zur Verbesserung ihrer Lebenssituation und oft auch ihrer erzieherischen Angebote dem Kind gegenüber. Diese Anforderung ist schwierig, vor allem wenn man bedenkt, dass Pflegeverhältnisse in der Regel erst eingerichtet werden, nachdem ambulante Hilfeangebote den Eltern gegenüber erfolglos geblieben sind. Allerdings darf aus diesem Umstand kein Argument gegen eine weitere Unterstützung werden: Vielmehr gilt es zu prüfen, ob die Vollzeitpflege als Hilfe zur Erziehung nicht früher einbezogen werden muss. Gefragt sind in der Elternarbeit nicht nur sensible Verstehensprozesse und Hilfen zur Verbesserung äußerer Lebensbedingungen, sondern auch psychoedukative Angebote wie Alltagstraining, Interaktionstraining oder Klärungshilfen in Beziehungskonflikten mit dem Partner oder den eigenen Eltern.
Wenn eine sinnvolle Rückkehr des Kindes in die Herkunftsfamilie gelingen soll, müssen zweitens die Pflegeeltern auf diese Perspektive eingestimmt sein. Sie sollten die Bereitschaft mitbringen, eine andere Familie vorübergehend zu unterstützen, indem sie den Eltern bei der Betreuung und Förderung der Kinder helfen. Nicht alle Bewerber(innen) für ein Pflegekind werden ihren Auftrag so sehen können. Das ist ihr gutes Recht und sollte ihnen nicht ausgeredet werden. Die Jugendhilfe braucht keine Strategien, zukünftige Pflegeeltern von ihren Wünschen abzubringen, sondern eine Öffentlichkeitsarbeit, mit der sie Personen mit den „richtigen“ Vorstellungen anspricht.
Wenn die Unterstützung der Eltern zur Verbesserung ihrer Lebenssituation und ihrer Erziehungsfähigkeit in einem den Kindern zuträglichen Zeitraum gelingt, ist eine Rückführung des Kindes in die Herkunftsfamilie möglich. Um den Kindern keine unzumutbaren Risiken eines elterlichen Rückfalls aufzuladen, sollten drittens für die Übergangszeit weiter erzieherische Hilfen geleistet werden. Bei der gegebenenfalls notwendigen Tagesbetreuung sehr junger Kinder erscheint es günstig, weiter mit der Pflegefamilie zusammen zu arbeiten. Alle Kinder sollten auch nach Abschluss des Pflegeverhältnisses den Kontakt zur ehemaligen Pflegefamilie aufrechterhalten können, ohne in ein Loyalitätsdilemma zu geraten. Schließlich sind die Pflegeeltern ein Teil ihrer Lebensgeschichte, die auch von den Eltern respektiert werden sollte.
These 3: Die auf Dauer angelegten Pflegeverhältnisse müssen sorgfältig gestaltet werden
Von besonderer Bedeutung ist die Frage, ob das Kind tatsächlich mit oder gar zwischen zweierlei Eltern gut leben und vom Potenzial einer Ergänzungsfamilie profitieren kann. Die zu dieser Frage vorliegenden spärlichen Daten (Kötter, 1997, Eckert-Schirmer, 1997, Novacki, Ertmer, 2002) lassen eher Zweifel aufkommen. Gemeinsam ausgeübte Elternschaft setzt zunächst voraus, dass die vorangegangene exklusive Beziehung des Kindes zu den Herkunftseltern nicht von Traumatisierungen beeinträchtigt war. Außerdem verlangt sie eine hohe Kooperationsbereitschaft in allen Alltagsfragen und weitreichende gegenseitige Akzeptanz unterschiedlicher Lebensauffassungen und Lebensstile. Diese Voraussetzungen dürften nur in Ausnahmefällen erfüllt sein.
Sollte sich die Ausgestaltung einer dauerhaften Vollzeitpflege jedoch – was wohl häufiger der Fall sein dürfte – an traumatische Erfahrungen des Kindes anschließen, kann von der Errichtung einer Ergänzungsfamilie schon deshalb keine Rede sein, weil Personen, die dem Kind tiefgreifend bedrohliche Erfahrungen vermittelt haben, keine Dauerbegleiter ihrer weiteren Entwicklung mehr sein können. Insoweit beinhaltet die Gestaltung einer dauerhaften Vollzeitpflege eine nachhaltige Umgestaltung der Erwachsenenrollen dem Kind gegenüber: Während die Pflegeeltern in die Rolle der sozialen Eltern eintreten, müssen die Herkunftseltern lernen, ein Alltagsleben ohne das Kind zu führen. Diese Wandlung ist außerordentlich schwierig. Sie fordert die Bewältigungsfähigkeiten der Eltern und sollte vom Sozialen Dienst – besser noch von einem entsprechend beauftragten freien Träger – sensibel begleitet werden. Dies ist ein Dienst an den betroffenen Eltern, möglicherweise auch an ihren späteren, noch nicht geborenen Kindern (Zenz, 2000).
These 4: Die Pflegefamilie benötigt Beratung und Entlastung
Nehmen Eltern ein traumatisiertes Kind dauerhaft bei sich auf, brauchen sie aktive Unterstützung, um die zu erwartenden Verhaltensauffälligkeiten angemessen zu verstehen, um es mit einem schwierigen Kind auszuhalten und ihm hilfreiche Brücken für seine Entwicklung zu bauen. Keinesfalls sollte die Pflegefamilie dabei mit einem quasi-therapeutischen Blick gesehen werden, der z. B. unterstellt, dass die eigene Kinderlosigkeit die Wurzel aller aktuellen Schwierigkeiten sei.
These 5: Jedes Pflegeverhältnis bedarf einer angemessenen Evaluation
Jede Konstellation muss sich darauf befragen lassen, ob sie das Wohlergehen des Kindes fördert oder ob sie gegebenenfalls unnötige Belastungen für das Kind hervorruft. Folglich braucht der Fachdienst Vorstellungen davon, anhand welcher Merkmale gelingende von scheiternden Konstellationen unterschieden werden können und mit Hilfe welcher Methoden dies geschehen kann. Die Frage nach Erfolgs- bzw. Misserfolgsindikatoren wird bisher in der sozialen Arbeit noch kaum gestellt. Das Pflegekinderwesen macht insofern keine Ausnahme. Dennoch gibt es bereits Erfahrungen, an die man bei der Entwicklung entsprechender Verfahren durchaus anknüpfen könnte (Novacki, Ertmer, 2002).
These 6: Auch das Unplanbare muss gestaltet werden
Jenseits aller Gestaltungsbemühungen schreibt das Leben immer seine eigenen Geschichten. In Pflegeverhältnissen können von Seiten der Kinder, der Pflegeeltern und der Herkunftseltern Beendigungswünsche geäußert werden, die ursprünglich so nicht vorgesehen waren.
a) Kinder können den Abbruch des Pflegeverhältnisses wünschen, weil ihnen familiäre Nähe nicht mehr geheuer ist, weil sie sich in dieser Pflegefamilie nicht wohl fühlen, weil sie sich um ihre leiblichen Eltern sorgen usw. So wenig, wie ihr Verbleib in der Pflegefamilie erzwungen werden kann, so wenig kann es eine Rückkehr auch älterer Kinder in die Herkunftsfamilie ohne nähere Prüfung der damit verbundenen Risiken geben. Die Jugendhilfe bleibt also in der Verantwortung und muss zusammen mit dem Kind nach anderen Möglichkeiten des Aufwachsens suchen. Dabei sollte auch um die Akzeptanz der beteiligten Erwachsenen (Eltern und Pflegeeltern) gerungen werden, damit das Kind in einer immer schwierigen Übergangssituation Begleitung erfährt und nicht durch Schuldzuweisungen zusätzlich belastet wird.
b) Der Abbruchwunsch der Pflegeeltern ist oft eine Folge ausweglos erscheinender Konflikte. Er trifft die Pflegekinder hart, die im Clinch mit ihren Pflegeeltern leben und – wahrscheinlich wiederholt – erleben, dass sie weggeschickt werden. Folglich brauchen sie jetzt nicht nur ein tragfähiges pädagogisches Angebot, sondern auch Beratung und Begleitung, die ihre Sorgen ernst nimmt. Auch die Pflegeeltern müssen bei der Bewältigung der Situation unterstützt werden, damit sie sich von Konflikten und den damit verbundenen negativen Gefühlen distanzieren und vielleicht im Kontakt mit dem Kind bleiben können.
c) Auch die Herkunftseltern können – lange nachdem sie eine dauerhafte Fremdunterbringung akzeptiert haben – nun doch die Rückkehr des inzwischen ja auch älter gewordenen Kindes wünschen: dies z. B., wenn sich ihre Lebensverhältnisse inzwischen günstig gewendet haben. Eine Rückführung gegen den Willen des Kindes darf es jedoch keinesfalls geben. Gelegentlich treffen aber die Vorstellungen der Eltern mit den Wünschen der Heranwachsenden zusammen. Aktuelle Konflikte mit den Pflegeeltern können das ihre dazu beitragen, einen Rückkehrwunsch als Lösungsvorstellung zu äußern. Ist die Rückkehr wegen Traumatisierungen oder der nach wie vor belasteten Beziehungen nicht im Interesse des Kindes, muss die Jugendhilfe dies klar thematisieren und allen Beteiligten, vor allem auch dem Kind durch Beratung beistehen, um einen besseren Weg zu finden. Kommt eine Rückkehr in Frage, muss sie sorgfältig im Alltag begleitet werden. Immerhin kann sich herausstellen, dass die Gemeinsamkeiten nur während der Wochenenden und der Ferien tragen, nicht aber während der konflikthaltigeren Schulzeit, was dann entsprechende Arrangements erfordert. Die Pflegeeltern dürfen in solchen Prozessen nicht allein gelassen werden. Sie müssen ihren möglichen Abschiedsschmerz artikulieren können, um vielleicht in die Lage zu kommen, ihre Tür dem Pflegekind gegenüber offen zu halten.
These 7: Das Pflegekinderwesen benötigt angemessene Strukturen
In manchen Jugendämtern gibt es die Bestrebungen, durch eine Einbindung der Fachleute des Pflegekinderdienstes in die Bezirkssozialdienste zu einer Erhöhung der Rückkehrzahlen zu gelangen. Auf diese Weise gefährdet man jedoch allenfalls die Fachlichkeit bei der Auswahl und Unterstützung der Pflegefamilien. Eine Umorganisation kann die konzeptionelle Arbeit nicht ersetzen. Die Behörden sollten also eher daran arbeiten, die Qualität ihrer Beratungs- und Entscheidungsprozesse zu Beginn der Pflegeverhältnisse zu verbessern. Dabei wäre in jedem Fall darüber nachzudenken, wie die Erfahrungen der Kinder (auch der sehr jungen Kinder) bei der Ausgestaltung des Pflegeverhältnisses berücksichtig werden können, ohne ihnen die Verantwortung für bevorstehende Entscheidungen aufzubürden.
These 8: Das Pflegekinderwesen braucht Empirie
Die Jugendhilfestatistik spiegelt wider, wer für welche Zeit in einer Pflegefamilie lebt. Sie findet ihre Grenze bereits in der Art routinemäßig erfasster Daten (zu denen z. B. nicht die konkrete Belastung des Kindes in der Herkunftsfamilie gehört) und endgültig in der örtlichen Zuständigkeit der erfassenden Behörde. Wir brauchen aber Daten, die die Lebens- und Erlebenswelt der Kinder sichtbar machen, ihre konkreten Lebensumstände und eben auch ihre weitere Entwicklung während und sogar nach dem Pflegeverhältnis erfassen. Aus ihnen können dann diagnostisch relevante Faktoren und empirisch informierte Gestaltungsempfehlungen abgeleitet werden.
Zusammenfassend soll die Forderung unterstrichen werden, Pflegeverhältnisse nicht allein dem guten Willen und der Verantwortung von Herkunftseltern und gar Kindern zu überlassen. Der soziale Dienst ist durchaus an der Gestaltung beteiligt und sollte sich nicht auf eine Vermittlerrolle zurückziehen. Die unverzichtbare Beratung muss sich davon fernhalten, illusionäre Vorstellungen der Akteure (der Herkunftseltern, der Pflegeeltern der Kinder, auch der Fachleute) ungeprüft zu ihrer Maßgabe zu machen: Ausgangspunkt und Zielperspektive des Handelns sind das Wohl des Kindes jetzt und hier und seine Entwicklungschancen in der Zukunft.
Der Beitrag beruht auf einem am 16. Tag des Kindeswohls in Magdeburg gehaltenen Vortrag.
Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.
Prof. Dr. Christine Köckeritz ist Hochschullehrerin an der Fakultät Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege der Hochschule Esslingen.
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