19 Jun fK 4/10 Griebel
Patchwork – Vielfalt von Stieffamilien
Entwicklungsaufgaben für Eltern und Kinder zur Bewältigung von Übergängen
Von Wilfried Griebel
Stiefkinder sind aus Ehen hervorgegangen, die durch Scheidung oder Verwitwung aufgelöst worden sind, sie stammen aus aufgelösten nichtehelichen Lebensgemeinschaften, aus Beziehungen, bei denen die Lebensgemeinschaft der Eltern bereits vor der Geburt der Kinder aufgelöst worden war oder aus Beziehungen, die sich nie sich als Lebensgemeinschaft etabliert hatten. Auch scheineheliche Kinder oder Kinder, die aus heterologer Insemination stammen, können als Stiefkinder angesehen werden. Entsprechend schwer sind die Anteile von Kindern, die in Deutschland in Stieffamilien leben, quantitativ zu bestimmen.
Forschung zu Stieffamilien ist vor dem Hintergrund von solchen Stieffamilien erarbeitet worden, die infolge von Scheidung und Wiederheirat entstanden sind. Wiederheirat und die Bildung einer Stieffamilie wird als Übergang in der Familienentwicklung beschrieben. Strukturelle Merkmale der Stieffamilie sollen aufgezeigt werden.
Transitionsansatz: Übergänge in der Familienentwicklung
Strukturelle Veränderungen von Lebensläufen in Familien werden in der internationalen Forschung zunehmend in der Perspektive des Übergangs- oder Transitionsansatzes gesehen (Fthenakis u. a., 2008). Kinder in Stieffamilien haben sowohl den Übergang zur Nachtrennungs- bzw. zur Nachscheidungsfamilie als auch den zur Stieffamilie zu bewältigen, sind also mit erhöhten Anpassungsanforderungen konfrontiert.
Jeder Übergang hat seine eigenen Inhalte, die mit spezifischen Anforderungen zusammenhängen. Übergänge sind prozesshafte Geschehen. Mit Transitionen verbundene Belastungen und Chancen werden als Entwicklungsanforderungen verstanden. Mit konzentrierten Lernprozessen muss die Anpassung an die jeweils gegebenen Veränderungen geleistet werden.
Übergänge bedingen einen Wandel im subjektiven Selbstbild, in der Identität, die durch einen veränderten sozialen Status und über Kompetenzgewinn erlebt wird. Sowohl auf der individuellen Ebene müssen starke Emotionen und Stress bewältigt werden, als auch auf der Ebene der sozialen Beziehungen in der Familie. Auf der Ebene bisheriger und neuer Beziehungen findet ein Rollenwandel statt. Beziehungen werden reorganisiert und neue Beziehungen können etabliert werden. Ein Pendeln zwischen unterschiedlichen Lebensbereichen setzt ein bei Übergängen, die mit der Einrichtung getrennter Haushalte verbunden sind. Bei Übergängen zur Nachscheidungsfamilie und Stieffamilie pendelt das Kind zwischen zwei Haushalten.
Der wesentliche Unterschied zwischen Übergängen im Kindes- und im Erwachsenenalter besteht darin, dass Kinder weniger an Entscheidungen über die Richtung des Lebenslaufes beteiligt sind. Individuelle, familiäre und Umgebungs-Ressourcen können die Bewältigung von Übergängen positiv beeinflussen. Außer einer Beschreibung der Veränderungen, die mit einem Übergang auf die Beteiligten zukommen, wird die Konzentration auf die Veränderungen im Individuum und in der Familie gefordert, d. h. die subjektive Sicht, die subjektive Veränderung, die das Erleben, die Rollenorganisation und die zentralen Beziehungen beeinflussen (Griebel & Niesel, 2004).
Scheidung und Übergang zur Nachscheidungsfamilie
Die familienpsychologische Forschung, auch die deutsche, hat sich in den letzten 25 Jahren mit den Auswirkungen von Trennung und Scheidung auf die Kinder und auf die Eltern befasst. Insgesamt gesehen wurde eine Vielzahl von Befunden geliefert, die sich kurz so zusammenfassen lassen: Kinder aus geschiedenen Familien zeigen häufiger Verhaltensprobleme und ein geringeres psychisches Wohlbefinden als Kinder aus nicht geschiedenen Familien (Fthenakis u. a., 2008; Walper & Wendt, 2005).
Die Anpassung der Kinder an die elterliche Trennung hängt vorwiegend von folgenden Faktoren ab: (1) Konflikte zwischen den Eltern; (2) Anpassung und elterliche Kompetenz des Elternteils, bei dem das Kind überwiegend lebt; (3) Beteiligung des Elternteils, bei dem das Kind nicht überwiegend lebt; (4) wirtschaftliche Ressourcen der Familie und das Vorhandensein weiterer belastender Lebensereignisse in der Familie. Schließlich ist der Zeitfaktor für die Anpassung an die neuen Bedingungen und damit für die Bewältigung des Übergangs zu berücksichtigen; bei den meisten Trennungen sind die Probleme nach etwa zwei bis drei Jahren bewältigt.
Schwächungen von Eltern-Kind-Beziehungen im Zusammenhang mit einer Scheidung setzen sich im Erwachsenenalter fort. Davon scheint in besonderer Weise die Vater-Kind-Beziehung betroffen zu sein (Fthenakis u. a., 2008). Zwei nach dem Kriterium des Kindeswohls am ehesten funktionierende Typen von Nachscheidungsfamilien lassen sich mit den Begriffen von „gemeinsamer elterlicher Sorge“ und „paralleler Elternschaft“ bezeichnen.
Übergang zur Stieffamilie: Strukturelle Veränderungen
Mit dem Eintritt eines neuen Partners in die Familie ergeben sich folgende Veränderungen auf der Strukturebene:
(1) Ein neues Partnersubsystem bildet sich und grenzt sich gegenüber dem Subsystem der Kinder ab. Der leibliche Elternteil ist infolge der Aufnahme der neuen Partnerbeziehung für die Kinder weniger verfügbar.
(2) Während eine enge Beziehung der Kinder zu ihrem leiblichen Elternteil in der Stieffamilie besteht, existiert eine solche zum Stiefelternteil zunächst nicht.
(3) Innerhalb des Kindersubsystems können sich Geschwisterpositionen ändern, wenn beide Partner Kinder in die Familie mitbringen oder gemeinsame Kinder geboren werden, und dementsprechend können sich zwischen den Kindern neue Koalitionen herausbilden.
(4) Das Familiensystem erweitert sich um verwandtschaftliche und soziale Netze seitens des Stiefelternteils: z. B. Stiefgroßeltern.
(5) Das wichtigste Strukturmerkmal der Stieffamilie, in der sie sich von einer Kernfamilie unterscheidet, besteht jedoch darin, dass es außerhalb des Haushaltes, in dem die Kinder mit einem leiblichen und einem Stiefelternteil leben, noch einen weiteren Elternteil für sie gibt.
(6) Nachscheidungsfamilien und Stieffamilien sind aus der Sicht der Kinder „binukleare Familiensysteme“, Kernfamilien mit zwei Kernen. Dabei spielt es eine untergeordnete Rolle, wie umfangreich jeweils das elterliche Engagement der beiden getrennten/geschiedenen Eltern ist.
Die Perspektiven der Erwachsenen und der Kinder darauf, wer zur Familie gehört und wer nicht, können sich dabei unterscheiden. Sabine Ritzenfeld (1998) stellte in einer Studie in Deutschland fest: 90 Prozent der untersuchten Kinder erachteten den leiblichen, außerhalb des Haushaltes lebenden Vater als zur Familie gehörig, aber alle (100 Prozent) Mütter und Stiefväter schlossen ihn aus. 65 Prozent der Stiefkinder sahen die ursprüngliche Kernfamilie als „ihre Familie“ an, 25 Prozent schlossen leiblichen Vater und Stiefvater in ihre Familie ein (vor allem die Mädchen), ein Kind schloss Vater und Stiefvater aus. Sehr unterschiedlich wurden von Erwachsenen einerseits und den Kindern andererseits auch Nähe und Distanz der Kinder zum Stiefvater einerseits und zum leiblichen Vater andererseits eingeschätzt. Mütter und Stiefväter hielten die Nähe der Kinder zum Stiefvater für größer als die Kinder selbst, und sie hielten die Beziehung der Kinder zum leiblichen Vater für distanzierter als die Kinder selbst. Mitglieder von Stieffamilien waren sich nicht nur weniger einig darüber, wer zur Familie zählt. Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern zeigten sich auch bei der Frage danach, wie das Familienbild des jeweils anderen in der Familie aussieht: Lediglich 10 Prozent der Stiefväter und 20 Prozent der Mütter schätzten das Familienbild des Kindes zutreffend ein. Von den Kindern jedoch schätzten 65 Prozent das Familienbild der Mütter und 75 Prozent dasjenige der Stiefväter zutreffend ein.
Je nach der Entstehungsgeschichte lassen sich unterschiedliche Typen von Stieffamilien unterscheiden (Krähenbühl u. a., 1991): Stiefvaterfamilien, Stiefmutterfamilien, zusammengesetzte Stieffamilien, sowie diese Familientypen jeweils mit gemeinsamen Kindern. Der Vater z. B., der die Kinder am Wochenende sieht und mit einer neuen Partnerin zusammenlebt bzw. wieder geheiratet hat, lebt in einer „Wochenendstieffamilie“ oder „sekundären Stieffamilie“. Der häufiger genannte Begriff „Patchworkfamilie“ kann allenfalls auf die Vielfalt von Formen der Stieffamilie hinweisen, besonders spezifisch ist er nicht. Es gibt keine „typische“ Stieffamilie. Unterschiedliche Formen von Stieffamilien ergeben sich aus dem Ehestatus der erwachsenen Partner, der Art der Auflösung der ersten Beziehung, dem Sorgerecht für das Kind und der Haushaltsgemeinschaft.
Die Vorerfahrungen der beteiligten Familienmitglieder mit Partnerschaft, Ehe und Elternschaft sind außerordentlich vielfältig, und dementsprechend bringen sie unterschiedliche Akzentuierungen in die gemeinsame Geschichte der Stieffamilie ein.
Entwicklungsaufgaben in Stieffamilien: die Erwachsenen
Aus der Entstehungsgeschichte der Stieffamilie und ihrer Struktur ergeben sich für die Familienmitglieder Anforderungen, die sich als Entwicklungsaufgaben verstehen lassen (Dusolt, 1995). Entwicklungsaufgaben bedeutet, dass sich vor dem Hintergrund vorhandener Kenntnisse über Stieffamilien eine Zielrichtung angeben lässt: Wenn diese „Aufgaben“ von der Familie bewältigt werden, ist ein „Funktionieren“ der Familie mit größerer Wahrscheinlichkeit gewährleistet. In der Familie können die Bedürfnisse der Familienmitglieder so erfüllt werden, dass sich ein stabiles Miteinanderleben und ein geeigneter Rahmen zur Entwicklung der Kinder und der Erwachsenen ergeben. Folgende Entwicklungsaufgaben für die Erwachsenen lassen sich beschreiben:
Ebene des Individuums
Die Identität als Mitglied einer Stieffamilie, je nachdem als leibliche Mutter, leiblicher Vater, Stiefmutter oder Stiefvater muss in angemessener Weise entwickelt werden. Das hat mit starken Emotionen zu tun. Dazu gehören Unsicherheit und Ängste vor Versagen, was sich in der Ablehnung des negativ besetzten Begriffs „Stief-“ ausdrücken kann. Verluste müssen verarbeitet werden, die infolge der Trennung/Scheidung auftreten: Verlust an Verfügbarkeit des Partners, Verluste, die mit einer Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation der Familie einhergehen. Verkraftet werden muss auch der Verlust der Vorstellung, eine neue Beziehung und Ehe stelle eine komplette Neugründung einer Familie dar.
Ebene der Beziehungen
Die neue Partnerschaft muss stabilisiert werden. Eine stabile Partnerschaft der Erwachsenen ist ein ausschlaggebender Faktor für das Funktionieren der Stieffamilie (Visher & Visher, 1987). Diese Aufgabe ist dadurch erschwert, dass vom neuen Partner die Anpassung an die Partnerschaft und an die Kinder gleichzeitig geleistet werden muss. Zudem kann es beim neuen Partner die erste Erfahrung mit Elternschaft sein. Die neue Partnerschaft wird in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung gegenüber der früheren Partnerschaft erlebt und entworfen. Das bedeutet eine gewisse Abhängigkeit der zweiten Partnerschaft von der ersten.
Eine Elternrolle muss für den Stiefelternteil entworfen werden. Eine elterliche Rolle für den Stiefelternteil gegenüber den Kindern muss neu und individuell definiert werden. Dies stellt hohe Anforderungen an die Beteiligten, weil keine allgemein anerkannte, normierte Rolle für Stiefeltern vorgegeben ist. Stiefeltern müssen sich dabei mit negativen Vorurteilen gegenüber ihrer Rolle auseinandersetzen, was besonders Frauen in der Stiefmutterrolle betrifft. Die Beziehung zwischen Kind und Stiefelternteil – und damit die Grundlage für eine Elternrolle – wird eher belastet, wenn der Stiefelternteil vorzeitig in die Erzieherrolle gedrängt wird.
Regeln des Umgehens miteinander müssen ausgehandelt werden. Im Haushalt müssen vor allem dann, wenn Kinder aus mehreren Herkunftsfamilien in der Stieffamilie zusammenleben, neue Routinen entwickelt werden und z. B. über Etablierung familiärer Rituale „quasi-verwandtschaftliche“ Beziehungen zur Schaffung einer individuellen Identität als Stieffamilie geknüpft werden. Das betrifft z. B. die Frage, wie Weihnachten gefeiert werden soll, wer für welche Aufgaben im Haushalt zuständig sein soll, was die Kinder dürfen und was nicht. Es besteht ein erhöhter Bedarf, diese Themen auszuhandeln, weil sich die Regeln des Zusammenlebens nicht so „selbstverständlich“ entwickelt haben wie in Kernfamilien.
Ebene der Lebensumwelten
Die Stieffamilie muss sich innerhalb des erweiterten Verwandtschaftssystems etablieren. Schließlich muss auch das umgebende Verwandtschaftssystem der Stieffamilie integriert werden. Innerhalb des erweiterten Netzes der „Quasi-Verwandtschaft“ der Stieffamilie kann nicht auf eindeutig definierte Anforderungen und Erwartungen zurückgegriffen werden, die die Gestaltung der Beziehungen erleichtern würden. Das betrifft z. B. Stiefgroßeltern oder die neue Frau des nicht ständig mit den Kindern zusammenlebenden leiblichen Vaters („Wochenend-Stiefmutter“). Akzeptanz und Unterstützung der Stieffamilie seitens des verwandtschaftlichen Netzwerks haben großen Einfluss darauf, ob sich eine Stieffamilie stabilisiert.
Entwicklungsaufgaben in Stieffamilien: die Kinder
Für die Mehrheit der Kinder ist die Gründung der Stieffamilie ein weiterer Übergang von einer Familienform in die andere. Sie mussten bereits die elterliche Trennung oder den Tod eines Elternteils bewältigen und sich mit dem Leben in der Familie mit allein erziehendem Elternteil auseinandersetzen. Dass die gemeinsame elterliche Sorge rechtlich gesehen der Regelfall ist, dürfte erst langfristig in größerem Umfang dazu führen, dass außerhalb des Haushalts lebende Eltern sich an der Erziehung des Kindes aktiver als bisher beteiligen. Der Übergang in die Stieffamilie fordert von den Kindern wiederum Anpassungsleistungen auf unterschiedlichen Ebenen, deren Bewältigung erschwert wird, wenn sie diesen Übergang nicht als wünschenswert ansehen. Die Anpassungsleistungen, die das Stiefkind erbringen muss, lassen sich als Entwicklungsaufgaben formulieren, die sich zusätzlich zu den Aufgaben stellen, die jedes Kind im Verlauf seiner Entwicklung bewältigen muss. Im Folgenden sollen die Bereiche dargestellt werden, in denen das Kind beim Übergang zur Stieffamilie Veränderungen bewältigen muss.
Ebene des einzelnen Kindes
Für das Kind geht es um die Entwicklung einer angemessenen Identität als kompetentes Stiefkind. Das beinhaltet die Auseinandersetzung mit starken Emotionen. Gefühle des Verlustes, der Ablehnung, der Selbstabwertung, der Wut, Angst und Niedergeschlagenheit müssen verarbeitet werden. Eine Fixierung auf Probleme und Konflikte beim Übergang in die Stieffamilie muss aufgegeben werden. Negativen Erwartungen an ihr Verhalten, an ihre Entwicklung, die sich im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung negativ auf die Kinder auswirken können, muss das Kind begegnen. Die neue Partnerschaft der Eltern muss akzeptiert werden, was nicht gleichbedeutend mit dem Aufgaben von Wiedervereinigungsphantasien in Bezug auf die beiden leiblichen Eltern ist. Das Vertrauen in familiale gegenseitige Zuneigung und Unterstützung, in die Stabilität der Lebenssituation auf einer neuen Basis muss wieder gewonnen werden. Spezifische Bedingungen des Lebens in einer Stieffamilie wie offene Grenzen des Haushaltes wegen der Kontakte mit außerhalb lebenden Familienangehörigen müssen toleriert werden. Der eigene Lebensrhythmus und Lebensstil und eine Zukunftsperspektive müssen wieder gefunden werden. Die Fähigkeit zur Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben kann auch als Kompetenz verstanden werden, die als Ergebnis eines Entwicklungsprozesses erkennbar wird. Insgesamt wird ein angemessenes Selbstbewusstsein als Kind und als Stiefkind entwickelt, was einen Übergang auf der individuellen Ebene kennzeichnet.
Ebene der Beziehungen
Die Beziehung zum leiblichen Elternteil im gemeinsamen Haushalt ist neu zu gestalten. Während der Phase des Alleinerziehens wird die Eltern-Kind-Beziehung in der Regel enger. Elternteil und Kind(er) geben sich gegenseitig emotionale Sicherheit und Unterstützung bei der Bewältigung des Alltags. In manchen Fällen wird das Kind zum Ersatzpartner oder zum Alliierten im Kampf gegen den außerhalb lebenden Elternteil. Solche Funktionen bedeuten eine Überforderung für das Kind oder stürzen es in Loyalitätskonflikte, weil es versucht, es beiden Eltern recht zu machen, und können die positive Entwicklung des Kindes beeinträchtigen. Aus Sicht des Kindes können sie zunächst jedoch auch belohnende Aspekte beinhalten: So kann sich ein Kind in derartigen Rollen bedeutend und mächtig fühlen. Es erlebt ihren Wegfall deshalb als Verlust an Bedeutung und Macht.
Andererseits kann das Bemühen mancher Eltern, die eine neue Partnerschaft eingehen, ihr Kind wieder seinem Alter entsprechend zu behandeln, die Fähigkeiten des Kindes zur Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und zur Übernahme von Verantwortung für andere beeinträchtigen und zusätzlich zu Eltern-Kind-Konflikten führen. Nicht zuletzt empfinden Kinder die Zuneigung und Aufmerksamkeit, die ihre Mutter, ihr Vater einem neuen Partner schenkt, oftmals als Liebesentzug ihnen gegenüber. Deutlich wird, dass Kinder im Übergang zur Stieffamilie manches aufgeben müssen, um die Chancen, welche die neue Familienform auch für sie beinhaltet, nutzen zu können, so z. B. die Chance, eine Beziehung zum leiblichen Elternteil zu pflegen, die weniger durch nicht kindgerechte Anforderungen belastet ist und/oder die Möglichkeit, sich ohne schlechtes Gewissen dem „allein gelassenen“ Elternteil gegenüber, verstärkt dem sozialen Umfeld und altersgemäßen Aktivitäten zuzuwenden.
Die Anwesenheit eines Stiefelternteils als einer zusätzlichen erwachsenen Person, zu der das Kind eine enge emotionale Beziehung aufbauen kann, aber nicht muss, ist eine große Chance für die Kinder. Während die Art der Beziehungen des Kindes zu seinen leiblichen Eltern eng an juristische und ethische Normen gekoppelt ist, steht es dem Kind und seinem Stiefelternteil weitgehend frei, ihre Beziehung nach eigenen Bedürfnissen zu entwickeln. Mit ihm kann das Kind eine pragmatische, eine freundschaftliche, aber auch, wenn dies von beiden gewollt wird, eine Eltern-Kind-Beziehung aufbauen. Vom Kind zu fordern, es solle seinen Stiefelternteil als „Ersatzelternteil“ ansehen und ihn „lieben“, wäre die Beschneidung dieser Chance. Kinder, die in eine Beziehung gedrängt werden oder das Gefühl haben, der leibliche Elternteil ziehe sich aus der elterlichen Verantwortung zurück, finden viele Möglichkeiten, das Zusammenleben der Stieffamilie unangenehm und sogar unerträglich zu machen. Gelingt es dem Kind und seinem Stiefelternteil, ihre Beziehung in gegenseitigem Respekt oder im besten Fall in gegenseitiger Zuneigung zu entwickeln, ist ein zusätzlicher Elternteil gewonnen, der für das Kind Bereicherung und Unterstützung sein kann.
„Zusammengesetzte Stieffamilien“ sind gekennzeichnet durch den Zusammenschluss zweier Familien, bei denen beide Partner Kinder in die neue Familie mitbringen. Dies bedeutet, dass zwei Geschwistergruppen zu einer werden, jeder der erwachsenen Partner ist Elternteil und Stiefelternteil. Beide Kindergruppen haben in der Regel jeweils einen leiblichen Elternteil und, wenn dieser ebenfalls einen neuen Partner hat, einen Stiefelternteil, der nicht im Haushalt der Kinder lebt. Wenn im Haushalt des außerhalb lebenden leiblichen Elternteil und seines neuen Partners Kinder dieses Partners und gemeinsame Kinder leben, hat ein Kind auch in diesem Haushalt Halb- und Stiefgeschwister.
Stieffamilien sind in diesen Fällen nicht nur als Mehrelternfamilien, sondern auch als Multigeschwisterfamilien anzusehen. Für ein Kind können sich komplizierte Geschwistergruppierungen ergeben, in denen es mit allen Mitgliedern um die Zuwendung seiner leiblichen Eltern und seiner Stiefeltern konkurriert. Zusätzlich kann sich die Geschwisterreihe so verändern, dass ein ältestes Kind zu einem jüngeren Geschwister wird und damit eine andere Rolle in der Familie erhält, die es gestalten muss. Andererseits stellen solche Geschwistergruppen eine nicht zu unterschätzende Macht dar, die sich geschlossen auch gegen die Eltern richten kann, wenn sich die einzelnen Geschwistergruppen in ihrer Unzufriedenheit mit der neuen Lebensform einig sind. Nicht selten sind Konflikte der erste Schritt zum Zusammenwachsen der Stieffamilie. Allerdings verlangt dieser Schritt von den Eltern viel Geduld und Verständnis und vor allem den Mut, sich auch gegen die (eigenen) Kinder durchzusetzen, wenn es nötig sein sollte.
Eine starke Partnerschaft der Eltern ist die Basis der Stieffamilie. Sie setzt den Kindern Grenzen, die ihnen helfen, sich im Familiensystem zu orientieren und Sicherheit sowie Vertrauen in die Beständigkeit der Stieffamilie zu gewinnen. Auch wenn die Kinder das Leben in der neuen Familienform akzeptieren, bedarf es vieler, manchmal auch konfliktreicher Aushandlungsprozesse, um Regeln für das Zusammenleben der Familie zu entwickeln, die den Bedürfnissen der einzelnen Familienmitgliedern weitestgehend entgegenkommen. Dabei lernen Kinder lösungsorientiert zu verhandeln, eigene Bedürfnisse zu artikulieren, die Bedürfnisse anderer zu berücksichtigen und Kompromisse zu schließen, bei denen sich niemand als Verlierer fühlen muss. Sie erwerben so wichtige Kompetenzen, die auch in anderen Kontexten hilfreich sind.
Wohl die schwierigste Anforderung für die Kinder beim Übergang in die Stieffamilie ist die Aufrechterhaltung der Beziehung zum außerhalb ihres Haushalts lebenden leiblichen Elternteil. Einerseits versucht der mit dem Kind zusammenlebende leibliche Elternteil in seinem Bedürfnis die Stieffamilie als „Kernfamilie“ erscheinen zu lassen häufig, den anderen leiblichen Elternteil aus dem familiären System weitgehend auszuschließen. Andererseits zieht sich der außerhalb lebende Elternteil vielfach zurück, wenn er sich überflüssig und unerwünscht fühlt. Wenn er selbst in einer neuen Partnerschaft oder Familie lebt, setzt er häufig neue Prioritäten und schränkt das Engagement für seine Kinder aus der „alten“ Familie ein. Dies ist für ein Kind schmerzlich und belastend. Es muss das Gefühl bekämpfen, nun für beide leiblichen Eltern an Bedeutung zu verlieren. Dieses Gefühl wird vom Kind oft mit der Ablehnung des Stiefelternteils bekämpft, was ihm zumindest negative Aufmerksamkeit verschafft. Nicht selten versuchen Kinder auch, den außerhalb lebenden leiblichen Elternteil in eine Allianz gegen den Stiefelternteil zu zwingen oder ein Konkurrenzverhältnis zwischen ihnen zum eigenen Vorteil zu schaffen. Langfristig ist das Kind jedoch gezwungen, sich positiv mit seiner neuen Familiensituation auseinander zu setzen, seine Wut und Ängste hinter sich zu lassen und seine Beziehungen in einer Weise zu organisieren, die Entwicklungschancen beinhaltet. Dies fällt ihm umso leichter und gelingt umso schneller, je besser das Kind den außerhalb lebenden Elternteil als stabilen Faktor in der Zeit des Übergangs nützen kann.
Ebene der Lebensumwelten
Im ökonomischen Bereich kann sich die Situation für die Kinder durch die Verfügbarkeit eines zweiten Einkommens in der Familie verbessern. Dies kann sich entspannend auf das Zusammenleben auswirken und möglicherweise dem Wunsch des vordem allein erziehenden Elternteils entgegenkommen, sich durch die Reduzierung seiner Arbeitszeit zu entlasten und für die Kinder mehr Zeit zu haben. Insbesondere im Falle einer zusammengesetzten Stieffamilie, in der Kinder beider Partner leben, wird die Stieffamilie zu einer kinderreichen Familie, mit allen Konsequenzen, die damit verbunden sind.
Stiefkinder, die von Trennung und Scheidung ihrer leiblichen Eltern betroffen sind, müssen sich kompetent in das Verfahren einbringen: Familiengerichtshilfe bzw. Jugendhilfe für sich nutzen und womöglich Hilfe suchen und in Anspruch nehmen. Die gemeinsame elterliche Sorge als Regelfall des Sorgerechts nach Scheidung bietet die Voraussetzungen dafür, dass das Kind zu beiden leiblichen Elternteilen auch nach deren Trennung und Scheidung bedeutsame Beziehungen aufrechterhalten kann.
Der Übergang und das Leben in einer Stieffamilie beinhalten komplexe Anforderungen, bei deren Bewältigung Kinder – je jünger sie sind, umso mehr – die Unterstützung aller erwachsenen Personen, die Elternfunktionen übernehmen, benötigen. Mit ihrer Hilfe kann das Kind die Chancen, welche diese Familienform in reichlichem Maße beinhaltet, für seine Entwicklung nützen. Die überwiegende Mehrheit der Stiefkinder entwickelt sich zu kompetenten Erwachsenen.
Beratung von Stieffamilien
Offenheit in den familiären Beziehungen sowie Offenheit gegenüber der eigenen Entwicklung der Familie erscheint als Weg dazu, eine sichere Identität der Kinder und Eltern zu fördern, eine sichere Identität als Mitglieder einer Kernfamilie, einer Nachscheidungsfamilie oder einer Stieffamilie. Das sollte in der Beratung von Familien Berücksichtigung finden. An dieser Stelle wird auf das auch für Eltern gut geeignete Buch „Wie viel Wahrheit braucht mein Kind?“ von Irmela Wiemann (2001) verwiesen.
Zur Bewältigung von Übergängen und dem Erwerb von Kompetenzen dafür sind – möglichst frühzeitige – Information und Beratung der Stieffamilien hilfreich. Bei der Bewältigung von Scheidung und Wiederheirat ist auf das Erleben des Kindes einzugehen. Die Perspektive der Erwachsenen und des Kindes und die jeweils gegebenen Entwicklungsaufgaben müssen deutlich unterschieden werden. Instrumentalisierung des Kindes und Instrumentalisierung des Stiefelternteils im Konflikt früherer Partner behindern den Erfolg eines zufrieden stellenden Zusammenlebens in einer Stieffamilie. Die Entwicklung von Stabilität einer Stieffamilie erfordert Zeit, und das Risiko einer erneuten Scheidung ist relativ groß. Das Kind benötigt Zeit der Vorbereitung und der Begleitung, um den Übergang zum adoptierten Stiefkind zu verstehen und bewältigen zu können.
Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.
Wilfried Griebel ist Diplom-Psychologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Er ist stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Kinderschutzbundes Landesverband Bayern e.V.
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