fK 4/06 Stellungnahme

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Kinder besser vor Gefahren für ihr Wohl schützen

Anregungen der Deutschen Liga für das Kind zur Entwicklung eines frühen Warn- und Hilfesystems

Angesichts von Forderungen aus der Politik nach dem Aufbau eines sozialen Frühwarnsystems und als Reaktion auf den wachsenden Bedarf nach frühen Hilfen hat der Vorstand der Deutschen Liga für das Kind im Juni 2006 die folgende Stellungnahme verabschiedet.

Ein Aufwachsen ohne Gewalt gehört zu den Grundbedürfnissen aller Kinder. Und sie haben ein Recht darauf: „Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig“, heißt es in § 1631 Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB).

Damit Kinder zu ihrem Recht auf gewaltfreie Erziehung kommen, verpflichten sich gemäß Artikel 19 Absatz 1 der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen die Vertragsstaaten – darunter Deutschland –, „alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmaßnahmen (zu treffen), um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Schadenzufügung oder Misshandlung, vor Verwahrlosung oder Vernachlässigung, vor schlechter Behandlung oder Ausbeutung einschließlich des sexuellen Missbrauchs zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines Elternteils, eines Vormunds oder anderen gesetzlichen Vertreters oder einer anderen Person befindet, die das Kind betreut“.

Demgegenüber haben in jüngster Zeit schwere, zum Teil tödlich verlaufene Fälle von Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung (darunter der Fall Jessica in Hamburg) die Öffentlichkeit in Deutschland aufgeschreckt. Ob die Anzahl solcher Fälle in den vergangenen Jahren zugenommen hat und/oder ob die durch die Medien vermittelte Aufmerksamkeit anstieg, ist nur schwer zu entscheiden. Jedenfalls wurde die Verantwortung der Gemeinschaft, Kinder besser als bisher vor Gefahren für ihr Wohl auch im Verhältnis zu den eigenen Eltern zu schützen, stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt.

Eine Bestrafung der Täter allein hilft den betroffenen Kindern nicht, denn diese kommt regelmäßig zu spät und kann die Tat nicht verhindern. Da Misshandlung und Vernachlässigung in Familien zumeist in Überforderungssituationen geschehen, ist auch die abschreckende Wirkung selbst harter Strafen nur als gering einzuschätzen. Zu Recht richten sich daher die Anstrengungen in erster Linie darauf, Anzeichen für Gewalt möglichst früh zu erkennen, um rechtzeitig Hilfen anbieten und bei Bedarf intervenieren zu können. Ziel muss es sein, Gewalt gegen Kinder in Familien präventiv zu verhindern oder zumindest immer weiter zurückzudrängen.

Im Koalitionsvertrag vom November 2005 sprechen sich die die Bundesregierung tragenden Parteien dafür aus, Wächteramt und Schutzauftrag des Staates zu stärken und ein soziales Frühwarnsystem zu entwickeln: „Jugendhilfe und gesundheitliche Vorsorge sowie zivilgesellschaftliches Engagement sollen zu einer neuen Qualität der Frühförderung in Familien verzahnt werden. Gerade für sozial benachteiligte Familien müssen die klassischen Komm-Strukturen vieler Angebote zielgruppenbezogen verbessert und neue Geh-Strukturen entwickelt werden.“

Wie ein solches Frühwarnsystem ausgestaltet werden soll, lässt der Koalitionsvertrag offen. Die unter gleichem Namen an verschiedenen Orten in Nordrhein-Westfalen bereits realisierten Vorhaben verfolgen sehr unterschiedliche Ansätze. Projekte zur besseren Zusammenarbeit der Fachkräfte vor Ort sind dort ebenso vertreten wie aufsuchende Familienarbeit und Formen des Quartiersmanagement. Ein in sich schlüssiges Gesamtkonzept ist bisher nicht zu erkennen.

Bestehende Initiativen
Im Zuge der Reform des Sexualstrafrechts hat die Bundesjustizministerin 2002 vorgeschlagen, in Fällen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch eine Anzeigepflicht einzuführen. Gegen eine solche Pflicht zur Anzeige brachten u.a. Kinderschutzverbände die Befürchtung vor, dass dadurch Hilfsangebote für missbrauchte Kinder nicht ausreichend in Anspruch genommen werden und Kinder weniger geschützt würden. Die Initiative fand im politischen Raum keine Mehrheit und wurde zwischenzeitlich nicht weiter verfolgt.

Auf Initiative der Freien und Hansestadt Hamburg und weiterer Bundesländer hat der Bundesrat am 19.5.2006 eine Entschließung „Für eine höhere Verbindlichkeit der Früherkennungsuntersuchungen im Sinne des Kindeswohls“ gefasst (Bundesratsdrucksache 56/06). Mit der Entschließung wird die Bundesregierung u.a. aufgefordert,
– die hierfür geeigneten Stellen (z.B. die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) mit der Information und Motivation für die freiwillige Inanspruchnahme von Früherkennungsuntersuchungen zu beauftragen;
– eine Rechtsgrundlage mit dem Ziel der Steigerung der Inanspruchnahme der Untersuchungen zu schaffen;
– eine Rechtsgrundlage für ein verbindliches Einladungswesen für die Früherkennungsuntersuchungen U6 bis U10/J1 durch die gesetzlichen Krankenkassen und den Sozialhilfeträger zu schaffen;
– gegenüber dem Gemeinsamen Bundesausschuss darauf hinzuwirken, dass bei der Überarbeitung der Kinder-Richtlinien spezifische Untersuchungsschritte bezüglich Kindesvernachlässigung und Misshandlung vorgesehen werden;
– gegenüber dem Gemeinsamen Bundesausschuss darauf hinzuwirken, dass bei der Überarbeitung der Kinder-Richtlinien die Zweckmäßigkeit der Untersuchungsintervalle bezüglich des Schutzes der Kinder vor Vernachlässigung und Misshandlung überprüft und diese gegebenenfalls neu bestimmt werden;
– die notwendigen datenschutzrechtlichen Grundlagen für die Gesetzliche Krankenversicherung und für den Sozialhilfeträger zu schaffen, damit Informationen von den Kostenträgern über die Nichtanspruchnahme der Früherkennungsuntersuchungen als Ansatzpunkt für helfende Interventionen an geeignete Stellen in den Ländern übermittelt werden können;
– zu prüfen, inwieweit die rechtlichen Voraussetzungen dafür geschaffen werden können, dass die Teilnahme aller Kinder an Früherkennungsuntersuchungen, unabhängig vom Versichertenstatus, an geeignete Stellen in den Ländern gemeldet werden kann.

Weitere Initiativen gingen von Verbänden aus. Vorschläge, frühe gesundheitliche und soziale Hilfen auszubauen und die Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Professionen zu verbessern, gehörten ebenso dazu wie die Forderung, die Zahlung des Kindergeldes vom Nachweis der Teilnahme an den Kinderfrüherkennungsuntersuchungen abhängig zu machen.

Gesamtkonzept früher Hilfen
Was Not tut, ist ein Gesamtkonzept, bei dem frühes Erkennen und richtiges Verstehen von Hilfebedarfen (Frühwarnsystem) mit geeigneten Angeboten früher Hilfen systematisch verknüpft werden. Ein solches frühes Warn- und Hilfesystem sollte sich auf die Zeit der ersten Lebensjahre konzentrieren, da Kinder in dieser empfindlichen Entwicklungsphase besonders gefährdet sind. Zugleich sind Eltern in den Wochen rund um die Geburt und in den ersten Monaten und Jahren ihres Kindes in hohem Maße aufgeschlossen für Beratung und Hilfe.

Frühe Hilfen haben die größte Aussicht auf Erfolg. Mit relativ wenig eingreifenden und kostengünstigen Angeboten und Maßnahmen können weit reichende und nachhaltige Veränderungen in Gang gebracht werden. Ein effektives frühes Warn- und Hilfesystem sollte den folgenden Anforderungen genügen:

Vorrang des Kindeswohls
Das Wohl des Kindes (best interest of the child) muss Vorrang haben vor anderen Erwägungen. Das Elternrecht ist als ausschließlich pflichtgebundenes, treuhänderisches Recht zu verstehen, das seine Grenze am Wohl des Kindes findet. Elternrecht heißt vor allem Elternverantwortung. Diese Verantwortung beinhaltet die Pflicht und das Recht der Eltern, „das Kind bei der Ausübung (seiner) anerkannten Rechte in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise angemessen zu leiten und zu führen“ (Artikel 5 der UN-Kinderrechtskonvention).

Selbstbestimmung der Familie
Für das Wohl des Kindes sind in erster Linie die Eltern verantwortlich. In den meisten Fällen wissen sie am besten, was ihr Kind braucht. Sie erkennen in der Regel zuverlässig, wenn es ihrem Kind nicht gut geht und fachkundige Hilfe erforderlich ist. Hilfen für Eltern orientieren sich daher an dem Prinzip, so wenig wie möglich einzugreifen und Autonomie und Selbstbestimmung der Familie soweit wie möglich zu erhalten oder wiederherzustellen.

Verbindung von Hilfe und (wenn nötig) Kontrolle
Soziale Benachteiligung, mangelnde Ressourcen und Überforderung führen dazu, dass ein Teil der Eltern nicht in der Lage ist, ihre Kinder bestmöglich zu fördern und sie vor Gefährdungen ausreichend zu schützen. Besonders betroffen sind Kinder, die in Armut aufwachsen, ein bildungsfernes soziales Umfeld haben und in städtischen Ballungszentren leben, sowie Kinder aus Migrantenfamilien, vor allem wenn diese sich einer Integration in die Aufnahmegesellschaft verschließen. Diese Kinder und Familien haben Anspruch auf geeignete Hilfen und Unterstützung durch Angebote der Jugendhilfe, der Familienbildung und des Gesundheitswesens. Sofern Eltern nicht bereit oder in der Lage sind, diese Hilfen anzunehmen, muss die staatliche Gemeinschaft ihr Wächteramt und ihren Schutzauftrag wahrnehmen und an Stelle der Eltern den betroffenen Kindern die notwendigen Hilfen zukommen lassen.

Zusammenarbeit der Berufsgruppen
Die Nachfrage nach Hilfen verläuft nicht (mehr) entlang der traditionellen Berufsgruppen. Angehörige medizinischer Berufe sehen sich zunehmend mit entwicklungspsychologischen, pädagogischen und sozialen Fragen konfrontiert. Von Mitarbeiter(innen) sozialpädagogischer Dienste und Einrichtungen werden mehr und mehr Antworten auf Fragen der körperlichen, seelischen und geistigen Gesundheit eingefordert. Hinzu kommen vermehrt alltagspraktische Fragen (z.B. zum Reisen mit Kindern) sowie ein wachsender Bedarf vieler Eltern nach rechtlichen Informationen, zum Beispiel zu Elternzeit und Tagesbetreuung oder in Folge einer Trennung oder Scheidung. Dies erfordert eine neue Qualität der interdisziplinären Zusammenarbeit und Vernetzung der Berufsgruppen.

Leichte Erreichbarkeit von Hilfen
Während ein Teil der Eltern von sich aus bestehende Angebote der (gegenseitigen) Hilfe ausfindig macht und die unterschiedlich bestehenden Zugänge – zum Beispiel über das Internet – selbstverständlich beherrscht, sind andere Eltern auf direkte Ansprache und Begleitung bei der Suche nach der geeigneten Hilfe angewiesen. Kommstrukturen (z.B. Beratungsstellen) und Gehstrukturen (Hausbesuche) müssen sich sinnvoll ergänzen und miteinander verzahnt sein, damit auch sozial benachteiligte Familien und Familien mit Migrationshintergrund alle Angebote nutzen können. Bei Bedarf sollten Fachkräfte die Funktion eines Lotsen übernehmen, der die Familie zu den jeweils passenden Hilfen führt.

Bundesweite Standards und regionale Flexibilität
Eltern müssen wissen, dass sie einen bestimmten Standard von Angeboten überall in Deutschland zuverlässig erwarten können. Zugleich macht es die Stärke des föderalen Systems der Bundesrepublik aus, auf regional bestehende Unterschiede flexibel und zielgruppenspezifisch zu reagieren. Bundesweite Standards und Initiativen sowie lokale oder regionale Besonderheiten müssen sinnvoll ausbalanciert werden.

Qualitätskontrolle
Ein frühes Warn- und Hilfesystem muss seine Effektivität nachvollziehbar belegen können. Hierfür sind Indikatoren und ein System unabhängiger Qualitätskontrolle zu entwickeln. In die Auswertung sind auch die Erfahrungen und Meinungen der Eltern und Familien selbst einzubeziehen.

Verpflichtende Kinderfrüherkennungsuntersuchungen?

Die Kinderfrüherkennungsuntersuchungen nach § 26 Sozialgesetzbuch V (U1 bis U9, ergänzt durch die Untersuchung J1 im Jugendlichenalter) sind ein wichtiger Baustein zur Früherkennung von Krankheiten. Mehr als 90 Prozent der Kinder im Alter bis zu zwei Jahren nehmen an den Früherkennungsuntersuchungen teil; bei den Vier- bis Fünfjährigen liegt die Beteiligung bei 80 Prozent. Die Teilnahme von Kindern aus Familien in schwierigen Lebenslagen und aus Migrantenfamilien fällt geringer aus.

Das Erkennen von Anzeichen für Kindesmisshandlung und -vernachlässigung ist bisher nicht Bestandteil der Früherkennungsuntersuchungen. Im Zuge der Überarbeitung der Kinder-Richtlinien durch den Gemeinsamen Bundesausschusses sollte dies entsprechend geändert werden. Hierzu gehört auch, den seelischen und sozialen Entwicklungsstörungen insgesamt mehr Aufmerksamkeit zu widmen.

Ablauf und Dokumentation der Kinderfrüherkennungsuntersuchungen sind in erster Linie aus Sicht des/der behandelnden Kinderarztes/Kinderärztin gestaltet. Die Sichtweise der Eltern und ihr Wissen als Experten für das eigene Kind werden dabei nicht ausreichend berücksichtigt. Dadurch wird auch die Möglichkeit, mit Hilfe der Früherkennungsuntersuchungen die Verantwortung der Eltern für ihr Kind zu stärken, nicht in einer Weise genutzt, wie dies möglich und wünschenswert wäre.

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hat in diesem Zusammenhang Materialien für Eltern in Form eines Ordners zu relevanten Themen der gesunden Entwicklung, Prävention und Früherkennung entwickelt. Der Eltern-Ordner soll zukünftig allen Eltern gemeinsam mit dem gelben Kinderuntersuchungsheft zur U1 bis U9 an die Hand gegeben werden. Ziel der Materialien ist es, Eltern den Zugang zu relevantem Gesundheitswissen zu eröffnen, die Elternkompetenz in Fragen der gesunden kindlichen Entwicklung sowie der Prävention und Früherkennung von Entwicklungsstörungen zu stärken und das Arzt-Eltern-Gespräch im Rahmen der Früherkennungsuntersuchungen zu verbessern. Die Einführung dieses Eltern-Ordners sollte beschleunigt und mit einer begleitenden Auswertung und Weiterentwicklung der Materialien versehen werden.

Eine Erhöhung der Teilnahmequote an den Kinderfrüherkennungsuntersuchungen insbesondere von Kindern aus sozial benachteiligten Familien und Familien mit Migrationshintergrund ist anzustreben. Hierzu kann die Schaffung eines systematischen Einladungswesens (Recall-System) beitragen, bei dem alle Eltern (bei Bedarf mehrsprachig) angeschrieben, informiert und zur Teilnahme aufgefordert werden.

An der Freiwilligkeit der Untersuchungen ist festzuhalten. Überwachung und Sanktionierung einer gesetzlichen Teilnahmepflicht würden das Gesundheitswesen mit Kontrollaufgaben befrachten und zudem das Vertrauensverhältnis der Familien zu den medizinischen Professionen nachhaltig belasten. Zu bezweifeln ist auch, ob das Ziel einer Untersuchungspflicht erreicht würde, dadurch mehr als bisher Fälle von Misshandlung oder Vernachlässigung aufzudecken. Betroffene Eltern würden die Untersuchungstermine gegebenenfalls hinauszögern oder durch Arztwechsel eine Kontrolle erschweren. Hinzu käme das Problem von zu Unrecht beschuldigten Eltern.

Auch aus verfassungsrechtlichen Gründen kommt eine generelle Untersuchungspflicht nicht in Frage, da diese einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Elternrecht nach Artikel 6 Absatz 2 des Grundgesetzes darstellt. In einem Gutachten im Auftrag der Friedrich Ebert Stiftung („Prüfung der Verbindlichkeit frühkindlicher staatlicher Förderung unter verfassungsrechtlichen, familienrechtlichen und jugendhilferechtlichen Aspekten“, Berlin 2006) kommt Peschel-Gutzeit zu dem Schluss, „dass generell auch aus Gründen der Prophylaxe in das Elternrecht nicht eingegriffen werden darf. (…) Ärztliche Vorsorgeuntersuchungen deshalb verbindlich zu machen, um im Einzelfall körperliche Fehlentwicklungen des Kindes, möglicherweise auch Misshandlungen oder Missbrauch festzustellen, scheidet nach allem wegen des entgegenstehenden Elternrechts aus. In dieses darf nur aus konkretem Anlass und nur durch richterliche Maßnahme eingegriffen werden“.

Ebenfalls abzulehnen ist der Vorschlag, die Zahlung des Kindergeldes von der Teilnahme an den Kinderfrüherkennungsuntersuchungen abhängig zu machen. Das Kindergeld dient der Bestreitung des Lebensunterhalts des Kindes, das nicht für ein mögliches Fehlverhalten seiner Eltern haftbar gemacht werden darf.

Vorschläge für Maßnahmen
Ein frühes Warn- und Hilfesystem, das Kinder besonders in den ersten Lebensmonaten und -jahren besser vor Gefahren für ihr Wohl schützt, muss als ein Bündel von Maßnahmen ausgestaltet sein, die sich sinnvoll zu einem Gesamtkonzept ergänzen. Die folgenden Maßnahmen werden vorgeschlagen:

(1) Hausbesuche für alle Eltern nach der Geburt des ersten Kindes
Einführung eines Programms von Hausbesuchen für alle Eltern nach der Geburt des ersten Kindes (bei Bedarf auch nach der Geburt weiterer Kinder); die Hausbesuche sollten als Serviceangebot von zusätzlich geschulten Kinderkrankenschwestern, Familienhebammen oder sozialpädiatrischen Assistentinnen mit dem Ziel durchgeführt werden, die Eltern im Übergang zur Elternschaft und beim Umgang mit dem Säugling zu unterstützen und zu beraten sowie auf bestehende Angebote und Hilfen aufmerksam zu machen (Lotsenfunktion).

(2) Trainingsangebote an Ersteltern
Trainingsangebote im Rahmen der Familienbildung an alle Ersteltern zum Thema der Kommunikation mit ihrem kleinen Kind; die Angebote sollten an bereits bestehende Einrichtungen wie Mehrgenerationenhäuser, Eltern-Kind-Zentren, Nachbarschaftshäuser etc. angegliedert werden; in besonders belasteten Stadtteilen und Regionen sollten darüber hinaus niedrigschwellige Anlaufstellen für Eltern eingerichtet werden, in denen direkte Hilfen für den Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern angeboten werden.

(3) Förderung von Selbsthilfe und Hilfe auf Gegenseitigkeit
Förderung von Selbsthilfe und Hilfe auf Gegenseitigkeit sowie anderer Formen nachbarschaftlicher Unterstützung durch Einrichtung professioneller Service-Stellen.

(4) Steigerung der Teilnahmequoten an den Früherkennungsuntersuchungen
Information der Eltern über Notwendigkeit und Nutzen der Kinderfrüherkennungsuntersuchungen durch Einladungs- und Erinnerungsschreiben (bei Bedarf mehrsprachig); zeitnahe bundesweite Einführung des u.a. von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) entwickelten Eltern-Ordners; Installation von Rückmeldesystemen unter Beachtung des Datenschutzes.

(5) Ausweitung der verpflichtenden staatlichen Förderung
Ausweitung der verpflichtenden staatlichen Förderung auf das letzte Kindergartenjahr; Zugang für alle Kinder zu den Einrichtungen der vorschulischen Bildung.

(6) Stärkung sozialer und emotionaler Kompetenzen in Kindertageseinrichtungen
Förderung von Programmen zur Stärkung sozialer und emotionaler Kompetenzen von Kindern in Kindertageseinrichtungen (vgl. das von der Deutschen Liga für das Kind entwickelte Programm „Kindergarten plus“).

(7) Orientierung der Konzepte und Leitbilder an den Kinderrechten
Orientierung der Konzepte und Leitbilder der mit Kindern und für Kinder tätigen Dienste und Einrichtungen an den in der UN-Kinderrechtskonvention niedergelegten Kinderrechten.

(8) Bildungsprogramme in den Schulen zur Vorbereitung auf Elternschaft
Entwicklung und curriculare Umsetzung von Bildungsprogrammen in den weiterführenden Schulen zur Vorbereitung der Jugendlichen auf Elternschaft und Familie.

(9) Qualifizierung der Fachkräfte
Fachübergreifende Fortbildungsangebote für Kinder- und Jugendärzte und -ärztinnen, Ärzte und Ärztinnen für Allgemeinmedizin, Hebammen, Kinderkrankenpfleger(innen), Sozialpädagog(inn)en, Erzieher(innen) u.a. zu Themen rund um Kindeswohlgefährdung; Verankerung des notwendigen Fachwissens bereits in der primären Ausbildung dieser Berufsgruppen.

(10) Entwicklung eines Kriterienkatalogs zur Risikoeinschätzung
Entwicklung und Verbreitung eines interdisziplinär anwendbaren Kriterienkatalogs zur Risikoeinschätzung bei Kindeswohlgefährdung.

(11) Vernetzung der Einrichtungen und Dienste vor Ort
Aufbau von sozialräumlichen Hilfsnetzen (z.B in Form „Runder Tische“), bestehend u.a. aus Hebammen, Geburtskliniken, Ärzt(inn)en, öffentlichen und freien Trägern der Kinder- und Jugendhilfe.

(12) Verpflichtung zur Zusammenarbeit
Einführung einer gesetzlichen wechselseitigen Verpflichtung zur Zusammenarbeit zwischen Einrichtungen und Diensten des Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereichs im Sinne des Kindeswohls; Festlegung von Verfahrensregeln für die Kooperation unter Beachtung daten-schutzrechtlicher Bestimmungen (vgl. die im § 8 a SGB VIII vorgesehenen Regelungen).

(13) Überprüfung der Zuständigkeiten
Überprüfung der gesetzlich festgelegten Zuständigkeiten mit dem Ziel, die strukturelle Trennung der Bereiche Gesundheit, Soziales und Bildung zu überwinden oder zumindest durchlässiger zu machen.

(15) Überprüfung der Vergütungsordnungen
Überprüfung der Vergütungsordnungen im medizinischen Bereich mit dem Ziel, psychosoziale Beratungen, Elterngespräche, Teilnahme an Helferkonferenzen und Case-Management angemessen zu vergüten.

(16) Gewinnung von Medienpartnern
Gewinnung von Medienpartnern zur Information der Öffentlichkeit über die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Bildung und Förderung in den ersten Lebensjahren.

(17) Aufnahme von Kinderrechten in die Verfassung
Ausstattung von Kinderrechten mit Verfassungsrang durch deren Aufnahme in das Grundgesetz, um auf diese Weise ein verfassungsrechtlich abgesichertes Gegengewicht zu den im Grundgesetz verankerten Elternrechten zu schaffen.

(18) Steuerungsgruppe zur Koordination der Maßnahmen
Einrichtung einer Steuerungsgruppe auf Bundesebene zur Koordination sämtlicher Maßnahmen. In dieser Steuerungsgruppe sollten die beteiligten Bundesministerien, Vertreter(innen) der Länder und Kommunen, die Kostenträger (u.a. Krankenkassen) sowie die einschlägigen Berufs- und Kinderfachverbände beteiligt sein.

Zusammenfassung
Um Kinder besser vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen, bedarf es eines frühen Warn- und Hilfesystems, bei dem rechtzeitiges Erkennen von Hilfebedarfen mit geeigneten Angeboten früher Hilfen systematisch verknüpft werden. Ein solches personell und materiell ausreichend ausgestattetes frühes Warn- und Hilfesystem sollte sich auf die Zeit der ersten Lebensjahre konzentrieren, da Kinder in dieser Entwicklungsphase besonders gefährdet und Eltern besonders aufgeschlossen für Beratung und Hilfe sind.

Die Etablierung eines staatlichen Kontrollsystems ohne die Bereitstellung wirksamer Hilfen ist rechtlich und ethisch problematisch. Die mit einem allgemeinen „Screening“ von Gefährdungen ohne begleitende Hilfe verbundene erhebliche Stigmatisierung der betroffenen Familien würde diese weiter isolieren und die Kinder einer noch größeren Gefahr aussetzen.

Eine gesetzliche Verpflichtung zur Teilnahme an den Kinderfrüherkennungsuntersuchungen ist abzulehnen. Nicht durch Sanktionen, sondern durch intensive Information, Beratung und Unterstützung ist die Akzeptanz der Kinderuntersuchungen zu erhöhen. Die Balance zwischen Empathie und Kontrolle muss sich im Hilfesystem wiederfinden und gelingt nur in einer guten Kooperation verschiedener Dienste. Nicht eine verpflichtende Vorsorge, sondern eine Pflicht zur Kooperation der beteiligten Dienste und Einrichtungen des Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereichs schützt Kinder besser vor Gefährdungen.

Frühe Förderung von Kindern und Familien ist eine Investition in die Zukunft der gesamten Gesellschaft. Ein effektives frühes Warn- und Hilfesystem erfordert ein inhaltlich abgestimmtes und finanziell, organisatorisch und personell tragfähiges Gesamtkonzept. Unterstützende Hausbesuche nach der Geburt eines Kindes und Trainingsangebote für Ersteltern sollten ebenso dazugehören wie die Ausweitung einer verpflichtenden staatlichen Förderung auf das letzte Kindergartenjahr, Programme zur Stärkung der sozioemotionalen Fähigkeiten der Kinder in den Tageseinrichtungen sowie Bildungsprogramme in Schulen zur Vorbereitung der Jugendlichen auf Elternschaft und Familie.

Veränderungen sind aber auch innerhalb und zwischen den Systemen des Gesundheits-, Sozial- und Bildungsbereichs notwendig. Als wichtigste Maßnahmen gehören hierzu fachübergreifende Fortbildungsangebote zu Themen rund um Kindeswohlgefährdung, der Aufbau von sozialräumlichen Hilfsnetzen, die Einführung einer gesetzlichen wechselseitigen Verpflichtung zur Zusammenarbeit sowie eine Überprüfung der gesetzlich festgelegten Zuständigkeiten mit dem Ziel, die strukturelle Trennung der Bereiche Gesundheit, Soziales und Bildung zu überwinden oder zumindest durchlässiger zu machen.

Außerdem sollten Medienpartner gewonnen werden, um die Öffentlichkeit über die gesamtgesellschaftliche Bedeutung von Bildung und Förderung in den ersten Lebensjahren zu informieren. Durch die Aufnahme von Kinderrechten in das Grundgesetz schließlich würde Deutschland dokumentieren, welchen hohen Rang auch in verfassungsrechtlicher Hinsicht die Gesellschaft hierzulande dem Wohl der Kinder beimisst.

Die Stellungnahme kann hier als pdf-Datei heruntergeladen werden.

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