fK 4/05 Dartsch

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Vorschulkinder im Konzert

von Michael Dartsch

Kinder unter sechs Jahren spielen im Konzertleben kaum eine Rolle. Natürlich gibt es das Vorschulkind, das gebannt einer ganzen Mahler-Sinfonie lauscht, auch das Kleinkind, das seelenruhigim Konzert schläft. Aber in der Regel nimmt man kleine Kinder nicht in konventionelle Konzerte mit. Die Kinder- und Jugendkonzerte der Konzerthäuser richten sich in aller Regel an Schülerinnen und Schüler und reihen Musikstücke und erklärende Moderationen aneinander. So werden etwa außermusikalische Programme erläutert, die der Musik zu Grunde liegen, oder Instrumente benannt und vielleicht vorgeführt, die in den Stücken eine Rolle spielen.

Erst seit einigen Jahren sind Kinderkonzerte hierzulande ein viel diskutiertes Thema. Dazu hat sicher auch ein groß angelegtes Projekt der Jeunesses musicales beigetragen, das den wissenschaftlichen Austausch angestoßen und viele exemplarische Praxismodelle auch aus dem Ausland ans Licht geholt hat. Schließlich entstanden an mehreren deutschen Hochschulen Stellen, Studienangebote und Projekte im Bereich der Konzertpädagogik.

An der Hochschule für Musik Saar veranstalten wir im Studiengang Elementare Musikpädagogik seit dem Jahr 2000 Konzerte für Kinder, in die wir Elemente unseres Faches einfließen lassen. Es kristallisieren sich dabei einige Grundgedanken heraus, die im Folgenden erläutert werden:

„Roter Faden“

Während herkömmliche Konzerte häufig Werke aneinander reihen, zwischen denen kaum ein Zusammenhang besteht – etwa eine Ouvertüre, ein Instrumentalkonzert und eine Sinfonie – erweist sich für Vorschulkinder ein „roter Faden“, eine inhaltlich motivierte Verbindung der einzelnen Elemente als hilfreich. Additives Hintereinander zwingt zu raschem Umschalten, neu Gebotenes kann eben Erlebtes verdecken oder aber durch den Eindruck des eben Erlebten nur schwer zum Kind vordringen. In einer nachvollziehbaren Folge der verschiedenen Phasen und Aktionen hingegen können sich die Eindrücke vertiefen und ergänzen, das ganze Konzert wird zu einer Erlebnis-Einheit.

So haben unsere Konzerte für Kinder in Saarbrücken stets ein Thema, das alle Aktionen motiviert. Beim Thema „Zirkus“ ergibt sich eine Folge, die einer Zirkusvorstellung ähnlich ist. Das Konzert zum Thema „Impressionismus“ wurde durch eine Rahmenszene zusammengehalten, in der sich die Maler Monet und Renoir mit dem Komponisten Debussy in einem Pariser Café treffen und ein Gespräch miteinander führen, das immer wieder in Aktionen des Konzerts mündet. Im Konzert zum Thema „Expressionismus“ dreht sich alles um das „Ausdrücken“; immer neue Aspekte des Ausdrucks werden vorgeführt und gegebenenfalls kommentiert. Rahmenhandlungen stellen eine besonders elegante Möglichkeit dar, Einzelaktionen in einen Gesamtablauf zu integrieren. So unterhalten sich im Konzert zum Thema Stimme ein Computer, ein CD-Spieler und das Modell eines Kehlkopfes als Prototypen technischer und menschlicher Stimme in der Rumpelkammer einer Schule miteinander und mit einem Schulkind, das des Weges kommt. Auch ein Kinderbuch kann zum roten Faden werden. So haben wir für ein weiteres Konzert ein Buch, dessen Handlung im Spanien des 17. Jahrhunderts spielt, als Vorlage für szenische Aktionen und Präsentationen von spanischer Musik dieser Zeit gewählt. Schließlich veranstalteten wir in diesem Jahr eine „Schubertiade“ für Kinder, die sich an die Zusammenkünfte des Bekannten- und Freundeskreises von Franz Schubert anlehnte und auf der immer wieder durch Rätsel – die Freunde Schuberts selbst spielten solche „Scharade“ genannten Rätsel – neue Szenen eingeleitet wurden.

Spiel, Experiment und Improvisation

In der Elementaren Musikpädagogik nähern wir uns den Themen der Unterrichtsstunden auf eine Weise, die am Spiel und am Experiment orientiert ist. Es werden also zunächst einmal Fragen aufgeworfen, die zum Nachforschen und Ausprobieren reizen, oder Materialien eingebracht, die zum freien Spiel anregen. Nun können zwar die einzelnen Kinder im Rahmen eines Konzertes nicht jedes für sich mit einem Thema spielen oder experimentieren. Die Akteure auf der Bühne aber können sozusagen stellvertretend für die Kinder spielend und probierend an das Thema herangehen. Während der Erarbeitungsphase eines Kinderkonzertes probieren, experimentieren und improvisieren wir tatsächlich, bis sich schließlich Grundlinien der Gestaltung abzeichnen.

Die Spielfreude und Neugier dieser Phase soll schließlich auch noch im Konzert selbst spürbar sein. Auf der Bühne wird immer noch gespielt und improvisiert. Die Kinder haben an der Auseinandersetzung mit dem Thema teil. Klangwirkungen des Impressionismus werden erkundet, indem analog zur Maltechnik dieses Stils aus vielen Einzeltönen eine Klangfläche zusammengesetzt wird. Auf der Schubertiade wird tatsächlich Rätselraten gespielt. Beim Thema Stimme werfen sich die Akteure improvisatorisch Ausdruckslaute zu und kommentieren dies szenisch: ein angewidertes „iih!“ provoziert etwa ein erschrecktes „oh!“ und ein nachdenkliches „hm …“. Die Darstellerinnen spielen mit diesen Elementen ein kommunikatives und musikalisches Spiel. Das Spielmaterial gründet sich auf elementare Phänomene im Sinne grundlegender Momente des jeweiligen Themas, also etwa Ausdruck, Stimmklang, Klangmischungsphänomene, Gesten des Körpers und der Musik.

Interaktivität

Es muss nun nicht dabei bleiben, dass Kinder das Spiel der Darsteller stellvertretend für eigenes Spiel erleben. Vielmehr enthält jedes unserer Konzerte Gelegenheiten zum Mittun. Ein lebendiges Konzert für Kinder spielt sich zwischen den Ausführenden und den Zuhörenden ab und kann als Miteinander dieser beiden Gruppen verstanden werden. Dies beginnt im Grunde schon beim Kontakt zwischen Akteuren und Publikum. Im Idealfall sitzen die Kinder auf Kissen am Boden bis dicht an die Bühnenfläche heran, die ihrerseits nicht höher als der Zuschauerraum gelegen ist. So sind Kinder und Akteure schon räumlich in enger Tuchfühlung. Ohne Mikrofontechnik können die Kinder nun zum Geschehen befragt werden und Kommentare und Antworten an die Ausführenden richten. Sie können Instrumente aus nächster Nähe betrachten und sogar anfassen.

In besonderen Aktionen wird das Miteinander tatsächlich ausagiert. Für solche Mitmachaktionen gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten: Die Kinder gestalten etwa die Zirkusmusik, indem sie mehrmals im Ablauf ein Zirkuslied singen, das ihnen zu Anfang vorgestellt wird. Sie versuchen selber, Stimmklänge zu einer Klangfläche zu mischen. Sie stellen Elemente einer Kathedrale dar, etwa Streben, Pfeiler oder Wasserspeier, während Debussys Kathedral-Prelude erklingt. Sie schichten ostinate Klänge zu einer Zaubermusik; probieren an entsprechendem Material aus, wie Holz, Stein und Metall klingen; mischen Farben, malen, stellen mit dem Körper ein Bild nach. Nicht immer können alle Kinder jedes dieser Angebote wahrnehmen. Da aber stets mehrere solcher Aktionen in einem Konzert enthalten sind, können doch viele Kinder einmal nach vorne kommen. Daneben sind Aktionen für alle Kinder möglich, die am Platz ausgeführt werden können, wie etwa Stimmaktionen oder einfache Körperbewegungen.

Intermedialität

Die geschilderten Beispiele aus Saarbrücker Konzerten dürften schon deutlich gemacht haben, dass der Begriff Konzert diese Präsentationen nur noch bedingt trifft. Die Verbindung verschiedener Ausdrucksmedien, wie sie für unsere Konzerte charakteristisch ist, spielt in der Elementaren Musikpädagogik eine besondere Rolle.

Musik wird stets durch Bewegung ausgelöst, ist sozusagen in Klang geronnene Bewegung. Zum anderen löst sie ihrerseits wieder Bewegung aus. Kleine Kinder setzen Gestus und Energie der Musik spontan wieder in Bewegung um. So kann Klausmeier das Musikhören als inneres Mitbewegen deuten und verstehen. Mehrere verbindende Elemente zwischen Musik und Bewegung stechen ins Auge: Beide Ausdrucksmedien spielen sich in der Zeit ab und arbeiten mit Rhythmen, beide spielen mit Kraft beziehungsweise Dynamik, mit Spannung und Entspannung. Beide Medien transportieren mehr oder weniger kanonisiert oder frei emotionale Gehalte, in jedem Fall aber gestalten sie mit Strukturen und Formen. Kinder erfahren den Charakter einer Musik besonders intensiv, wenn sie sich dazu bewegen. Auch wenn sie Bewegungen zu Musik zuschauend nachvollziehen, wie es im Konzert geschehen kann, darf man davon ausgehen, dass das Musikhören im Sinne inneren Mitbewegens angeregt wird.

Auch Sprache und Musik stehen in einer engen Verbindung. Das Singen kann man als Sonderform sprechender Mitteilung ansehen, auch Musik „spricht“ zu uns. So bringen kleine Kinder häufig das, was sie im Inneren beschäftigt, vor sich hin singend nach außen. Dazu benutzen sie Versatzstücke aus Liedern und Versen, die sie kennen. Sie kombinieren und ergänzen dies alles jedoch sehr frei und individuell. Sprechen und Singen sind dabei dicht beieinander und nicht immer scharf voneinander zu trennen. Auch hierzu kann die Bewegung treten und das Gesprochene oder Gesungene zu einer szenischen Darstellung weiten. Sich auszudrücken bedeutet dann, die dem Menschen gegebenen Mittel wechselseitig aufeinander bezogen und miteinander verzahnt zu nutzen, wie dies etwa auch in Riten indigener Volksgruppen zu beobachten ist, wo Tanz, Gesang oder Sprechgesang und gegebenenfalls beschwörende Darstellung ineinander fließen. Dazu treten Verkleidung, Schmuck, Requisite, also auch Elemente der Bildenden Kunst, die das Auge ansprechen.

In unseren Konzerten wechseln verschiedene Ausdrucksmedien im Nacheinander ab oder treten gleichzeitig auf: Da gibt es instrumentale Musikbeiträge, Gesangsdarbietungen, szenische Darstellung, Pantomime, gesprochene Passagen, Tanz, Bewegung und lebende Plastik. Dies alles kann in festen Formen oder improvisatorisch und frei eingesetzt werden, was von der Anmutung her auch für ein Publikum zu unterschiedlichen Eindrücken führt. Kostüme, Bühnenbilder, Requisiten und Lichtwirkungen treten hinzu. Dabei ist weniger der tatsächliche Aufwand als die Fantasie im Dienste der Sache entscheidend. Darüber hinaus haben wir in Saarbrücken mehrfach auch Werke der Bildenden Kunst einbezogen. Wenn etwa eine Stilrichtung oder Epoche im Zentrum stand, wie dies bei den Themenkonzerten zum Impressionismus und zum Expressionismus der Fall war, gab es sowohl einschlägige Bilder auf der Bühne, als auch Gelegenheiten für die Kinder, selber malend aktiv zu werden, um bestimmte Mischungen und Gestaltungsvorgaben eigenhändig auszuprobieren.

So können neben die Musik auch andere Kunstwerke treten, die Verbindungen zum jeweiligen Thema und zur entsprechenden Musik aufweisen. Auch Gedichte und Prosa sind geeignet. Verbindungslinien dieser Art verdichten die Eindrücke, illustrieren vielfarbig und lassen das Zentrale, den Kern des Themas, von verschiedenen Seiten her aufscheinen. Innerhalb der Kunstsparten können sich je nach Thema Werke verschiedener Stilbereiche ergänzen. Das Konzert zur Stimme enthielt neben Opernszenen auch Rap, den aktuellen Girlie-Trend, einen Zirkelkanon à la Bobby McFerrin sowie Volksmusik und stellte diese Stilbereiche kontrastierend gegeneinander.

Elementarer Ansatz

Die Saarbrücker Konzerte waren zwar jeweils für ein bestimmtes Altersspektrum konzipiert, wurden aber doch häufig auch von jüngeren und älteren Menschen besucht als vorgesehen. Dies ergibt sich schon dadurch, dass Familien häufig mit Geschwisterkindern verschiedenen Alters in Kinderkonzerte kommen. Damit sind gleichzeitig auch Erwachsene im Konzert, teilweise kamen auch Bewohnerinnen des nahe gelegenen Seniorenstiftes. Dabei bestätigte sich die These, dass ein gutes Kinderkonzert auch Erwachsenen gefällt.

Auf einer noch allgemeineren Ebene lässt sich auf den altersübergreifenden Ansatz der Elementaren Musikpädagogik verweisen. Ein spielorientierter, experimenteller, kreativer, intermedialer und offener Zugang zum Phänomen Musik kommt Babys und Kleinkindern ebenso zugute wie Vorschul- und Grundschulkindern, Jugendlichen und Erwachsenen, indem er die grundlegenden Momente der Musik erlebbar werden lässt. Dazu zählen ihre emotionalen und kommunikativen Gehalte ebenso wie ihre einzelnen Bausteine und Faktoren, also Klangfarben, Rhythmus, Phrasen, Tonhöhenverläufe, formaler Aufbau und kompositorische Prinzipien etwa des Miteinanders und Gegeneinanders verschiedener Stimmen. All dies soll zunächst jenseits einer hochdifferenzierten Spezialisierung erfahrbar werden. Elementare Musikpädagogik ist allgemeiner und auch in diesem Sinne elementarer als zum Beispiel Geigenunterricht. Das Musizieren innerhalb der elementaren Musikpädagogik ist weniger artifiziell und spezialisiert als die Werkinterpretation.

Bei Konzerten für Vorschulkinder wird das Moment des Speziellen – das Einzelwerk, der Komponist, das Instrument – im Zusammenhang mit den grundlegenden Phänomenen präsentiert: Klänge und ihre Mischungen sind besonders im Impressionismus ein entscheidender Parameter, darüber hinaus aber erweisen sie sich als konstitutiv für Musik generell. Ausdruck steht auf besondere Weise im Expressionismus im Zentrum, stellt aber ein Grundphänomen der Musik dar. In den Möglichkeiten der Stimme leuchtet unsere Kommunikationsfähigkeit ebenso auf wie der Zusammenhang mit Stimmung und Gestimmt-Sein.

Wenn von Vorschulkindern das Konzert-Thema im engeren Sinne nicht „schwarz auf weiß“ als gelernter Stoff nach Hause getragen wird, dann mag das für bildungsbeflissene Eltern oder Lehrer Anlass zur Irritation sein. Gleichwohl ist das Grundanliegen eines solchen Konzertes damit keineswegs gescheitert. Das Phänomen Musik wird in seinen grundlegenden Momenten sinnlich, geistig und emotional erlebt. Das ästhetische Erlebnis ist es, das einen Konzertbesuch bei Kindern ebenso wie bei Erwachsenen nicht nur rechtfertigt, sondern als Bereicherung des Lebens auszeichnet.

Die Literaturhinweise sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

Saarbrücker Kinderkonzerte unter www.emp.hfm.saarland.de

Prof. Dr. Michael Dartsch ist Hochschullehrer für Musikpädagogik und Leiter des Studiengangs Elementare Musikpädagogik an der Hochschule für Musik Saar in Saarbrücken.

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