12 Aug. fK 4/03 Zimmer
Zu wenig Bewegung – zu viel Gewicht!
Bewegungsmangel ist zu einer Zivilisationskrankheit geworden
von Renate Zimmer
Der Körper hat Hochkonjunktur. Ob in der Volkshochschule, im Sportverein oder im Wellness-Center, überall hat die Bewegung Einzug gehalten in Kursangebote und Tagesabläufe, sogar in das Leben jener, für die ein Fitness-Studio vor kurzem noch ein zu meidender Ort des Körperkultes gewesen ist. Ein Volk der Walker und Jogger sind wir geworden, der Stepper und Trimmer … Wenn da nur nicht die Kinder wären.
Gern glauben wir, es seien nur Vorurteile: Dass Kinder in erster Linie sitzen, anstatt sich zu bewegen. Dass sie sogar im Sommer ihre Tage lieber vor dem Fernseher oder dem Computer verbringen. Dass die Welt ins Haus kommt und Kinder nicht mehr die Notwendigkeit kennen, sich zu ihr zu begeben. Dass Hausarrest früher eine harte Strafe war, heute aber ein Begriff, den Kinder kaum noch kennen, geschweige denn fürchten.
Die Wahrheit ist, dass sich die motorischen Leistungen der Kinder in den vergangenen Jahren tatsächlich verschlechtert haben, zum Teil drastisch. Grundlegende Fertigkeiten sind heute nicht mehr selbstverständlich: Einen Ball auffangen. Eine Treppe schnell hinaufsteigen und wieder hinunterspringen. Auf einer schmalen Mauer balancieren. Auf einen Baum klettern. Auf unebenem Untergrund das Gleichgewicht halten. Auch haben viele Kinder Probleme, sich im Raum zu orientieren, wenn sie in einer Gruppe durcheinanderlaufen. Diese Eindrücke untermauert der „Motoriktest für vier- bis sechsjährige Kinder“. Der so genannte MOT 4-6 ist ein Messverfahren, standardisiert wie ein Intelligenztest, mit dem in Kinderarztpraxen und Schuleingangsuntersuchungen häufig die motorische Entwicklung erfasst wird. Er enthält Bewegungsaufgaben zum Gleichgewicht, zur Koordinationsfähigkeit, zur Raumorientierung, zur Geschicklichkeit. Der Test wurde vor 15 Jahren normiert – heute schon liegen die Leistungen in den geprüften Bereichen um etwa zehn Prozent unter den ersten Werten.
Ein Grund dafür mag sein, dass Lernen in unserer Gesellschaft untrennbar mit Sitzen verbunden ist; Konzentration scheint von körperlicher Unbeweglichkeit abzuhängen. Nach dieser Vorstellung funktioniert Schule – war früher aber wenigstens der Nachmittag von bewegungsreichem Spiel gekennzeichnet, geradezu von einer Flucht vom Mittagstisch nach draußen, wird heute oft zur Entspannung der Fernseher eingeschaltet, danach geht es an den Computer, und dann müssen auch noch die Hausaufgaben erledigt werden. Alles im Sitzen! Dem Sitzen am Vormittag folgt also das Sitzen am Nachmittag, die Sinne werden aufs Sehen und Hören beschränkt, der Körper wird stillgelegt und seiner grundlegendsten Funktion beraubt: der Bewegung. Die Bewegung ist ein Kindern ureigenes Bedürfnis, sie ist jedoch in Gefahr, von den Errungenschaften wie von den schädlichen Folgen der Technisierung, der Motorisierung verdrängt zu werden; ebenso vom medialen Angebot.
Die Folgen lassen nicht auf sich warten: Bewegungsmangel ist zu einer Zivilisationskrankheit geworden, bei Kindern mit ernsthaften Folgen für die körperliche, aber auch für die geistige, emotionale und soziale Entwicklung. So hat sich die Zahl der übergewichtigen Schulanfänger in den jüngsten zehn Jahren verdoppelt. Jedes fünfte Kind ist heute übergewichtig. Kinderärzte warnten, dass Übergewicht nicht nur ein Zuviel an Gewicht bedeute, sondern oft auch ein Zuwenig an Selbstwertgefühl: Die Kinder möchten ihren Körper nicht zeigen, täuschen aus Angst vor dem Schulsport Unpässlichkeiten vor – und finden sich in einem Teufelskreis wieder: Der Angst vor Misserfolg folgen das Vermeiden von Bewegung und immer größere körperliche Probleme. Die langfristigen Folgen sind noch nicht absehbar, wächst doch erstmals eine Generation heran, die in der sensibelsten Zeit des Wachstums einen wesentlichen Faktor gesunder Entwicklung vernachlässigt und damit auch nicht die körperliche Basis schafft, von der der Mensch eigentlich ein ganzes Leben zehrt.
Bewegungseinschränkung beginnt nicht erst im Schulalter: Viele Babys verbringen einen beachtlichen Teil ihrer wachen Zeit in Sitzschalen, im so genannten „Baby-safe“ werden sie vom ersten Lebenstag an transportiert, aufbewahrt, abgestellt. Das schlechte Gewissen der Eltern scheint manchmal weniger ausgeprägt zu sein als beim Gebrauch des Laufstalls, der früher Inbegriff der Bewegungseinschränkung war. Dabei ist der Laufstall verglichen mit einer Sitzschale fast ein Paradies: Hier kann das Kind robben, krabbeln, sich drehen und an den Holzstäben aufrichten, den Boden ertasten, Spielzeug durch die Stäbe stecken und wieder hinein zu kriegen versuchen. Im „Baby-safe“ hingegen steht – das ist vielleicht ein Zeichen der Zeit – die Sicherheit an erster Stelle. Mit Sicherheit auch die Einengung der Erfahrungen, es gibt keine Chance zu entweichen. Angeschnallt können die Kinder kein Empfinden für die Schwerkraft entwickeln und ihr Gleichgewicht nicht auf die Probe stellen. Die Sinne stumpfen ab wenn sie nicht gebraucht und benutzt werden.
Oder die Füße: Babys gehen noch sehr liebevoll mit ihnen um – betasten sie, spielen mit ihnen und stecken sie in den Mund. Aber spätestens im Kleinkindalter setzt dann die Entfremdung ein: In Schuhe gezwängt wird den Füßen der sinnlich wahrnehmbare Kontakt mit der Erde verweigert. Barfußlaufen auf einer Wiese verunsichert, es kitzelt und piekst und selbst am Strand sieht man viele Kinder, die nur noch mit Gummisandalen im Sand spielen oder ins Wasser gehen.
Bei der Geburt verfügt der Mensch über mehr als einhundert Milliarden Nervenzellen, die jedoch erst dann funktionsfähig sind, wenn sie miteinander verknüpft werden konnten. In der frühen Kindheit werden durch Sinnestätigkeit und körperliche Aktivität Reize geschaffen – Reize, die diese Verknüpfungen, die Synapsenbildungen, unterstützen. Die Verbindungen zwischen den Nervenzellen werden komplexer, je mehr Reize durch die Sinnesorgane zum Gehirn gelangen.
So haben Hirnforscher herausgefunden, dass sich Säuglinge, die in ihrem ersten Lebensjahr vorwiegend in der Wiege lagen, auffallend langsamer entwickeln als Kinder mit mehr Freiheiten. Einige dieser Wiegenkinder konnten im Alter von 21 Monaten noch nicht sitzen, einige sogar mit drei Jahren nicht richtig laufen. In den USA gibt es mittlerweile Intelligenzschulen für Babys und Kleinkinder. Hier stehen Krabbeln, Kriechen auf instabilem Untergrund, Klettern und Schaukeln auf dem Programm, um geistige Kompetenz zu entwickeln.
Aber nicht nur die geistige Entwicklung wird durch Bewegung beeinflusst: Über die Erfahrungen, die das Kind mit seinem Körper gewinnt, entwickelt es ein Bild von den eigenen Fähigkeiten. Es macht die Erfahrung von Können und Nicht-Können, von Erfolg und Misserfolg, von seiner Leistungsfähigkeit und seinen Grenzen. Kinder erleben zuerst durch ihre körperlichen Aktivitäten, dass sie selbst imstande sind, etwas zu leisten, dass sie mit ihren Handlungen etwas bewirken können. Im Kleinkindalter äußert sich das Bemühen um Selbstständigkeit am deutlichsten in Bewegungshandlungen: Sich alleine anziehen, ohne fremde Hilfe laufen, auf Mauern klettern – dies sind körperliche Errungenschaften, die dem Kind (und auch seinen Eltern) schrittweise zunehmende Unabhängigkeit beweisen. Das Wort Selbstständigkeit speist sich nicht zufällig aus „selber stehen können“.
Dabei ist Bewegung nicht in erster Linie eine Frage des Wohnortes oder der Finanzen – Erwachsene müssen vielmehr den Wert der Bewegung wiedererkennen und die Notwendigkeit, sie gerade im Alltag zuzulassen. Das heißt z.B. das Kinderzimmer nicht mit elektronischem Spielzeug oder monofunktionellen Möbelstücken zu überfrachten, sondern Raum für Bewegung zu lassen. Mit Matratzen- oder Schaumstoffteilen können Kinder herrliche Bewegungslandschaften bauen, können klettern, springen, rollen und sich verstecken. Zuallererst sind hier die Eltern gefragt – mit ihren Kindern auch wieder hinauszugehen und zu spielen, in der freien Natur mit all ihren Herausforderungen. Da reicht es, im Wald nur wenige Meter vom Weg abzuweichen. Was gibt es da nicht alles: weichen Laubboden, beinstellende Wurzeln, gefällte Bäume zum Balancieren – genügend Herausforderungen, die Kultur des Körpers zu fördern und so primäre, unmittelbare Lernerfahrungen zu machen, die mehr sind als „nur“ Sport: Dass Üben den Erfolg näher bringt. Dass man selbst verantwortlich ist für das Ergebnis seines Tuns. Und dass Anstrengung die Leistung verbessert.
Prof. Dr. Renate Zimmer ist Hochschullehrerin für Sportwissenschaft an der Universität Osnabrück
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