fK 4/03 Hermanussen

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Wir brauchen ein zentrales Institut für Kinderprävention

Vorsorgemaßnahmen haben eine wachsende Bedeutung für die Lebensqualität

Jörg Maywald im Gespräch mit Michael Hermanussen

Maywald: Zu Ihrem Alltag als Kinder- und Jugendarzt gehört die Durchführung der gesetzlichen Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern von der Geburt bis zum Jugendalter, den Eltern bekannt durch das Gelbe Vorsorgeheft mit den Untersuchungen U1 bis U9 und J1. Was leistet dieses in Deutschland seit langem etablierte Präventionsprogramm und wo liegen die Schwächen?

Hermanussen: Vorsorgeuntersuchungen bieten den Eltern Gelegenheit, mit einem kompetenten Arzt die Entwicklung ihres Kindes zu erörtern. Fragen zu Ernährung, Sozialisation und Familie können in einem breiteren Rahmen besprochen werden, als dies in der Sprechstunde anlässlich einer aktuellen Erkrankung möglich ist.

Allerdings zeigt das Vorsorgeprogramm eine Reihe von Schwächen. Das Untersuchungsangebot wird nicht von allen Eltern wahrgenommen. Gerade Kinder aus sozial problematischen Familien werden oft nicht vorgestellt. Die einzelnen Untersuchungen sind wenig standardisiert, d.h. es ist der Erfahrung des einzelnen Arztes überlassen, wie und was untersucht und mit den Eltern besprochen und dokumentiert wird. Weil nicht nur Kinderärzte, sondern in mehr ländlichen Gebieten auch zahlreiche Allgemeinärzte und Internisten Vorsorgeuntersuchungen vornehmen müssen, schwankt die Qualität der Vorsorge. Studien zur Qualitätssicherung zeigen, dass sich Vorsorgeuntersuchungen auch deshalb schwer auswerten lassen, weil der für die Statistik vorgesehene Bogen im Gelben Vorsorgeheft nicht immer vollständig ausgefüllt ist. Dies mag weniger an mangelnder Sorgfalt der Ärzte liegen als daran, dass viele Eltern glauben, eine Dokumentation von Auffälligkeiten könne nachteilig für ihr Kind sein. Aus diesem Grund werden Auffälligkeiten zwar mit den Eltern besprochen, aber wegen möglicher Empfindlichkeiten nicht ins Gelbe Vorsorgeheft eingetragen.

Abhilfe bietet z.B. das in der Schweiz seit langem eingeführte System, das eine Trennung zwischen Dokumentation und Statistik vorsieht. Auffälligkeiten können dort ohne Nachteile für die Eltern oder das Kind anonym eingetragen werden. Das Gelbe Vorsorgeheft wird derzeit überarbeitet und wird hoffentlich eine Lösung dieses Problems anbieten.

Maywald: Immer wieder einmal wird gefordert, das bestehende System auszubauen und zu verbessern, zum Beispiel durch die Erhebung psychosomatischer und psychosozialer Daten.
Was halten Sie von diesen Vorschlägen?

Hermanussen: Neben der Erfassung angeborener oder erworbener organischer Schäden stehen heute zunehmend Funktionen im Vordergrund des Interesses, die sich auf die Qualität der Entwicklung motorischer Fähigkeiten, der sinnlichen Wahrnehmung und Verarbeitung sowie der Sprachentwicklung beziehen. Dies ist deshalb so bedeutsam, weil bei Vorliegen von Entwicklungsstörungen das Zeitfenster für die erfolgreiche Behandlung solcher Störungen begrenzt ist. Dabei gilt, der Erfolg ist um so besser, je früher die Behandlung einsetzen kann. Ferner zeigt die Erfahrung, dass etwa 20 Prozent der Erkrankungen, die in einer Kinderarztpraxis vorgestellt werden, psychosomatischer Natur sind.

Leider sind anlässlich einer Vorsorge die psychosozialen Daten nicht nur aufwändig zu erheben, ihre Aussage- und Vorhersagekraft für die Entwicklung des einzelnen Kindes ist nicht sehr groß. Viele Kinder aus ungünstigen Verhältnissen entwickeln sich oft ganz unproblematisch, während manche Kinder aus einem scheinbar wohlgeordneten Umfeld eine unerwartet problematische Entwicklung zeigen. Hier sind noch viele wissenschaftliche Studien notwendig.

Maywald: Das deutsche Vorsorgesystem baut darauf, dass die Eltern mit ihrem Kind zum Arzt gehen und die Untersuchungen in Anspruch nehmen. Es ist bekannt, dass mit wachsendem Alter der Kinder die Inanspruchnahme erheblich abnimmt. Wäre es nicht sinnvoll, die bestehende Komm-Struktur durch eine Geh-Struktur zu ergänzen, zum Beispiel durch eine Verknüpfung mit dem öffentlichen Gesundheitssystem?

Hermanussen: Gerade angesichts der landesweiten Impfmüdigkeit erscheint eine Geh-Struktur erfolgversprechender als eine Komm-Struktur. Der öffentliche Gesundheitsdienst ist wohl grundsätzlich in der Lage, Vorschulkinder in den Kindergärten und Jugendliche in der Schule aufzusuchen, doch erscheint es mir fraglich, ob solche Vorschul-/Schuluntersuchungen das Gespräch und die Untersuchung durch den Arzt des Vertrauens ersetzen können. Ich sehe viele Jugendliche in der Praxis, die sich anlässlich von Schuluntersuchungen nicht einmal durch den Kollegen des Gesundheitsamtes impfen lassen wollen.

Maywald: Eine ganz andere Möglichkeit, das Vorsorgebewusstsein zu stärken, besteht darin, Eltern und auch die Kinder selbst mehr als bisher an der Vorbeugung und Früherkennung von Krankheiten zu beteiligen. Ein Beispiel hierfür ist das „elektronische Früherkennungsprogramm“ zur Selbstkontrolle der longitudinalen Entwicklung von Körperhöhe und Körpergewicht, das unter www.willi-will-wachsen.de im Internet abgerufen werden kann. Wie beurteilen Sie diesen Ansatz?

Hermanussen: Man schätzt, dass zur Zeit etwa ein Drittel der Eltern die Möglichkeit hat, das Internet zu nutzen. Das sind sicherlich noch deutlich weniger als die, die augenblicklich die konventionelle Vorsorgeuntersuchung aufsuchen. Aber die Eigeninitiative heutiger Eltern ist nicht zu unterschätzen, und sie werden sich gern eines solchen Angebots bedienen. Zur Zeit ist die Selbstkontrolle der kindlichen Entwicklung durch das von Ihnen genannte elektronische Früherkennungsprogramm noch in den Kinderschuhen und auf die Beurteilung von Körperhöhe und Körpergewicht beschränkt. Es fehlen nicht nur differenzierte Hinweise für die Eltern, es fehlen auch alle weiteren Aspekte der kindlichen Entwicklung wie Fragen nach motorischen Fähigkeiten, nach sinnlicher Wahrnehmung und Verarbeitung, Sprachentwicklung und sozialen Eigenschaften. Aber dieses Internet-Instrument kann erweitert werden und eröffnet dann vollkommen neue Möglichkeiten. Dann können Vorsorgen nicht nur zu beliebigen Zeitpunkten – also auch deutlich engmaschiger als zur Zeit vorgesehen – und völlig unkompliziert von zu Hause aus durchgeführt werden, es lassen sich die Vorsorgen auch deutlich besser standardisieren. Natürlich wird ein solches System nicht die ärztliche Untersuchung ersetzen können, aber es kann eine vorgeschaltete Filterfunktion übernehmen, die den Blick schärfen hilft für die Kinder, die möglicherweise gefährdet sind, mehr Betreuung brauchen und einem Arzt früher als im Untersuchungsheft vorgesehen vorgestellt werden sollten.

Maywald: Sie setzen sich – zusammen mit anderen – für die Gründung eines Deutschen Zentrums für Kinderprävention ein und haben ein entsprechendes Konzept vorgelegt. Welche Erwartungen verbinden Sie damit?

Hermanussen: Vorsorgemaßnahmen haben eine wachsende Bedeutung für die Lebensqualität und die medizinische Versorgung unserer Kinder. Aber es werden weder die Kosten noch das Leistungsspektrum und die Qualität dieser Maßnahmen hinreichend wissenschaftlich geprüft, Wir brauchen also eine kleine, aber wirksame, erfolgsorientierte und vor allem kostenbewusste Einrichtung, um die Qualität heutiger Vorsorgen zu prüfen und zu verbessern.

Damit erlangt das geplante Projekt eine wesentliche Bedeutung für die weitere Ausrichtung der Vorsorgemedizin in Deutschland. Insbesondere unter Nutzung der gegenwärtigen Möglichkeiten elektronischer Medien erscheint es zukunftsträchtig, dem technologischen Fortschritt angepasste Lösungen zu entwickeln, die eine echte Verbesserung und Alternative zum herkömmlichen Vorsorgeprogramm bieten. Es bedarf hierzu eines zielgerichteten Austausches sowie einer verstärkten Kooperation zwischen den Fachdisziplinen. Dies könnte eine sehr wesentliche Koordinierungsaufgabe sein, die ein Deutsches Zentrum für Kinderprävention übernehmen sollte.

Maywald: Übergewicht gilt als die häufigste ernährungsbedingte Gesundheitsstörung bei Kindern in Deutschland. Einmal angenommen, ein zentrales Institut für Kinderprävention würde Wirklichkeit werden. Was könnte das Zentrum in dieser Frage bewirken?

Hermanussen: Obgleich sich die Ernährung von Kindern und Jugendlichen in den vergangenen Jahren erheblich geändert hat, werden die Dokumentation von Ernährungsgewohnheiten und Gewichtsentwicklung und die Ernährungsberatung – abgesehen von der Säuglingszeit – in der Vorsorge weitgehend vernachlässigt. Gerade die frühkindliche Ernährung und die Gewichtsentwicklung in der Vorschulzeit sind aber für das spätere Auftreten von chronischer Überernährung und den damit eng verbundenen Gesundheitsstörungen bedeutungsvoll.

Infolge falscher Ernährungs- und Lebensgewohnheiten sehen wir zunehmend erheblich übergewichtige Kinder und Jugendliche und eine erkennbare Zunahme von arteriellem Hochdruck, orthopädischen Problemen und Typ-2-Diabetes, der bisher nur als Altersdiabetes bekannt war. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzen sollte, so ist hochgerechnet worden, dass in Zukunft bis zu 50 Prozent der erwachsenen Bevölkerung einen Diabetes entwickeln könnten – ein erschreckendes Ergebnis, was nicht nur Lebensqualität und Lebensdauer erheblich beeinträchtigt, sondern auch mit unüberschaubaren Anforderungen an unser Gesundheitssystem einher gehen wird. Hier brauchen wir dringend eine zentrale Institution, die die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Fachdisziplinen und Institutionen, die sich mit diesem Problemkreis wissenschaftlich beschäftigen, erfolgsorientiert und kostenbewusst verbessert.

PD Dr. Michael Hermanussen ist Kinder- und Jugendarzt in Gettorf

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