17 Aug. fK 4/02 Müller2
PAS-Streit gefährdet Kindeswohl
Ein Bericht von Stephanie Müller
Für die Einen muss das Eltern-Kind-Entfremdungs-Syndrom (PAS) in Scheidungsprozessen stärker berücksichtigt werden. Für die Anderen stellt es eine überflüssige, unwissenschaftliche Größe dar. Aus dem Dschungel der gegenseitigen Vorwürfe gibt es zur Zeit keinen Ausweg. Die Kinder haben nichts davon.
Wo unproduktiv gestritten wird, werden wertvolle Energien verschenkt. Das gemeinsame Ziel wird am Ende nicht erreicht. So auch in der deutschen Fachwelt, wenn es um das PAS (Parental Alienation Syndrome) geht. Im Vordergrund soll die Verwirklichung des Kindeswohls stehen, ein sensibler Begriff. In der Auseinandersetzung sind die Bedürfnisse der Kinder aus dem Mittelpunkt gerückt, gekämpft wird auch mit Entrüstung, Rechtfertigung und Polemik.
PAS heißt der Zankapfel, um dessen Wichtigkeit und Nutzen Juristen, Psychiater und Therapeuten ringen. Im Zentrum steht ein Verhalten, das angeblich vorwiegend Mütter einsetzen, wenn sie gegen den ehemaligen Partner um das gemeinsame Kind kämpfen. Gemeint ist die Beeinflussung des Kindeswillens, die krankhafte Hetze gegen den verhassten Ex.
In PAS-Fällen gibt es einen entfremdenden Elternteil. Nämlich den, bei dem das Kind wohnt. Von diesem Elternteil wird das Kind manipuliert, programmiert, kurz: es wird einer Gehirnwäsche unterzogen, bis es den anderen Elternteil nicht mehr sehen möchte. Dem Kind erscheint das Elternpaar aufgespaltet in einen ausschließlich guten und einen ausschließlich schlechten Elternteil.
Das Eltern-Kind-Entfremdungssyndrom ist in den USA bereits seit Mitte der 1980er Jahre bekannt. Sein Erfinder ist der Kinderpsychiater Prof. Richard Gardner. Er schätzt, dass PAS in etwa 90 Prozent aller strittigen Sorgerechtsfälle auftritt.
Die Berliner Fachanwältin für Familienrecht, Ingeborg Rakete-Dombek, kann die Ausführungen Gardners kaum ernst nehmen. Für sie war es auch schon ohne Gardners PAS-These eine Tatsache, dass der Kindeswille beeinflusst sein kann und dass diese Möglichkeit in Verfahren vor Gericht genau zu prüfen ist. Sie wirft dem Amerikaner zudem vor, die Dinge zu vereinfachen: „PAS ist alter Wein in neuen Schläuchen. Und wissenschaftlich nicht fundiert. Gardner zitiert nur sich selbst. Er sagt, PAS liegt dann und dann vor und setzt eine sehr niedrige Schwelle an. Er sagt, das sei für das Kind krank machend und damit eine Kindeswohlgefährdung. Dadurch kommt er auf § 1666 BGB, zum Entzug der elterlichen Sorge. Und dann kann er einfach sagen, der, der das macht, dem wird die elterliche Sorge entzogen. Dem Anderen wird sie übertragen, das Kind wird von hier nach da versetzt. Und das ist in dieser Vereinbarung Unsinn.“
Die Rechtsanwältin ist der Meinung, dass die ablehnende Haltung eines Kindes gegenüber einem Elternteil seinen Ursprung auch im begründeten Willen des Kindes selbst haben kann. Kinder, so Rakete-Dombek, würden sich aus dem Streit der Eltern am liebsten heraushalten. „Wenn die merken, die Konflikte nehmen Überhand und es gibt jedes mal einen Konflikt, dann entscheiden die sich einfach irgendwann und sagen: ‚Das stinkt mir jetzt. Ich sage jetzt, ich bleibe da, wo ich bin‘. Das muss man auch ernst nehmen. Weil das für die Kinder den Loyalitätskonflikt einfach zunächst beendet.“
Die Familientherapeutin und PAS-Kennerin Wera Fischer sieht in dieser Form der Argumentation das große Missverständnis, aufgrund dessen sich die bisweilen feindselige Debatte um das Syndrom überhaupt nur entwickeln konnte.
„Gegen PAS wird häufig argumentiert mit Fällen, die keine PAS-Fälle sind. Man sagt: ‚Aber die Ursache für die ablehnende Haltung liegt doch ganz woanders‘. Es gibt viele andere Gründe, die die ablehnende Haltung des Kindes hervorrufen können, aber das ist mit PAS dann einfach nicht beschrieben und auch nicht gemeint“, so Fischer.
Befragt zur Häufigkeit von PAS kann die Therapeutin keine konkreten Angaben machen. Sie weiß jedoch, dass die ganz schweren Fälle nur einen äußerst geringen Anteil darstellen.
Mit Gardners Angaben von rund 90 Prozent PAS-Vorkommen in allen strittigen Sorgerechtsfällen bleiben ganze 10 Prozent, mit denen falsch argumentiert werden könnte. Wird in deutschen Fachkreisen um dieses Zehntel gestritten?
Wohl kaum. Dieser Ansicht ist auch Prof. Dr. Jörg Michael Fegert vom Universitätsklinikum in Ulm. Er bezieht seine Kritik direkt auf die Fälle des Eltern-Kind-Entfremdungssyndroms: „Über PAS wird, finde ich, zurecht gestritten, weil PAS eine unheimlich bequeme Plädierformel ist und deshalb auch im juristischen Schrifttum gern aufgegriffen wird. Aber es gibt kaum empirische Grundlagen. PAS ist nicht untersucht, ist auch, wenn man Gardners Literatur liest, empirisch nicht bestätigbar.“ Für den Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt es zwei wesentliche Argumente, die den PAS-Begriff unbrauchbar machen. Das erste bezieht sich auf seine Unwissenschaftlichkeit, das zweite auf die missbräuchliche Anwendung.
Fegert hält PAS zunächst für eine überflüssige Kategorie: „Ich halte sie deshalb für so unnötig, weil wir in der Fachliteratur für die vehementen Effekte von Beeinflussung, die ich gar nicht bestreiten will, aber die sehr selten sind, eigentlich Begriffe haben.“ Diesen Begriffen liegen nach Fegert diagnostische Kataloge zugrunde. Mit ihnen kann beispielweise bestimmt werden, ob bei einem Erwachsenen, dessen Kind Anzeichen von Beeinflussung erkennen lässt, eine psychische Erkrankung vorliegt.
„Das sind schwere psychopathologische Phänomene. Die sind erkennbar und die sind abzugrenzen von dem Alltagsphänomen, nämlich dass Kinder im Loyalitätskonflikt häufig versuchen, es beiden Eltern recht zu machen. Das ist manchmal noch nicht mal so sehr Einfluss, sondern dass die Kinder auch antizipieren und versuchen sich zu überlegen, was wäre welchem Elternteil recht. Und das führt natürlich bei Eltern zu Verwirrung, weil sie dem einen Elternteil das und dem andern Elternteil jenes sagen“, sagt Fegert.
Der Wissenschaftler ist sich sicher: „Selbst Leute die sich auf das PAS berufen, merken, wenn sie näher hingucken, wie schwach die Definition ist. Es gibt einfach keine Kriterien. Deshalb kann es für alles und gegen alles verwandt werden.“ Er beanstandet weiter, dass bereits der Begriff Syndrom nicht zutreffend sei, um das von Gardner beschriebene PAS korrekt zu benennen: „Hauptkritik daran: Es ist kein Syndrom im medizinischen Sinne. Für einen Wissenschaftler ist ein Syndrom ein Komplex von Symptomen, der beschreibbar ist und der ab einem gewissen Schweregrad dann regelhaft auftritt. Und diese Definitionen liegen alle nicht vor. Gardner beschreibt Situationen und sagt, es sei enorm häufig, weil es eine allgemeine Beschreibung ist. Und deshalb kann das jeder für sich heranziehen.“
Aus wissenschaftlicher Perspektive kann mit Begriffen nur dann gearbeitet werden, wenn sie exakt definiert sind. „Es ist sehr viel wichtiger“, so Fegert, „über präzise, beobachtbare Sachen zu reden, weil es den Konflikt auch ein bisschen entschärft, wenn man über Dinge reden kann, die man präzisieren kann. Während, wenn ich PAS sage, dann mach ich eigentlich so einen allgemeinen Schuldvorwurf. Weil das PAS eigentlich eine Kausalattribution macht, die man nicht gleich nachvollziehen kann. Es verquickt Symptome mit einer Ursachenannahme.“
Die Familientherapeutin Fischer, die auch als Verfahrenspflegerin tätig ist, weist diesen Unschärfevorwurf entschieden zurück. Sie geht davon aus, dass er nur daher rührt, dass die Diagnose PAS immer wieder mit anderen möglichen Diagnosen vermischt wird. Eine Katze, die sich in den Schwanz beißt.
PAS wird diskutiert. In den USA. Im europäischen Ausland. In Deutschland. PAS existiert. Durch Gardner. Durch Therapeuten und Juristen, die damit arbeiten. Und nicht zuletzt durch verschiedene Vätergruppierungen, die – nach Meinung der PAS-Kritiker – daraus einen Großteil ihrer Identität schöpfen.
„Wenn sie auf eine Seite wie www.paPPa.com gehen, dann wissen sie einfach, dass PAS ein zentraler Punkt der Identitätsstiftung in der Väterbewegung ist. Wäre ich jetzt betroffener Vater und würde die entsprechenden Homepages durchgucken, würde ich sehr schnell lernen, dass diese drei Buchstaben PAS ein wunderbarer Hinweis auf Literatur, auf Vernetzung mit ähnlich Betroffenen sind. In den neunziger Jahren haben wir durch das Internet zunehmend ein Phänomen, dass sich plötzlich Patientengruppen, Elternverbände, Betroffenenverbände über bestimmte Labels identifizieren. Jetzt treten plötzlich Väter auf und sagen: ‚Ich habe PAS‘. Weiles im Internet so wichtig ist, um Gleichgesinnte zu finden, muss man dem Ding einen Namen geben“, sagt Fegert.
Die Familienrechtlerin Rakete-Dombek sieht das sehr ähnlich, bleibt jedoch nicht bei den Vätern stehen: „Das ist einfach eine Schiene für geschädigte Väter, klar. Die stürzen sich darauf wie verrückt.
Es gibt sicher auch Fälle, wo die Mütter ungerecht sind. Ich hab das Kind und du zahlst. Also jeder kämpft mit seinen Mitteln. Jeder wie er kann.“
Fegert weist weiter darauf hin, dass ihm keinerlei Stellungnahmen familientherapeutischer Verbände bekannt sind, die das PAS als Arbeitsbegriff anerkennen. „PAS“, so der Psychiater, „ist ein Phänomen von Einzelpersonen, die damit ein gutes Geschäft machen, meistens über Parteiengutachten, die ich prinzipiell für unethisch halte. Da sind Leute, die schreiben für teures Geld für Väter gutachterliche Stellungnahmen, die nachher vor Gericht eigentlich kaum verwandt werden können, weil sie natürlich nicht als unabhängiges Gutachten von beiden Seiten anerkannt werden. Insofern fügen wir den Kindern weiteren Schaden zu, weil sie dann eigentlich noch mal untersucht werden müssen. Ich halte es a priori für unethisch. Wichtig ist, wenn es zu einer Begutachtung kommt, dass sie im Auftrag des Gerichts geschieht und dann im Prinzip nach empirischen Gesichtspunkten vorgeht.“
Wo bleibt das Kind und sein Wille? Was ist Kindeswohl?
Diese Fragen stellen sich ganz praktisch, wenn das Kind ablehnendes Verhalten zeigt.
„Es geht darum zu verstehen, warum das Kind wie handelt und reagiert und wie mit den Wünschen des Kindes umzugehen ist. Und da, wo das Kind die innere Freiheit verloren hat, seine Bedürfnisse hinsichtlich beider Eltern offen zu äußern und diese zugunsten eines Elternteils verleugnet, da gilt es heraus zu finden, was das Kind braucht, um beide Elternbeziehungen wieder leben zu können anstatt sich auf eine Elternseite zu schlagen“, so die Familientherapeutin Fischer. Sie geht davon aus, dass die innere Freiheit des Kindes der Rachsucht eines Elternteils zum Opfer gefallen ist. PAS!
Solange keine Suggestion beziehungsweise bei keinem Elternteil eine psychopathologische Erkrankung diagnostiziert wird, erklärt der Ulmer Kinderpsychiater das ablehnende Verhalten eines Kindes hingegen folgendermaßen: „Viele Kinder reagieren im Übergang, zum Beispiel bei einem Umgang oder bei einer Beurlaubung, einfach mit Belastung. Nicht deshalb, weil es so schlimm beim Vater oder bei der Mutter war, sondern weil dieser Wechsel und das Wahrnehmen, dass die Eltern nicht mehr zusammen sind, belastend sind. Häufig werden diese normalen Belastungsphänomene von beiden Elternseiten verzerrt wahrgenommen und als Beleg dafür genommen, dass es dem Kind beim anderen schlecht geht. Wenn man in so eine Situation dann solche rhetorischen Keulen wie PAS oder Traumatisierung hineingibt, dann eskaliert man den Konflikt und schadet den Kindern.“
Zwei Fronten stehen sich gegenüber. Unversöhnlich. Verfangen in einem Streit, in dem sie das Kind aus den Augen verlieren. Vordergründig scheint es um Rechthaberei zu gehen. Dahinter steht vermutlich Sorge und eine große Hilflosigkeit der Helfer. Sie sollen Kindeswille erkennen und über Kindeswohl urteilen. Sie suchen den reinen Kindeswillen und werden ihn niemals unbeeinflusst auffinden. Sie treffen Entscheidungen aufgrund von Annahmen, die sich erst in der Zukunft bewähren können. Entscheidungen, von denen die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes abhängig ist. Sie müssen sich damit abfinden, dass sie mit jedem Kind einem neuen Menschen mit ganz eigenem Willen begegnen. Einem Willen, der anerkennenswert und zugleich sehr leicht gefährdet ist.
Stephanie Müller ist Sonderpädagogin und Journalistin
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