21 Aug fK 4/01 Grossmann
Die Bedeutung der ersten Lebensjahre für die Persönlichkeitsentwicklung Ergebnisse der Bindungsforschung
von Klaus E. Grossmann und Karin Grossmann
Evolutionäre Grundlagen sozialer Bedürfnisse des Säuglings nach psychischer Sicherheit
Primatenkinder kommen mit einem Repertoire von Ausdrucksverhalten auf die Welt. Diesem Repertoire entsprechen Verhaltensweisen von Eltern, meistens Mütter, die auf die kindlichen Ausdrucksmuster reagieren und so den kindlichen Ausdruck von Emotionen regulieren. Harry Harlow, der als erster in großem Umfange experimentelle Untersuchungen zur emotionalen Entwicklung von Rhesusaffen durchgeführt hat, sprach von „affektiven Systemen“. Evolutionsbiologisch gesehen sind die Verhaltensmuster der Jungtiere und der Elterntiere aufeinander bezogen und als ein solches System ausgelesen worden. Bei höher evolvierten, sozial lebenden Tieren wird von den Eltern Schutz geboten. Der Schutz besteht vor Feinden, aber auch vor Unbekanntem, vor Fremdem und fremden Menschen, vor Gefährlichem, sogar vor Neuem. Er wird durch die Nähe des beschützenswerten Kleinkindes und zum beschützenden Erwachsenen gewährleistet. Im Rahmen dieses Schutzes, der auch psychische Sicherheit bedingt, entwickeln sich auch soziale Kompetenzen.
In einem 1958 veröffentlichten Stummfilm von Harry Harlow mit dem Titel „The Nature and Development of Affection“ findet sich die folgende Szene: Ein an einer Mutterattrappe aufgezogenes Jungtier befindet sich hinter einer Glastür. Zwischen der Glastür und der Mutterattrappe auf der anderen Seite des Raumes befindet sich eine Barriere. Zwischen dem Jungtier und dem Muttertier wird ein angstauslösender neuer Gegenstand eingeführt. Bei Harlow waren das solche Dinge wie ein blecherner Armeejeep, ein blechtrommelschlagender Teddybär oder ein überdimensionaler hölzerner Grashüpfer. Lerntheoretische Überlegungen postulierten in den 1950er Jahren, dass im Angesicht furchtauslösender Reize das Tier die Distanz zwischen sich und dem neuen Reiz vergrößert. Viele behavioristische Lernexperimente sind nach diesem Prinzip durchgeführt worden. Dies stimmt aber für Primaten nicht, denn sie erreichen psychische Sicherheit nur durch schützende Nähe zum vertrauten starken, erwachsenen Tier, auch wenn sie dabei in gefährliche Nähe zum Angstreiz geraten. Dies geschieht in dem Filmfragment Harlows innerhalb weniger Sekunden: Das Jungtier springt mit einem großen Satz über den furchtauslösenden Gegenstand hinweg, um sich mit heftigen Atembewegungen fest an die weiche Oberfläche der zylindrischen Mutterattrappe anzuschmiegen. Danach riskiert es einige Blicke in Richtung des neuen verunsichernden Reizes, um ihn dann allmählich in immer größeren Abständen, immer länger und immer weiter von der sicheren Basis der Mutterattrappe aus zu erkunden. Allmählich verschwindet die Angst, der ursprünglich furchtauslösende Reiz verliert dadurch allmählich diese Eigenschaft, er wird vertraut oder „familiar“, wie es im Englischen heisst.
Bei kleinen Menschenkindern reift der Bewegungsapparat sehr viel langsamer als bei den übrigen Primaten. Sie haben dafür aber ein sehr ausgeprägtes Ausdrucksverhalten und man kann ihre Bedürfnisse an vielen Merkmalen erkennen. Der Muskeltonus z.B. zeigt sich in den Händchen, am Kinn, in Zustandsänderungen, Aufmerksamkeit, Unruhe, in der Art des Weinens, und vor allem in den elaborierten Gesichtsmuskeln, die dem menschlichen Gesichtsausdruck unterliegen. In der Natur wird die beschriebene Funktion überwiegend, wenn nicht ausschließlich von den Müttern der Kinder übernommen. Die Funktion der Mutter als Sicherheitsbasis lässt sich überall dort deutlich beobachten, wo das Kind durch eine gewisse Unvertrautheit mit der Situation verunsichert ist. Wird eine Bedrohung oder Verunsicherung wahrgenommen, so „sichert“ das Kind in Richtung der Mutter. Sobald es sie sieht, signalisiert es durch ängstliche Laute und Mimik, so dass diese entweder dem Kind zu Hilfe kommt, oder aber ihrerseits dem Kind signalisiert, zu ihr zu kommen, wenn es das schon kann. Sobald ein „liebevoller“, schützender Kontakt hergestellt ist, verliert sich normalerweise die spannungsvolle Verunsicherung. Mimik, Erregung und Körperhaltung des Kindes entspannen sich und eine neue Runde von Erkunden und Exploration ist eingeläutet. Die amerikanische Psychologin Mary Ainsworth hat dieses Prinzip des Erkundens von einer Sicherheitsbasis aus in einem methodischen Paradigma erfasst, das weiter unten dargestellt wird. John Bowlby hat es ihr gedankt und seine zweite Sammlung von Vorträgen über klinische Anwendungen der Bindungstheorie „a secure base“ genannt.
Bindungsverhalten und mütterliche Feinfühligkeit
Aus stammesgeschichtlicher Sicht ist das Bindungsbedürfnis eines Menschen genauso grundlegend wie sein Bedürfnis nach Nahrung, Erkundung, Sexualität und Fortpflanzung. Jedem dieser Grundbedürfnisse sind Verhaltenssysteme – Mimik, Laute, Gestik, Bewegungen – zugeordnet, die bei Mangel aktiv sind und die bei Sättigung ruhen. Der menschliche Säugling wird mit einem seinen Bedürfnissen entsprechendem Verhaltens- bzw. Signalsystem geboren. Er ist für die Kommunikation mit seiner sozialen Umwelt vorbereitet. Er ist abhängig davon, dass die Mutter den Ausdruck von Emotionen erkennt und für seine Bedürfnisse sorgt. Der menschliche Säugling ist darüber hinaus „genetisch vorprogrammiert“, im ersten Jahr individuelle, also persönliche Bindungen an eine oder wenige Personen zu entwickeln, die stärker und erfahrener sind und die ihn schützen und versorgen. Typische Bindungsverhaltensweisen sind Weinen, Rufen, Anklammern, Nachfolgen, sowie Protest beim Verlassen-Werden. Ihre Entwicklung beginnt gleich nach der Geburt und dient dazu, bei Bedarf die Nähe zu Bindungspersonen herzustellen. Die resultierende Bindung bleibt lange erhalten, manchmal ein Leben lang. Bindungsverhalten zeigt sich später allerdings in symbolischer und kulturell akzeptierter Form. Die Anzahl der Bindungspersonen ist begrenzt, vermutlich weil die Anpassung an die individuellen Eigenarten von Bindungspersonen ein Lernprozess ist, der die adaptiven Möglichkeiten des Säuglings intensiv beansprucht. Bowlby sprach deshalb von einer Hierarchie von Bindungspersonen mit der Mutter in aller Regel an erster Stelle. Anfänglich war sogar von einer ausschließlichen Mutterbindung die Rede, Monotropie genannt. Viele Säuglinge haben aber bereits im ersten Lebensjahr mehrere Bindungspersonen.
Mütter gehen unterschiedlich auf die Fürsorge- und Bindungsbedürfnisse, aber auch auf die Neugier ihrer Babys ein. Etliche Mütter sind sehr aufmerksam ihrem Säugling gegenüber, reagieren sofort und trösten geduldig, wenn er schreit, sie interagieren langsam und regelmäßig mit ihm, freuen sich aber auch, wenn er Interesse an ihr oder an anderen Dingen zeigt und fördern seine Erkundungswünsche. Die Säuglinge werden aufgenommen, wenn sie es wollen, und „geniessen“ den engen Kontakt oder das Schmusen mit der Mutter. Sie bestimmen andererseits aber auch den Zeitpunkt des Abgesetzt-Werdens selbst, so dass sich der Kontakt mit der Mutter für sie angenehm und konfliktfrei entwickelt. Diese Säuglinge entwickeln allmählich ein Gefühl der Tüchtigkeit und Selbstbestimmung, da sowohl ihre Bindungswünsche verstanden und akzeptiert werden, sie aber auch ihren Neugier-Impulsen ungestört nachgehen können. Das Verhalten der Mütter wird als feinfühlig gegenüber den Kommunikationen ihres Babys und als kooperativ mit den Zielen des Babys bezeichnet.
Andere Säuglinge machen allerdings weniger harmonische Erfahrungen mit ihren Müttern. Wenn sie weinen, werden sie zwar auch versorgt, aber Ungeduld, Ärger oder Grobheit der Mutter zeigen ihnen, dass ihre Bindungsverhaltensweisen unerwünscht sind oder nicht verstanden werden. Ihr Wunsch nach Nähe und Schmusen wird oft gar nicht und dann meist nur kurz und hastig erfüllt. Sie werden oft schon wieder abgesetzt, bevor sie es wollen. Gegen Ende des ersten Jahres scheinen solche Säuglinge den engen Kontakt gar nicht mehr zu mögen. Wenn z.B. die Mutter sie zum Schmusen auf den Arm nimmt, dann machen sie sich steif, weisen ihre Zärtlichkeiten ab und zeigen, dass sie losgelassen werden wollen. Viele solcher Mütter beschrieben ihre eigenen Kinder als nicht schmusebedürftig. Ihr Allein-Spiel wird dagegen durchaus mit mütterlicher Zuwendung bedacht. Sie lernen, sich die wohlwollende Aufmerksamkeit und Zuwendung ihrer Mutter zu erhalten, indem sie kaum noch einen offenen Ausdruck von Bedürfnissen nach körperlicher Nähe an sie richten. Im Laufe des ersten Lebensjahres lernen solche Säuglinge, ihre Signale nach Nähe und Kontakt stark einzuschränken, weil ihr Bindungsverhalten oft mit zurückweisendem Verhalten der Mutter beantwortet wird. Allerdings erweckt die Zurückweisung von der Mutter auch Ärger im Kind, den es zwar, wenn es sich unsicher fühlt, nicht der Mutter gegenüber zeigt, aber manchmal unvermittelt in der sicheren häuslichen Umgebung äußert. Diese Erfahrungen werden als Erwartungen verinnerlicht und bilden die emotionale Grundlage für eine unsichere Bindungsorganisation.
Eine kleine Gruppe von Müttern in unserer eigenen und in vergleichbaren amerikanischen Untersuchungen war gegenüber ihrem Säugling nur auf unvorhersagbare Weise verfügbar. Manche schienen sich mehr von ihren eigenen Launen als vom Baby leiten zu lassen, so dass sie häufig nicht erreichbar waren, obwohl sie anwesend waren. Manche Mütter hatten so viel mit sich selbst, mit ihren anderen Kindern oder mit ihrem Haushalt zu tun, dass sie ihrem Baby gegenüber nur gelegentlich liebevoll waren, aber nur, wenn es ihnen zeitlich gerade passte und selten, wenn das Baby danach verlangte. Wiederum andere Mütter waren so vertieft in ihre Sorgen, dass sie ihr Baby oft gar nicht wahrzunehmen schienen. So mussten diese Babys oft lange schreien, ehe sie getröstet wurden. Diese Unvorhersagbarkeit dieser Mutter führte bei ihren Säuglingen dazu, dass sie ihre Bindungsbedürfnisse in verunsichernden Situationen äußerst stark und dramatisch äußerten, um überhaupt Beachtung zu finden. Sobald sie sich selbständig fortbewegen konnten, ließen sie ihre Mütter kaum aus den Augen, um nicht übersehen zu werden. Manche Mütter schienen es auch nicht zu tolerieren, wenn sich ihre Babys z.B. aus Neugier von ihnen abwandten, und griffen immer wieder unmotiviert und kontrollierend in das Spiel ihrer Säuglinge ein. Andererseits schienen sie es zu genießen, wenn das Baby durch sein Weinen zeigte, wie dringend es sie brauchte. Solche Mütter behandelten ihr Baby eher wie ihr eigenes Schmusetier und nicht wie ein soziales Wesen mit eigenen Wünschen und Absichten. Diese Säuglinge erlebten häufig Angst, dass ihre primäre Bindungsperson für sie nicht verfügbar war. Ihr Bindungssystem war deshalb chronisch aktiviert. Sie entwickelten eine unbewusste Strategie, indem sie bei Belastung ihre Neugier und Erkundungslust zugunsten ihres übersteigerten Bindungsverhaltens zurücksteckten. Dies ist sehr anstrengend und führt in der eher vertrauten, weniger belasteten häuslichen Umgebung oft auch zu einer gewissen Passivität.
Folgen für die Organisation des Verhaltens und der Gefühle:
Bindungsqualitäten und Exploration
Die Auswirkungen mütterlicher Feinfühligkeit, Kooperation und Annahme des Säuglings im ersten Lebensjahr auf die psychische Sicherheit des Kindes wurden im Alter von 12 Monaten in der sogenannten Fremden Situation geprüft. Die Fremde Situation (FS) ist ein standardisiertes Minidrama zur Erfassung des Bindungsverhaltensmusters eines Kleinkindes. Sie wird in einem mit Spielzeug attraktiv ausgestatteten, aber für das einjährige Kind und seine Bindungsperson fremden Raum durchgeführt. Durch die Fremdheit und zwei zusätzliche, kurzfristige, höchstens dreiminütige Trennungen wird das Bindungssystem des Kindes, d.h. sein Streben nach Schutz, aktiviert. Es wird beobachtet und geprüft, auf welche Weise das Kind bei der Bindungsperson Beruhigung sucht. Dies wird verglichen mit dem Verhalten des Kindes gegenüber einer freundlichen, trainierten Spielpartnerin in der Rolle einer „Fremden“.
Eine sichere Bindung (in der Forschungsliteratur „B“ genannt) hat folgende Merkmale: Die Kinder zeigen offen ihren Kummer über die Trennung. Sie suchen Nähe zur Bindungsperson bei der Wiedervereinigung, sie beruhigen sich schnell und nehmen schließlich das trennungsbedingt unterbrochene Erkunden wieder auf. Kinder, die weniger Trennungsleid erkennen lassen, die sich gegenüber der zurückkehrenden Bindungsperson „vermeidend“ verhalten und sich statt dessen dem Spielzeug zuwenden, werden als unsicher-vermeidend („A“) klassifiziert. Ihre Herzschlagfrequenz steigt allerdings wie bei den sicher gebundenen Kindern an, wenn ihre Mütter den Raum verlassen, d.h. sie sind durch die Trennung ebenfalls beunruhigt. Nach der Fremden Situation steigt, im Gegensatz zu den Kindern in „B“-Beziehungen, der stressindizierende Kortisolspiegel von Kindern in „A“-Beziehungen an. Dies ist ein weiteres Zeichen dafür, dass auch sie durch Trennung belastet sind. Ein drittes Bindungsmuster ist die unsicher-ambivalente Verhaltensstrategie „C“. Solche Kinder suchen abwechselnd Nähe zur Bindungsperson, sind aber gleichzeitig ärgerlich auf sie. Diese unschlüssige, belastende Ambivalenz kann lange dauern und die Kinder finden kaum Beruhigung durch den Kontakt mit der Bindungsperson.
Die Bindungsmuster charakterisieren kleinkindliche Verhaltensstrategien im Umgang mit Trennungsstress, Fremdheit und anderen Belastungen. Die Grundorientierung der sicheren Bindungsstrategie ist es, bei der Bindungsperson Entspannung zu finden, um dann wieder entspannt spielen zu können. Bei der vermeidenden Strategie drückt das Kind, entsprechend seiner Erfahrung mit derselben Bindungsperson zu Hause, seine Belastung nicht aus. Es verbirgt sie vor ihr und hat dadurch keine Möglichkeit, aktiv bei ihr Entlastung zu suchen. Kinder mit einer ambivalenten Bindungsstrategie leben ständig in der Angst, die Bindungsperson zu verlieren, und haben dadurch eine sehr niedrige Schwelle, bei der Bindungsverhalten ausgelöst wird, es wirkt übertrieben. Eine optimale Organisation der kindlichen Emotionen wird durch die Feinfühligkeit von Bindungspersonen im Dienste der psychischen Sicherheit erreicht.
Die Beobachtung und Klassifizierung von hunderten von Kleinkindern in der Fremden Situation ergab, dass bei allen drei Bindungsstrategien, der sicheren und der unsicheren, Störungen auftreten können. Diese Störungen sind Zeichen von desorganisierten Bindungsstrategien. Einige Kinder zeigen subtile Störungen in den klassischen Bindungsmustern, gelegentlich aber auch klinische Anzeichen extremer Belastung. Desorganisation ist ebenfalls korreliert mit Indikatoren von physiologischem Stress.
Nur in sicheren Bindungsbeziehungen ist die Bindungsperson in vollem Umfang für ihr Kind eine „Sichere Basis“. Ihre Nähe sucht das Kind auf, wenn sein Bindungssystem erregt ist, schmust mit ihr, wenn es sich danach fühlt, und von ihr aus erkundet es explorativ und spielerisch-konzentriert, wenn die psychische Sicherheit wieder hergestellt und das Bindungssystem beruhigt ist. Bei den beiden unsicheren Bindungsmustern sind psychische Einschränkungen des Spielraums zwischen diesen beiden Polen zu beobachten und desorganisierte Kinder verlieren ihre Orientierung auf ihre Bindungsperson hin.
Das Bindungssystem wird in der Bindungstheorie als eigenständiges System betrachtet mit dem natürlich gesetzten Ziel („set-goal“), Sicherheit und Schutz zu erreichen. Ohne Exploration und spielerisches Erkunden aber könnte sich ein Kind, und auch nicht der erwachsene Mensch, seine Umwelt nicht vertraut machen, um in ihr existieren zu können. Aus diesen evolutionsbiologischen Überlegungen werden das Explorationssystem und das Bindungssystem als komplementäre Systeme betrachtet, weil beide zusammen in einem weiteren verhaltensbiologischen und ontogenetischen Rahmen für die Anpassung an die Lebensgegebenheiten zusammenspielen.
Auf die spezifisch menschliche Ausstattung für Exploration und Kommunikation hat der Schweizer Zoologe Adolf Portmann wiederholt hingewiesen. Er stellte fest, dass menschliche Kinder in einem physiologisch weniger reifen Zustand geboren werden als subhumane Primaten-Kinder. Tatsächlich ist das Ausmaß der Markscheidenreifung (Myelinisation) des zentralen Nervensystems bei menschlichen Säuglingen etwa erst mit 18 Monaten dem Zustand vergleichbar, mit dem subhumane Primaten-Kinder auf die Welt kommen. Erst dann beginnt die Entwicklung der menschlichen Sprache und Erkenntnis (Kognition) im eigentlichen Sinne. Es liegt nahe, dass die relative Unreife des menschlichen Säuglings zum Zeitpunkt der Geburt die Folge eines evolutionären Kompromisses zwischen dem schnellen Hirnwachstum des Föten und der durch den aufrechten Gang bedingten Enge des Geburtskanals ist. Dies erklärt auch die besondere Bedeutung der Bindung, die menschliche Säuglinge gegenüber den sie betreuenden Erwachsenen außerhalb des Mutterleibes in ihrer frühen sozialen Welt entwickeln. Individuelle Bindungen entstehen dabei nicht aufgrund schablonenhafter Instinkte, sondern als reiche individuelle Erfahrungen. Dazu tragen unzählige einzelne Wechselbeziehungen zwischen Kind und Bindungspersonen bei.
Die Entstehung der Bindungsqualitäten und die sich allmählich daraus entwickelten explorativen Qualitäten fallen in die Zeit des von Portmann so genannten „Extra-uterinen Frühjahrs“. Das Extra-uterine Frühjahr bereitet Sprache, Kommunikation und einsichtsvolles Handeln im Rahmen von Bindungsbeziehungen vor. Dafür ist das Kind evolutionsbiologisch ausgestattet und verwirklicht diese genotypische Disposition phenotypisch im Rahmen von mimischen, gestischen und vokalen sozialen Beziehungen, die vom Ausdrucksverhalten des Säuglings und der Eltern getragen werden. Die Disposition auf der Seite der Eltern wurde von Papousek & Papousek intuitives Elternverhalten genannt.
Während des Explorierens entstehen oft emotionale Konflikte zwischen Ängstlichkeit und Faszination. Verhaltensbiologen betonen den offenen Geist und die Neugier des Menschen. „Curiositas“, das lateinische Wort für Neugier, beinhaltet drei Aspekte. Der erste ist „in einem guten Sinne der Wunsch oder die Neigung, über alles zu lernen, insbesondere was neu ist oder fremd“. Die zweite Bedeutung meint „mein Gefühl des Interesses, das dazu führt, sich mit dem Neuen zu befassen“. Die dritte bezieht sich auf „Sorgfalt und Aufmerksamkeit gegenüber Detail, Genauigkeit und Exaktheit“ (Oxford-Dictionary). In allen drei Bereichen können auch negative Gefühle auftreten. Der Umgang des Individuums mit negativen Gefühlen beim Explorieren ist genauso zentral für die Bindungsqualität im weiteren Sinne wie der Umgang mit negativen Gefühlen gegenüber der Bindungsperson im engeren Sinne. Die Organisation der Gefühle spielt beim konfliktreichen Explorieren eine ebenso grundlegende Rolle wie die Organisation der Gefühle und des Verhaltens bei Trennungsstress. Wir gehen davon aus, dass Begeisterung beim Explorieren auch von der psychischen Sicherheit abhängt, die aus der Bindungsbeziehung stammt. Flexible, zielkorrigierte Verhaltensstrategien, die sich aus sicheren Bindungsbeziehungen entwickeln, haben ihre Wurzeln in beiden aufeinander bezogenen Systemen: Im engeren Bindungssystem, begünstigt durch Bindungssicherheit, und im weiteren explorativen System, begünstigt durch explorative Sicherheit. Sie stellen die Organisation der Gefühle dar, aus denen heraus sich Motive, Erkenntnisse und die Eigenständigkeit (Autonomie) des Kindes ausbilden. Beim ziel-orientierten Verhalten ist entweder die Bindungsperson das Ziel – bei aktiviertem Bindungssystem –, oder attraktive Gegebenheiten in der Umwelt – bei beruhigtem Bindungssystem, also im Zustand psychischer Sicherheit.
Desorientierung und Desorganisation
Die drei für die Fremde Situation kurz beschriebenen Bindungsqualitäten „A“, „B“ und „C“ stellen Verhaltensstrategien oder Organisationsformen des Bindungsverhaltens dar. Sie sind als Folge der Erfahrung, die die Kinder mit ihren Bindungspersonen während des ersten Lebensjahres gemacht haben, zu sehen. Bei allen drei Mustern gibt es Störungen, die sich in Unterbrechungen einer ablaufenden Verhaltensstrategie oder Organisation zeigen. Desorganisierte oder „D“-Verhaltensweisen umfassen z.B. widersprüchliche Verhaltensweisen wie Schwanken zwischen Erkunden und Nähe suchen, Annäherung und Vermeidung usw., die entweder nacheinander oder gleichzeitig gezeigt werden. Solche Kinder können z.B. während der Trennung sehr ruhig sein und dann außerordentlich gestresst und ärgerlich, wenn die Bindungsperson zurückkommt. Andere „D“-Merkmale sind ungerichtete, fehlgerichtete, unvollendete und unterbrochene Ausdrucksbewegungen, die ihr Ziel zu verlieren scheinen. Sie zeigen sich u.a. in Stereotypien, asymmetrischen, zeitlich unkoordinierten Bewegungen und anormalen Gesten und Haltungen, oder auch durch eingefrorene und verlangsamte Bewegungen. Kinder können sich z.B. von den Eltern wegbewegen anstatt zu ihnen hin, wenn sie Angst zeigen. Manche weinen, wenn die Fremde den Raum verlässt. Andere Kinder zeigen unmittelbar Anspannung in der Gegenwart der Eltern oder äußern direkte Anzeichen von Desorganisation und Desorientierung. Manche Kinder machen z.B. ein ängstliches Gesicht oder sie verstecken den Ausdruck von Angst während der Wiedervereinigung mit der Bindungsperson in der Fremden Situation hinter ihren Ärmchen. Manche Kinder zeigen ein äußerst vigilantes Verhalten in der Nähe der Eltern, stärker als die „C“-Kinder, mit mehr Anzeichen von Konflikten, andere grüßen zwar die Fremde, aber nicht ihre Eltern, manche fallen während der Annäherung hin oder laufen zunächst weg, um sich erst dann im Kreise wieder der Bindungsperson zu nähern.
Explorationsverhalten und väterliche Spielfeinfühligkeit
Während der 22 Jahre unserer Bielefelder Längsschnittuntersuchung wurden auch die Väter berücksichtigt. Weil aber die Arbeitsteilung in den untersuchten Familien recht traditionell war und sich die Väter weniger verantwortlich für direkte Fürsorge ihres Kindes fühlten, nahmen weniger Väter an den einzelnen Erhebungen teil. Es gelang uns trotzdem, genügend Väter während der Untersuchungszeit mit ihren Kindern zu beobachten und zu befragen, um statistisch bedeutsame Zusammenhänge zu finden.
Mit 24 Monaten z.B. wurden 47 Vater-Kind-Paare in einer 10-minütigen Spielsituation mit einem neuen kreativen Spielmaterial, nämlich Knetmasse, beobachtet. Die Väter wurden beurteilt für ihre Feinfühligkeit und für ihr behutsam herausforderndes interaktives Spielverhalten mit ihren Zweijährigen auf einer eigens dafür konstruierten Beurteilungsskala (SCIP-Skala: „Sensitive Challenging Interactive Play“). Die SCIP-Skala misst die Feinfühligkeit gegenüber den Bindungssignalen des Kindes, Unterstützung des kindlichen Explorationsverhaltens und vorsichtige Herausforderungen der kindlichen Kompetenzen. Die väterliche Spielfeinfühligkeit mit seinem 2-jährigen Kind erwies sich in unserer Untersuchung als der Angelpunkt für die Kind-Vater-Beziehung.
Psychologische Konsequenzen: Bindung als internales Arbeitsmodell
Bowlbys theoretische Vorstellung über ein „internales Arbeitsmodell (Inner Working Model: IWM) von sich und Anderen“ bezieht sich vor allem auf die Entwicklung innerer hypothetischer Organisationen von Emotionen im Zusammenhang mit dem Bindungs- und Explorationssystem. Bowlby wählte den Begriff Arbeitsmodell, weil sich das Modell von sich und anderen durch beständig neuartige Erfahrungen ändern kann, der Veränderungsprozess allerdings mit zunehmendem Alter und Menge der Erfahrung schwerer wird, weil es sich selbst stabilisiert. Die beiden Hauptaspekte des IWM sind zunächst der elterliche Respekt für die Bindungswünsche des Kindes, und sodann seine Bedürfnisse zum Explorieren. Zentral dabei ist, wie Bindungspersonen dem Kind sowohl als Sicherheitsbasis dienen und es ermutigen, von dieser Basis aus zu erkunden, als auch ihre Unterstützung bei der allmählichen Ausweitung seiner Beziehungen sowohl mit anderen Kindern als auch mit anderen Erwachsenen. Nach Bowlby konstruiert sich ein Kind, dessen Eltern verfügbar und unterstützend sind, ein Arbeitsmodell von sich selbst als tüchtig („able to cope“), aber auch für wert, unterstützt zu werden („worthy of help“), und von den Eltern als zugänglich und hilfsbereit.
Die Integration der kindlichen Welt der Gefühle in ein internales Arbeitsmodell ist ein sehr sensibler sozial-emotionaler Prozess. Die kindlichen Emotionen sind vorherrschend, bevor sich die kognitiven Funktionen entwickeln, also während der Zeit der sogenannten frühkindlichen Amnesie, an die sich das Kind später bewusst nicht erinnern kann. Zeitlebens entstehen aber die intensivsten Emotionen und wesentlichsten Elemente des internalen Arbeitsmodells im Zusammenhang mit Bindungserfahrungen, negative Emotionen vor allem im Zusammenhang mit Trennung und Verlust, positive im Zustand psychischer Sicherheit. Die weitere individuelle Entwicklung wird beherrscht durch die allmähliche Integration von Sprache und Erkenntnis, den Kognitionen.
Sprachliche Bearbeitung von Bindungsgefühlen
Bindungsgefühle und sprachliche Darstellung von Bindungserfahrungen
Frühe vorsprachliche Bindungserfahrungen werden allmählich durch diskursive Sprache ins Bewusstsein integriert. Unterschiede in der sprachlichen Kohärenz reflektieren verschiedene Arten sicherer und unsicherer Bindungsrepräsentationen. Die sprachliche Kohärenz sicherer Bindungsrepräsentationen zeigt sich durch den freien Zugang zu negativen Gefühlen und Erinnerungen und deren Integration, durch Klarheit über die eigenen Motive und Intentionen und durch Perspektiven und Pläne, die Anteilnahme an anderen und Mitgefühl für andere deutlich machen. Auf der rein emotionalen Ebene zeigt sich eine solche mögliche Kohärenz zwar bereits frühkindlich, z.B. im Gesichtsausdruck, aber die Integration muss im Verlauf der weiteren Entwicklung sprachlich integriert werden, um zu bewussten und mitteilbaren internalen Arbeitsmodellen zu werden. Sprachliche Inkohärenz, im Gegensatz dazu, weist auf einen beeinträchtigten Zugang zu Gefühlen hin, auf einen Mangel an Erinnerungen und zeitlichen Differenzierungen und auf einen generellen Mangel an „metakognitiver Selbstkontrolle“.
Die empfindlichste Komponente bei der Entwicklung von internalen Arbeitsmodellen sind die allmählich bewusst werdenden Gefühle, die benannten Emotionen der Kinder. Für das Verständnis der Entwicklung internaler Arbeitsmodelle von der frühen Kindheit bis zum reifen Erwachsenen kann es hilfreich sein, an die Definition Robert Sternbergs über Intelligenz als die Entwicklung von „internaler Kohärenz und externaler Korrespondenz“ zu denken. Im Rahmen der Bindungstheorie, unter Betonung der Bindungsgefühle, ergibt sich daraus die folgende Perspektive: Jede Diskrepanz zwischen faktischen Erfahrungen und ihrer Bedeutungszuweisung durch Schweigen, Lügen, Verunglimpfung, Verleugnung, Missrepräsentationen, Bedrohungen usw. durch die ihr Vertrauen missbrauchenden Bindungspersonen kann den Aufbau internaler stimmiger Verarbeitung dieser realen Erfahrungen bei den Kindern verhindern. Gefühle bleiben dann ohne entsprechende Realität und ohne „bedeutungsvolle“ Interpretation, und reale Ereignisse und Erfahrungen bleiben als widersprüchliche innere Bilder haften. Wahrscheinlich können (zunächst) nicht die Emotionen selbst verändert werden, wohl aber die Bedeutung, die sie als Gefühle in bestimmten Erfahrungszusammenhängen haben. Nur solche Emotionen werden zu bewusst zugänglichen und in ziel-korrigiertes Verhalten integrierte Gefühle, die eine sichere, ziel-korrigierte Bindungsstruktur haben, die sprachlich benannt und in sprachlich kohärente Bedeutungszusammenhänge eingebettet sind.
Von Erinnerungen über Ereignisse und Mimetik zur sprachlichen Repräsentation
Erst das Sprechen über zentrale Themen der Bindungstheorie wie Zurückweisung, Trennung, Verlust sowie über die damit zusammenhängenden Gefühle wie Ärger, Verzweiflung, Angst, Trauer, Schuld, Scham, Eifersucht, Neid, Ekel, Hoffnung, Stolz, Dankbarkeit, Liebe, Empathie und andere Gefühle im Rahmen von engen Beziehungen macht Bindungserfahrungen bewusst und kommunizierbar. Die Unterdrückung und Verzerrung dieser Gefühle und ein Mangel an sprachlichen Repräsentationen sind Gründe dafür, dass Informationen, Erlebnisse und Gefühle von bewusster Wahrnehmung ausgeschlossen bleiben. Es geht, so gesehen, weniger um eine „Verdrängung“ von Gefühlen als um ihre mangelnde sprachliche Verfügbarkeit. Bestimmte, meist aversive Erlebnisse und Gefühle haben folglich keine sprachlich-narrative Entsprechung, weil sie niemals an eine externale Korrespondenz wie bei der sprachlichen Repräsentation von Gegenständen oder anderen Erlebnissen gebunden wurden.
Ohne den Realitätsbezug könnte ein Kind nur Teilvorstellungen oder verzerrte Repräsentationen aufbauen, z.B. von einer Mutter als liebend und großzügig, weil diese das so von sich sagt, während sie tatsächlich in ihrem Verhalten dem Kind gegenüber selbstsüchtig, fordernd und ablehnend ist. Das Kind fühlt zwar die Ablehnung im Verhalten der Mutter, aber wenn niemand mit dem Kind darüber spricht, wird es selbst über seine Erfahrungen nicht sprechen lernen. Wenn Eltern bestimmte Themen aus ihren Gesprächen ausklammern, können Kinder keine sprachlichen Repräsentationen über sie aufbauen. Das Kind, das unfähig ist, bedeutsame Aspekte seiner Beziehungswirklichkeit zu registrieren, kann es schon deshalb nicht, weil sie ihm nicht bedeutungsvoll gemacht worden sind. Bedeutungszusammenhänge emotionaler Erfahrungen werden also, bindungstheoretisch gesehen, nur dann erworben, wenn sie Teil eines sprachlichen Repräsentationssystems werden.
Internale Arbeitsmodelle
Zwei Aspekte sind grundlegend für das Konzept eines sicheren internalen Arbeitsmodells: Eine sichere Basis für die psychische Sicherheit und die Ermutigung bei der Exploration und ihre sprachliche Integration. Zunächst entwickelt sich ein unbewusstes, eher primitives Modell während der frühen Lebensjahre. Es kann besonders unter starken emotionalen Belastungen handlungswirksam werden. Erst später entwickelt sich allmählich ein zweites Modell, das mit dem frühen gleichzeitig wirksam ist. Das zweite Modell kann sich allerdings vom ersten wesentlich unterscheiden. Bowlby nannte das zweite, neuere Modell differenzierter und weltklug („more sophisticated“), weil es auf umfangreicheren Erfahrungen und sprachlichen Erinnerungen basiert. Der Person selbst ist das zweite Modell eher gegenwärtig. Das verfeinerte neuere Modell reguliert aktuelle Anpassungen, während das alte oder frühe Modell auf den frühen emotionalen Erfahrungen mit Bindungspersonen basiert und die gegenwärtige Wirklichkeit nicht wahrnehmen kann. Man könnte darüber spekulieren, auf welche Weise und in welchem Ausmaß, und unter welchen Umständen ein altes, negatives Modell angemessenere psychologische Anpassung gegenüber gegenwärtigen Herausforderungen verhindert oder stört. Auf jeden Fall kann es sich sehr störend bemerkbar machen und den angemessenen Umgang mit der gegenwärtigen Lebenssituation beeinträchtigen.
Wenn wir Bowlbys Analyse über die Entwicklung von Repräsentationen eigener emotionaler Erfahrungen akzeptieren, dann können sich neuere und differenzierte internale Arbeitsmodelle gegenüber alten, negativen Modellen vor allem durch unverfälschte sprachliche Diskurse durchsetzen. Die emotionalen und nonverbalen Bindungserfahrungen während der kindlichen Entwicklung müssen mit den ihnen entsprechenden Aspekten der Wirklichkeit geistig verbunden werden, indem auf bedeutungsvolle Weise mit besonderen, d.h. nahestehenden Personen über die nonverbalen Erfahrungen gesprochen wird. Dazu müssen allerdings die entsprechenden Erinnerungen verfügbar sein.
Innere „Stimmigkeit“ und äussere „Entsprechung“
Die Bindungstheorie untersucht die Qualität der Organisation von Emotionen, Motiven und Perspektiven über sich selbst und über Bindungspersonen. Eine wichtige Informationsquelle darüber ist die Analyse sprachlicher Diskurse über Bindungsthemen. Sichere internale Arbeitsmodelle zeigen sich deutlich in kohärenten Darstellungen von Bindungsbeziehungen, sei es über die eigene Kindheit, wie im Erwachsenen-Bindungsinterview (Adult Attachment Interview), sei es über eigene partnerschaftliche Erfahrungen. Gesunde Autonomie innerhalb von Bindungen im Gegensatz zu zwanghafter Unabhängigkeit oder zu emotionaler Abhängigkeit entwickelt sich im Rahmen sicherer Bindungen, nicht nur in der Kindheit sondern bis in das spätere Jugendalter. Dabei können vor allem Erzieher und andere wichtige Personen auch außerhalb der engen Kernfamilie eine entscheidende Rolle spielen. Die mentale Freiheit, negative Erfahrungen neu zu bewerten und in die Lebensgeschichte zu integrieren, scheint grundlegend für eine psychisch sichere Entwicklung zu sein, ganz gleich, woher sie stammt. Wenn dies nicht erreicht wird, dann können gegenwartsblinde, alte internale Arbeitsmodelle in der Tat jegliche adaptive Offenheit verhindern. Innerhalb der Sicherheit einer therapeutischen Beziehung jedoch kann ein kohärentes Narrativ aus Bindungserlebnissen geschaffen werden, in dem Erinnerungen an alte Gefühlszustände in neue, gemeinsam erarbeite Bedeutungszusammenhänge überführt werden. Der Gedanke an Sicherheit in erzieherischen Beziehungen liegt dabei nahe.
Bindung über den Lebenslauf
Das Bindungsinterview für Erwachsene
Beim Bindungsinterview für Erwachsene (Adult Attachment Interview: AAI) handelt es sich um ein hypothesengeleitetes Interview. Die Probanden berichten, wie die Bindungspersonen auf das Bindungsverhalten des Befragten als Kind reagiert haben. Daraus entsteht ein Bild über seine gegenwärtigen Erinnerungen an die früheren Beziehungen zu den Eltern. Dieses Bild, so wird angenommen, wirkt sich im Sinne von Erwartungen bzw. des internalen Arbeitsmodells auf den Aufbau neuer Bindungen aus. Die Interview-Fragen beziehen sich folglich auf Erinnerungen an eigene Bindungsverhaltensweisen, die elterlichen Reaktionen darauf und auf die heutige Bewertung der berichteten Erfahrungen. Der Interviewleitfaden besteht aus 13 Fragen, zu denen jeweils „nachgefasst“ wird. Sie konzentrieren sich vor allem auf die Beschreibung der Beziehung zu beiden Eltern. Darüber hinaus wird gefragt: was haben sie getan, wenn sie Kummer hatten, traurig oder verletzt waren? Haben diese Erfahrungen einen Einfluss gehabt? Hat sich die Beziehung zu den Eltern verändert? Gefragt wird u.a. auch nach Erinnerungen an Trennungen und Zurückweisungen sowie nach dem Tod von geliebten Personen.
Ein wichtiger Gesichtspunkt, vielleicht der wichtigste, ist die Kohärenz oder Stimmigkeit bzw. Inkohärenz oder Unstimmigkeit der transkribierten Interviews. Kohärenz in der Diskussion eigener Kindheitserinnerungen an die Eltern, bezeichnet auch die Stimmigkeit der Integration von positiven mit negativen Aspekten von Ausdruck und Gefühl. Inkohärenz dagegen betrifft negative Erinnerungen, die nicht als Teil eines kohärenten Ganzen integriert sind, z.B. Ausblendungen, Idealisierungen, Widersprüche und Ungereimtheiten in der Organisation der Erinnerungen zwischen semantischen und episodischen Beschreibungen der Eltern.
Sprachliche Repräsentation von Partnerschaft: Sicherheit und Diskursqualität
In der Bielefelder Längsschnittuntersuchung wurde mit 22 Jahren u.a. ein ausführliches Gespräch über die besten ersten engen Partnerschaftserfahrungen im Stile des Erwachsenen-Bindungs-Interviews geführt. Dafür wurde von Monika Winter ein Interviewleitfaden entwickelt, der den Umgang mit der eigenen Identität, der Partnerschaft und Freundschaften zum Inhalt hatte. Alle bis auf zwei der jungen Erwachsenen hatten Erfahrungen mit wenigstens einem intimen Partner. Die kürzeste Partnerschaft dauerte 2 Monate, die längste 27 Monate. Die Kriterien für Qualität von engen Beziehungen, die unter 10 Bindungsforschern in Regensburg erarbeitet wurden, führten zu 3 Prototypen: Eine sichere, eine abwertende und eine verstrickte Repräsentation. Damit wurden die Antworten der Probanden verglichen. Die sicheren äußerten eine große Wertschätzung für den Partner, beschrieben sich selbst als verlässlich, zuverlässig verfügbar und als sichere Basis, wenn der Partner Beistand braucht. Sie drückten ihre Zuneigung offen aus und äußerten zahlreiche lebendige Beispiele einer warmen und gegenseitig unterstützenden Partnerschaft. Die sicheren Probanden werteten die Bedeutung ihrer Partnerbeziehungen nicht ab, sie wiesen weder Hilfsangebote zurück, noch weigerten sie sich, zu helfen. Sie äußerten keine unrealistischen Idealisierungen des Partners oder der Partnerschaft und verwechselten auch nicht die Anhänglichkeit des Partners mit Abhängigkeit.
Bei den „abwertenden“ Probanden blieb die Wertschätzung für den Partner fraglich oder enthielt tatsächlich abwertende Elemente. Sie beschrieben sich nicht als sichere Basis für den Partner, auch nicht, wenn er Trost und Beistand brauchte. Sie äußerten kaum Zuneigung und gaben keine Beispiele für Wärme und gegenseitige Unterstützung. Sie hielten die Verbundenheit in der Partnerschaft für nicht sehr wichtig und betonten ihre Selbständigkeit dadurch, dass sie sich weder helfen ließen, noch halfen und indem sie die Beziehung in ihrem Diskurs herunterspielten. Sie verwechselten auch Zuneigung mit Abhängigkeit.
Einflüsse mütterlicher Feinfühligkeit und Unterstützung
Die Feinfühligkeit der Mütter gegenüber den Signalen des Kindes war im ersten Lebensjahr dreimal zu Hause beobachtet worden. Das Verhalten des Kindes gegenüber anwesenden Bindungspersonen wurde mit 12 und 18 Monaten – mit Mutter und Vater – in der Fremden Situation geprüft. Mit 2 und 6 Jahren wurden umfangreiche Hausbeobachtungen gemacht und mit 6 Jahren wurde auch der Trennungsangst-Test durchgeführt. Mit 10 Jahren wurde mit den Kindern über Unterstützung durch die Eltern, Verhalten bei Kummer und ähnliches gesprochen und mit 16 Jahren wurden sie mit fiktiven Situationen von Zurückweisung konfrontiert. Außerdem wurde das Erwachsenen-Bindungs-Interview mit den 16-Jährigen durchgeführt, aus dem auch die Unterstützung der Mutter ermittelt wurde.
Die Qualität des sprachlichen Diskurses über den Beziehungspartner mit 22 Jahren wurde signifikant vorhergesagt durch einen zusammengefassten Index aus mütterlicher Feinfühligkeit und Wertschätzung von Bindung mit 6 Jahren. Junge Erwachsene mit einem kohärenten sprachlichen Diskurs über ihre Beziehung, die dabei Selbstreflexion und Anerkennung der Autonomie des Partners erkennen ließen und seine oder ihre Bindungsbedürfnisse anerkannten, hatten eine Mutter, die sowohl feinfühlig gegenüber den vorsprachlichen als auch sprachlichen Äusserungen ihrer jungen Kinder war und die Bindungen wertschätzte. Feinfühliges Beantworten der Signale des Kleinkindes und seiner Kommunikationen förderte längsschnittlich gesehen die Fähigkeit des älteren Kindes, über seine eigenen Gefühle und Motive und die des Partners nachzudenken und sich entsprechend im Gespräch darüber zu äußern.
Die Sicherheit der Partnerschaftsrepräsentation mit 22 Jahren wurde neben dem zusammengefassten Index der mütterlichen Feinfühligkeit mit 16 Jahren am stärksten vorhergesagt durch die Flexibilität der Gedanken und der Antworten auf eine Reihe von vorgegebenen Situationen, die soziale Zurückweisung beinhalteten. Die Sicherheit der Partnerschaftsrepräsentation wurde auch vorhergesagt durch die Sicherheit der Antworten des 6-jährigen Kindes im projektiven Trennungs-Angst-Test. Die Antworten im Trennungs-Angst-Test wurden ihrerseits hochsignifikant vorhergesagt durch die Bindungsqualität, die das Kind mit einem Jahr gegenüber der Mutter in der Fremden Situation gezeigt hat. Folglich hatte ein junger Mann oder eine junge Frau, die enge partnerschaftliche Beziehung wertschätzten, die in schwierigen Situationen bereit waren, zu helfen und Hilfe zu akzeptieren und die im Gespräch zahlreiche lebendige Beispiele einer warmen und gegenseitig unterstützenden Partnerschaft äusserten, eine meist feinfühlige und unterstützende Mutter über die ersten 16 Jahre ihres Lebens hin erfahren; sie waren geistig beweglich, wenn sie im Alter von 16 Jahren mit fiktiven Situationen sozialer Zurückweisung konfrontiert wurden und waren als 6-Jährige in der Lage, mit fiktiven Trennungssituationen dadurch umzugehen, dass sie gute soziale Fähigkeiten erkennen ließen, auf die sie sich in Trennungssituationen verlassen konnten.
Die Befunde unterstützen die zentrale Hypothese der Bindungstheorie, die von Bowlby wiederholt formuliert wurde: „There is a strong causal relationship between an individual´s experience with his parents and his later capacity to make affectional bonds …“ Kinder, die eine feinfühlige Mutter (und einen spielfeinfühlichen Vater) hatten, entwickelten sich zu Erwachsenen, die selbst feinfühlig gegenüber den Bindungsbedürfnissen ihrer Partner waren und die Bindungsbeziehungen wertschätzen. Die zwei jungen Erwachsenen mit den höchsten Beurteilungen ihrer Sicherheit der Partnerschaftsrepräsentation z.B. hatten Mütter, die während der gesamten vorausgegangenen 16 Jahre feinfühlig und unterstützend waren. In der klinisch unauffälligen ‚Normal‘-Stichprobe der Bielefelder Längsschnittuntersuchung sagt die mütterliche Feinfühligkeit im Umgang mit ihrem Säugling während des ersten Lebensjahres allein schon die Qualität des sprachlichen Diskurses ihrer Kinder über Partnerschaftsbeziehungen mit 22 Jahren signifikant vorher.
Einflüsse väterlicher Spielfeinfühligkeit
Sowohl die Sicherheit der Partnerschaftsrepräsentation als auch die Diskursqualität über Partnerschaft mit 22 Jahren hatten direkte Wurzeln auch in der frühen väterlichen Spielfeinfühligkeit mit seinem zweijährigen Kind. Die väterliche Spielfeinfühligkeit sagte auch die Bindungsrepräsentation des 16-Jährigen im Erwachsenen-Bindungs-Interview voraus. Wir interpretieren diese Befunde im Lichte der Rolle des Vaters als Unterstützer oder Behinderer der psychischen Sicherheit des Kindes vor allem bei seinen Explorationen. Durch die Feinfühligkeit und das vorsichtige Herausfordern während des gemeinsamen Spiels förderten Väter die Autonomie ihrer Kinder innerhalb von Beziehungen. Väter scheinen die Rolle von Müttern vor allem im Bereich des kindlichen Explorationssystems zu komplementieren. Weitere Zusammenhänge mit 6, 10 und 16 Jahren lassen die Rolle des Vaters ebenso deutlich hervortreten – in manchen Bereichen sogar noch deutlicher – als die bislang in der Literatur favorisierte Rolle der Mütter.
Die väterliche Spielfeinfühligkeit erwies sich dabei als der Angelpunkt für die Kind-Vater-Beziehung: In unserer Stichprobe konnten wir direkte statistisch bedeutsame Zusammenhänge zwischen der Spielfeinfühligkeit von Vätern mit ihren 2-Jahre alten Kindern und der mentalen Repräsentationen von Bindung ihrer 16-Jahre alten Kinder nachweisen, also 14 Jahre später, und sogar mit der Partnerschaftsrepräsentation ihrer Kinder als junge Erwachsene mit 22 Jahren, also 20 Jahre später. Entsprechende Tests mit der Spielfeinfühligkeit der Mütter haben solche Zusammenhänge nicht erbracht.
Wir haben es also mit deutlichen Geschlechtsunterschieden im Einfluss der Eltern auf die Entwicklung ihrer Kinder zu tun. Wir interpretieren diese Befunde im Lichte der Rolle des Vaters als Unterstützer der psychischen Sicherheit des Kindes vor allem bei seinen spielerischen Explorationen. Durch die Feinfühligkeit und das vorsichtige Herausfordern während des gemeinsamen Spiels fördern Väter die Autonomie ihrer Kinder innerhalb von Beziehungen. Beide zusammen, Vater und Mutter, legen also erst die Grundlagen für psychische Sicherheit und ergänzen einander komplementär, was sowohl für den Bereich sicherer Bindung als auch für den Bereich sicherer Exploration innerhalb von affektiven Beziehungen zu tragen kommt. Sie wirken sich auch auf die Konzentration beim kindlichen Spiel aus.
Bindungssicherheit, Bindungsunsicherheit und psychische Einschränkung
Die traditionelle Bindungstheorie betont zwei Grundprinzipien für eingeschränktes Leben: Die Erfahrungen des Säuglings im Zusammenhang mit seinen Bindungsbedürfnissen und, ab etwa 3 Jahren, mit Beginn der ziel-korrigierten Partnerschaft, der kohärente, diskursive Umgang mit Bindungserfahrungen. Wir fügen dem die psychische Sicherheit bei der spielerischen Exploration hinzu. Sicher gebundene Kleinkinder explorieren konzentriert und vergewissern sich der Unterstützung bei Überforderung und Unsicherheit. Bei aktiviertem Bindungssystem teilen sie ihr Leid offen mit und nutzen alle Facetten ihrer Bindungsperson, um Trost zu finden und aus dieser Sicherheit heraus wieder „weltoffen“ zu sein. Unsicher-vermeidende Kinder haben keinen Zugang zur Bindungsperson als sichere Basis und leiden unter dem ausbleibenden Trost und unsicher-ambivalente Kinder bleiben in ihrer Überwachsamkeit verstrickt. Desorganisierte Kinder finden überhaupt keine Strategie zwischen Sicherheit durch tröstende Nähe und Sicherheit des explorierend-spielerischen Erkundens.
Daraus entwickeln sich entweder weite, offene oder eher enge, geschlossene Handlungspläne. Sie organisieren das Verhalten auf Ziele hin, die anfänglich oft mit Bindungspersonen zusammenhängen und deshalb mit ihnen emotional eng verbunden sind. Emotionen, Motive und Denken spielen dabei für den Erwachsenen mit sicheren internalen Arbeitsmodellen zusammen. In sicheren Bindungsbeziehungen wendet man sich bei psychischer Verunsicherung an sicherheitsgebende Partner, die man für sich gewonnen hat oder die man für sich gewinnen kann. Pläne und Absichten der Partner sind dabei mit den eigenen in Einklang zu bringen durch ziel-„korrigiertes“ Verhalten. Dies geschieht durch kohärente und offene Kommunikation, wobei Gefühle den jeweiligen Stand der Transaktionen anzeigen. „Schlechte“ Gefühle zeigen eher fehlende, „gute“ dagegen gelingende oder gelungene Übereinstimmung an. Der eigene Zugang zu diesen Gefühlen und Empathie mit den Gefühlen und Absichten des Partners sind folglich Grundlage einer zielkorrigierten Partnerschaft.
Unsichere Bindungsmuster schränken demgegenüber den Spielraum der adaptiven Entwicklung einer angemessenen Organisation der Gefühle mehr oder weniger stark ein. Sie beeinträchtigen den psychologisch adaptiven Umgang mit kritischen Situationen vor allem unter Belastung. Helfende und unterstützende Personen werden entweder vermieden oder die Konzentration auf die zu lösende Aufgabe wird abgebrochen, um der damit verbundenen Angst zu entfliehen, oder man bleibt gänzlich ohne Handlungsstrategie, weil sie durch Gedankenflucht und Augenblicke geistiger Abwesenheit wie in Tagträumen zunichte gemacht wird.
Klare und kohärente sprachliche Darstellungen (Narrativa) bzw. sichere Bindungsrepräsentationen können, so zeigen Bindungsinterviews mit Erwachsenen, auch von Personen entwickelt werden, die sich an unglückliche Kindheiten erinnern. Die Bindungsrepräsentation dieser Gruppe von Erwachsenen wird von Main als „erworbene Sicherheit“ (earned secure) klassifiziert. Solche Personen berichten häufig überzeugend von mindestens einer anderen Person, oft Lehrer, die in der Vergangenheit für sie die Rolle einer feinfühligen Bindungsperson übernommen hat und durch die sie Verständnis und Unterstützung erfahren haben. Dies könnte der größte Nutzen bindungstheoretischen Wissens im erzieherischen Bereich werden.
Der Beitrag ist die schriftliche Grundlage des Vortrags von Klaus E. Grossmann anlässlich der Jahrestagung der Deutschen Liga für das Kind „Beziehung und Erziehung in der frühen Kindheit“ am 2./3.11.2001 in der Berliner Charité. Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.
Prof. Dr. Klaus E. Grossmann ist Psychologe und Hochschullehrer am Psychologischen Institut der Universität Regensburg.
Dr. Karin Grossmann ist Psychologin und freie Wissenschaftlerin am Psychologischen Institut der Universität Regensburg.
Sorry, the comment form is closed at this time.