28 Aug fK 4/00 Meier
Familiale Lebenswelten im Ost-West-Vergleich
von Uta Meier
Familie ist „in“, allen pessimistischen Prognosen über die Zukunft der Familie zum Trotz. Eine erfüllte Partnerschaft mit Kind(ern) nimmt im Wertekanon und in den Lebensentwürfen von ost- und westdeutschen Frauen und Männern auch zehn Jahre nach der Wiedervereinigung einen vorderen Rangplatz ein. Im Osten sind freilich neue Optionen wie Reisen oder Freizeitinteressen hinzugekommen.
Während im Jahre 1980 in Westdeutschland lediglich 68% der befragten Probanden und Probandinnen Familie in ihrem Leben für „sehr wichtig“ hielten, sind es heute immerhin 80%. Weitere 12% messen ihr immerhin einen wichtigen Bedeutungsgehalt zu.
Globalisierungs- und Individualisierungstendenzen, die den Menschen eine wachsende Flexibilität und Mobilität abverlangen, haben den Stellenwert der Familie in den Wertepräferenzen offensichtlich nicht nennenswert geschmälert. Ein Auslaufmodell ist sie am Wertehimmel der Deutschen wahrlich nicht. Vielmehr spricht einiges für die Annahme, dass gerade in unserer turbulenten Zeit mit ihren neuen Unübersichtlichkeiten, dem Zwang zu ständiger Umorientierung und wachsender Entscheidungsnotwendigkeit in unterschiedlichsten Handlungsfeldern die familialen Lebenswelten als Orte von Verlässlichkeit, Vertrauen und Fürsorge sogar noch bedeutungsvoller werden.
Können Familien diese hohen Erwartungen und Hoffnungen auf Zuwendung, auf Glück und Geborgenheit einlösen? Können sie den vielfältigen Anforderungen, die an die einzelnen Familienmitglieder, z.B. in Schule und Arbeitswelt gestellt werden, gerecht werden? Antworten auf diese Fragen fallen unterschiedlich aus. Für die vielfältigen Problemlösungskapazitäten der Familie und für die Stabilität im intergenerationellen Zusammenhalt sprechen zumindest folgende Fakten:
- 86% aller Kinder unter 18 Jahren leben mit beiden leiblichen Eltern zusammen. 90 von 100 Elternpaaren sind verheiratet, 10 leben in nicht ehelichen Lebensgemeinschaften.
- Mehr als vier Fünftel der sechs- bis neunjährigen Kinder haben zumindest einen Bruder oder eine Schwester, mit denen sie im Haushalt aufwachsen. Im Westen Deutschlands nahm die Zahl der Einzelkinder in den letzten Jahren sogar ab.
- Einschließlich der Mütter, Väter und Kinder, die zwar nicht mehr im gleichen Haushalt, wohl aber am gleichen Ort wohnen und regelmäßig Kontakt zueinander haben, leben mindestens 85% im engeren Familienverbund. Mehr als ein Viertel der 70- bis 85-jährigen Eltern lebt mit einem Kind unter einem Dach und 40% haben mindestens ein Kind in der Nachbarschaft wohnen.
- Kinder, insbesondere Söhne, verbleiben heute länger in der Herkunftsfamilie – ein Phänomen, was durchaus zutreffend mit dem Begriff „Hotel Mama“ umschrieben wird.
Steht also alles zum Besten mit dem Familienleben in Deutschland? Bei weitem nicht. Im Fünften Familienbericht „Familien und Familienpolitik im vereinten Deutschland – Zukunft des Humanvermögens“ hat eine hochkarätige Sachverständigenkommission der bundesdeutschen Wohlstandsgesellschaft im Ergebnis ihrer umfangreichen Recherchen und Anhörungen eine allgegenwärtige strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Leben mit Kindern attestiert. Gemeint ist damit die Gleichgültigkeit gegenüber dem Umstand, ob sich Menschen für das Leben mit Kindern entscheiden oder nicht. Diese Gleichgültigkeit läuft auf eine Privatisierung der Kinderbetreuung und -erziehung hinaus. Sie betrifft aber auch Reproduktionsarbeit für die erwerbsfähige Generation und schließlich die Pflege und Betreuung der alternden Familienmitglieder ein. Dass es sich bei diesen Aufgaben der Zuwendung, Erziehung und Pflege in Familienhaushalten sehr wohl um Arbeit handelt, wird in unserer Gesellschaft, die lediglich marktförmig vermittelte Erwerbsarbeit als Arbeit anerkennt, in der Regel nicht wahrgenommen. Bestenfalls wird diese vornehmlich von Frauen geleistete Arbeit als „Arbeit aus Liebe“ bezeichnet. Daraus ergibt sich die groteske Situation, dass eine gesellschaftliche Anerkennung und aktive Unterstützung der in der Familie geleisteten Alltagsarbeit weitgehend fehlt, obwohl alle Lebensbereiche von dieser Humanvermögensbildung und -erhaltung in sehr hohem Maße profitieren.
So galt es in der Bundesrepublik Deutschland lange Zeit als geradezu unschicklich, die Unterhaltsaufwendungen für Kinder und die vielfältigen Tätigkeiten der Alltagsversorgung, Pflege und Fürsorge gegenüber den Angehörigen unterschiedlicher Generationen zu thematisieren. Erst durch diverse Urteile des Bundesverfassungsgerichts seit Anfang der 1990er Jahre wurden die monetären Dimensionen der strukturellen Benachteiligung der Lebensformen mit Kindern im Vergleich zu solchen ohne Kinder ins Blickfeld der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit gerückt. Von höchst richterlicher Instanz musste der Gesetzgeber demnach erst nachdrücklich aufgefordert werden, die Familie als Unterhaltsgemeinschaft anzuerkennen und das Existenzminimum aller Familienmitglieder steuerlich frei zu stellen. Dass dies in den vergangenen Jahrzehnten nicht der Fall war, wertete das Bundesverfassungsgericht eindeutig als einen verfassungswidrigen Tatbestand, und es gibt viele Zeitgenossen, die hier sogar von unterlassener Hilfeleistung sprechen. In seinen Beschlüssen vom 10.11.1998 ging das Bundesverfassungsgericht sogar noch einen Schritt weiter, indem es dem Gesetzgeber aufgibt, nicht allein den Aufwand für Nahrung, Kleidung und Unterkunft von der Steuer abzuziehen, sondern auch die Kosten für die Betreuung und Erziehung der Kinder, und zwar unabhängig davon, ob sie von den Müttern (Vätern) selbst erbracht werden, oder ob eine außerhäusige Betreuungseinrichtung in Anspruch genommen wird. Solche monetären Betrachtungen berücksichtigen allerdings noch nicht, dass die Übernahme der in den familialen Lebensformen anfallenden vielfältigen und langjährigen Alltags- und Sorgearbeit, die derzeit vornehmlich von Frauen erbracht wird, ihren Zugang zu Einkommen, beruflichen Perspektiven und Alltagssicherung drastisch beschneidet. Das konnte durch hauswirtschaftlich gründlich abgesicherte Modellrechnungen wiederholt belegt werden.
Angesichts dieser Fakten ist es im Grunde geradezu erstaunlich, dass sich junge Frauen und Männer überhaupt noch für Kinder entscheiden. „Marktgerecht“ verhalten sie sich jedenfalls nicht. Entgegen der häufig anzutreffenden Unterstellung gegenüber der jungen Generation im Allgemeinen und den jungen Frauen im Besonderen, diese frönten lieber ihren egoistischen Interessen, ist die Entscheidung für Kinder alles andere als das: nämlich eine nahezu altruistische Lebensentscheidung, die eben gerade keinem ökonomischen Kalkül folgt.
Allerdings zeitigt die strukturelle Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Leben mit Kindern und den sie betreuenden Personen inzwischen ihre Wirkung. Auf der Hand liegende ökonomische Nachteile und der Zwang zu größtenteils längerfristigen Berufsunterbrechungen mit unsicheren Wiedereinstiegsperspektiven führen immer häufiger zu Lebensmustern ohne Kinder, selbst bei Ehepaaren. Betrachten wir die Verteilung der erwachsenen Bevölkerung auf verschiedene Lebensformen, so fällt zudem auf, dass in Ostdeutschland der Anteil der Verheirateten mit minderjährigen Kindern inzwischen nur knapp über 20% liegt. In den alten Bundesländern beträgt der entsprechende Anteil von Ehepaaren mit Kindern unter 18 Jahren 27%. Der Familiensektor schrumpft also in Deutschland insgesamt erheblich und wird auch nicht durch andere Lebensformen mit Kindern in nennenswertem Umfang kompensiert.
Die Bundesrepublik Deutschland weist inzwischen innerhalb der Europäischen Union – neben Spanien und Italien – die niedrigste Geburtenrate auf, obwohl sich junge Frauen und Männer zwischen 16 und 24 Jahren in der ganz überwiegenden Mehrheit ein Leben mit Kindern wünschen. Erst zu einem späteren Zeitpunkt, wenn ihnen vielfältige Schwierigkeiten und Barrieren bei der Realisierung von Lebensmodellen mit Kind und Beruf konkret vor Augen stehen, korrigieren sie ihren Lebensplan, reduzieren ihren Kinderwunsch oder verzichten ganz darauf. Je höher das Bildungs- und Qualifikationsniveau, umso häufiger finden solche Entscheidungen statt. Es ist davon auszugehen, dass vom Jahrgang der 1965 geborenen Frauen mehr als 30% in den alten Bundesländern und ca. 26% in den neuen Bundesländern kinderlos bleiben werden.
In Diskussionen um die Folgen drastisch rückläufiger Geburtenzahlen wird nach wie vor ernsthaft das Argument eingebracht, dieser Rückgang werde doch in einer Einwanderungsgesellschaft wie Deutschland durch die vergleichsweise vielen Kinder der Migrantinnen in etwa kompensiert. Einer empirischen Überprüfung hält diese verbreitete Annahme allerdings nicht statt. Im Sechsten Familienbericht der Bundesregierung, der demnächst erscheint, wird nachgewiesen, dass die Geburtenziffern der Migrantinnen zu jedem Beobachtungszeitraum zwischen 1975 und 1993 jeweils niedriger liegen als die der einheimischen Bevölkerung. Migration ist demnach allgemein mit einem Geburtenrückgang verbunden und kann als Anpassungsstrategie an das Einwanderungsland interpretiert werden. Wenn derzeit im Westen Deutschlands von einem gespaltenen „Fertilitätsverhalten“ gesprochen wird, so ist folgender Sachverhalt gemeint: Jüngere westdeutsche Paare entscheiden sich in steigendem Maße entweder generell gegen Kinder oder sie bekommen mindestens zwei Kinder. Demgegenüber ist das Leben mit Kindern im Osten zwar derzeit noch eine kulturelle „Selbstverständlichkeit“, allerdings mit deutlich abnehmender Tendenz. Die Lebensformen im Osten nähern sich demnach in der Kinderfrage sehr rasch den Lebensformen in den alten Bundesländern an.
Langzeitwirkungen von unterschiedlichen Kulturmustern und familienpolitischen Konzeptionen zwischen Ost und West lassen sich jedoch auch im zehnten Jahr der deutschen Einheit immer noch nachweisen. Im Westen verbleiben Kinder länger als in Ostdeutschland in der Herkunftsfamilie mit einem anschließenden Wechsel in einen Einpersonenhaushalt. Im Osten erfolgt die Familiengründung biografisch immer noch früher als in Westdeutschland, und es gibt nach wie vor einen höheren Anteil ostdeutscher Paare mit Kindern, die vor allem zu Beginn der Elternschaft unverheiratet zusammen leben. Außerdem fällt der immer noch höhere Anteil von allein erziehenden ostdeutschen Müttern auf.
Ost-West-Unterschiede zeigen sich schließlich im Ausmaß der Erwerbsbeteiligung von Müttern mit minderjährigen Kindern. Die Müttererwerbsquote in den Altbundesländern geht fast ausschließlich auf eine Zunahme von Teilzeitarbeit und von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen zurück. Westdeutsche Frauen sind, solange ihre Kinder noch nicht zur Schule gehen, heute genauso selten erwerbstätig wie Mütter Anfang der 70er Jahre. Im Osten dagegen fällt auch im zehnten Jahr der Wiedervereinigung die weiterhin ausgeprägte Erwerbsorientierung und -beteiligung verheirateter Mütter ins Auge. Die Erwerbsquote, also die Neigung, sich am Erwerbsleben zu beteiligen bzw. Anspruch auf einen Erwerbsarbeitsplatz zu erheben, lag 1998 bei den ostdeutschen verheirateten Müttern bei 92%, und damit 32 Prozentpunkte höher als die Erwerbsquote der westdeutschen Mütter. 71% der verheirateten Mütter in Ostdeutschland arbeiten im übrigen Vollzeit, wohingegen es im Westen lediglich 34% sind. Diese höhere Erwerbsbeteiligung, so weist eine neue Untersuchung nach, schützt ostdeutsche Familien insgesamt auch nachweislich vor Sozialhilfeabhängigkeit. So liegen die Sozialhilfequoten im Osten auf Grund der stärkeren Erwerbsbeteiligung von Frauen immer noch niedriger als im Westen.
Gleichwohl erfahren sämtliche Lebensformen mit Kindern eine deutliche Schlechterstellung gegenüber den Lebensformen ohne Kinder. Das steht im Widerspruch zur vermeintlichen Wahlfreiheit zwischen unterschiedlichen Lebensformen. In Öffentlichkeit und Politik wird das Nebeneinander von Ehe und klassischer Kernfamilie, von nicht ehelicher Lebensgemeinschaft, allein erziehenden Müttern und Vätern, Living apart together-Modellen, binationalen Lebensformen, Wohngemeinschaften, Singles oder gleichgeschlechtlichen Formen des Zusammenlebens bekanntlich oft als Signum von Freiheit und Optionsvielfalt im Sinne von „anything goes“ interpretiert. Es gibt demgegenüber eine vergleichsweise geringe Sensibilität und Bereitschaft, nach den Konsequenzen zu fragen, die das Zusammenleben in einer bestimmten Lebensform für die wirtschaftlichen und kulturellen Lebenschancen der betreffenden Individuen nach sich zieht. Im Allgemeinen wird jedenfalls völlig unterschätzt, dass nicht Individuen, sondern Haushalte bzw. Familien die grundlegenden Einheiten des Systems von sozialer Ungleichheit sind. Erst über die Einbindung der Individuen in den je spezifischen haushälterischen bzw. familialen Kontext werden ungleiche Chancen am Arbeitsmarkt letztlich zu faktischer Ungleichheit der Lebenschancen von Frauen und Männern, Müttern und Vätern, Eltern und Kindern.
Um die Ursachen für diese sozialen Ungleichheiten aufzuspüren, macht es durchaus Sinn, die Koexistenz von unterschiedlichen Lebensformen und Lebensverläufen als biografische Settings mit je unterschiedlichen Anteilen von gesellschaftlich notwendigen Arbeitsformen, nämlich Erwerbsarbeit, Eigenarbeit, Fürsorgearbeit und Gemeinwesenarbeit wahrzunehmen und zugleich nach den Rahmenbedingungen ihrer juristischen Gleichstellung zu fragen. Diejenigen, die sich am Arbeitsmarkt ohne familiale Verpflichtungen einbringen können, haben ungleich bessere Chancen als Lebensläufe mit hohen Anteilen von Fürsorgearbeit für andere. Das Ehegattensplitting begünstigt kinderlose Paare zusätzlich, und das Rentensystem forciert nach wie vor eine Umverteilung des materiellen Reichtums von kinderreichen Familien hin zu kinderlosen und kinderarmen Rentnern. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang an der Lebenssituation von Einelternteil-Familien mit ganz überwiegend weiblichem Haushaltsvorstand bzw. von jungen Familienhaushalten in Ostdeutschland. Sie haben sich noch unter spezifischen Bedingungen und Konstellationen der DDR-Gesellschaft für die staatlich subventionierte Form des Zusammenlebens mit Kindern entschieden. Nach der deutschen Vereinigung sind sie durch das Ineinandergreifen von prekärer Arbeitsmarktsituation, Erhöhung der Kinderkosten und zurückgefahrener staatlicher Alimentierung in deutlich benachteiligte Lebenslagen geraten.
Der Mythos von einer Wahlfreiheit betrifft auch die verschiedenen Muster der Lebensführung entlang des Biografieverlaufs, wie sie heute von Frauen gelebt werden. Beispiele für die blumigen Darstellungen von selbstbestimmten weiblichen Patchworkbiografien als Ausdruck ihrer ausgeprägten Experimentierfreudigkeit oder einer selbstbestimmten Aussteigerinnenmentalität sind durchaus zahlreich. Beschäftigen wir uns allerdings seriös mit dieser Annahme, so kommen wir zu dem Schluss, dass die maßgeblichen gesellschaftlichen Institutionen der bundesrepublikanischen Leistungsgesellschaft derzeit keineswegs angemessen verfasst sind, um diese Vielfalt zu unterstützen, da sie die Gleichwertigkeit verschiedener Lebensentwürfe strukturell eher verhindern als fördern. Rechtliche und sozialpolitische Institutionen privilegieren das Modell von ehelichen Partnerschaften ohne Kinder, mit doppelseitiger Berufstätigkeit und schließlich jene Individuen, die das männliche Normalarbeitsverhältnis einer ununterbrochenen Berufskarriere leben.
Alle anderen Lebensverläufe treffen auf strukturelle Barrieren der verschiedensten Art. Die Annahme der zunehmenden Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Lebensformen verschleiert diesen Tatbestand der strukturellen Diskriminierung, beispielsweise der Lebensform von ledigen oder geschiedenen Alleinerziehenden oder auch der nicht ehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern. Verheiratete Paare mit Kindern wiederum befinden sich zwar in einer vergleichsweise besseren Situation als Alleinerziehende, sie sind jedoch gegenüber den „Double income, no kids“ oder der Lebensform des Singlehaushalts in einer deutlich benachteiligten Position.
Außerdem werden die geltenden rechtlichen und sozialpolitischen Regelsysteme der zunehmenden Fragilität des industriegesellschaftlichen Normalarbeitsverhältnisses angesichts des tief greifenden Strukturwandels moderner Gesellschaften längst nicht mehr gerecht. Erst im Angesicht der inzwischen zunehmenden Fragilität männlicher Erwerbsbiografien gerät diese Ungleichbehandlung verschiedener Lebensformen allmählich in den Blick. Eine ernsthafte Beschäftigung mit diesem Thema führt uns vor Augen, dass wir Zeitzeug(inn)en des Zerfalls eines Grundprinzips der industriellen Moderne sind: des Prinzips der funktionalen Spezialisierung als Lebensberuf im Allgemeinen und des Spezialisierungsmodells der Kleinfamilie im Besonderen. Die hochgradige Spezialisierung der Kenntnisse des Einzelnen wurde zum typischen Charakteristikum moderner Arbeit. In der Industriegesellschaft personifiziert begegnet sie uns hier zu Lande als deutscher Facharbeiter am Fließband bei Volkswagen oder als Professor für Rasenforschung. Es handelt sich zugleich um die Spezies der abwesenden Väter.
Das Prinzip der hochgradigen Spezialisierung als Lebensberuf bedurfte des Pendants der Haus- und Fürsorgearbeit leistenden Ehefrau und Mutter. In der Bundesrepublik Deutschland war es vor allen Dingen in der 1960er und 1970er Jahren verbreitet. Der inzwischen eingetretene dramatische Strukturwandel unserer Gesellschaft hat in den darauffolgenden Jahrzehnten zu völlig neuen Bedingungen für individuelle Biografieverläufe geführt.
Die gesellschaftlichen Institutionen der Bundesrepublik haben darauf bisher kaum reagiert. Sie sind derzeit nicht geeignet, die Vielfalt von Lebensformen oder auch von unterschiedlichen Biografieverläufen zu moderieren und zu unterstützen. Strukturelle Barrieren, aber auch die vorherrschenden Erfolgsleitbilder in der einschlägigen Medienlandschaft werden jedenfalls keinen Wertewandel anstoßen, wie etwa die Vorstellung des Bahnchefs Hartmut Mehdorn deutlich werden lässt. Helene Mehdorn, die Frau des Managers widmet sich, wie zu erfahren ist, „hauptberuflich dem Warten. Sie wartet, bis ihr Mann nach Hause kommt. Wann das ungefähr sein könnte, verrät ihr ein Blick auf seinen Terminkalender, der online zu Hause auf ihrem Computer flimmert. Egal, wie früh er raus muss, macht sie ihm morgens das Frühstück, Vollkornbrot, Müsli, schwarzer Kaffee, dann jagt sie ihn auf den Hometrainer. Die Kinder hat sie praktisch allein großgezogen. Sie kauft seine komplette Garderobe, packt seine Koffer, wenn er in die weite Welt aufbricht. Und weil er nicht immer alles zurückbringt, was sie da rein tut, hat sie zu Hause diverse Vorratsstapel angelegt, einer davon besteht aus Rasierapparaten. Mit Sicherheit ist nur in Borneo noch kein Rasierapparat von Mehrdorn. Das ist das einzige Land auf der Welt, in dem er noch nicht war. Helene Mehdorn weiß, warum es kaum verheiratete Managerinnen gibt: Die haben keine Ehefrauen, Männer machen so was nicht mit“ (Stern, 39/ 1999).
Wenn also – trotz des tief greifenden gesellschaftlichen Strukturwandels – das Ideal des hochspezialisierten, berufsorientierten Mannes in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik weiter hoch gehalten wird, der heute in Frankfurt, morgen in L.A. und übermorgen in Tokio arbeitet, und das heißt in der Konsequenz, sämtliche Formen von Arbeit, die in und um Familie herum anfallen (Eigenarbeit, Beziehungsarbeit, Gemeinwesenarbeit), nicht übernehmen kann, so lange bleibt die postmoderne Gesellschaft absolut unglaubwürdig bei der Beantwortung der Fragen wie eigentlich Fürsorge und Familienarbeit künftig verlässlich organisiert werden sollen.
Was Not tut
Aus dieser Bestandsaufnahme ergibt sich ein erheblicher politischer Handlungsbedarf mit dem Ziel, perspektivisch eine gleichberechtigte Koexistenz von unterschiedlichen Lebensthemen und Lebenswegen zu fördern, anstatt bestimmte Lebensmuster einseitig zu favorisieren. Diese politische Notwendigkeit bezieht sich keineswegs exklusiv auf die Lebensform der weiblichen Hälfte der Gesellschaft. Wir brauchen also eine vorausschauende Politikgestaltung, die es allen Gesellschaftsmitgliedern unabhängig von ihrem Geschlecht ermöglicht, sich sowohl in Ausbildung und Beruf als auch für Familie und gemeinnützige Arbeit zu engagieren, aber auch Zeit für Kommunikation und politische Belange zu haben. Erst dann werden auch die entsprechenden Voraussetzungen für eine lebendige und geglückte Elternschaft bestehen. Die von Frauen heute schon in sehr viel stärkerem Maße gelebten Patchworkbiografien sind in diesem Sinne als Zukunftsmodelle eines vielseitigen verantwortlichen Erwachsenendaseins zu werten, die allerdings zur gesellschaftlichen Norm erhoben und sozialpolitisch entsprechend unterstützt werden müssten.
Die Präsenz von Männern und Frauen in unterschiedlichen Lebensbereichen, ihre authentische Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen von gesellschaftlicher Arbeit an Stelle der herkömmlichen geschlechtlichen Arbeitsteilung wäre schließlich auch überaus geeignet, um Persönlichkeitseigenschaften wie Empathie, Kooperationsfähigkeit und Toleranz zu erlernen und den verschiedenen gesellschaftlichen Tätigkeiten – diesseits und jenseits des Erwerbssystems – eine entsprechende Wertschätzung entgegenzubringen. Dadurch ließe sich auch die grassierende Alltagsvergessenheit von männlichen Mandats- und Entscheidungsträgern zurückdrängen. Schließlich wäre das auch ein Weg, um Beziehungskonflikte und die vielfach beklagte Sprachlosigkeit zwischen den Geschlechtern zu überwinden.
Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Institutionen wären bei der Konkretisierung ihrer Vision einer zukunftsfähigen Arbeitsgesellschaft im übrigen schon um einiges weiter, wenn sie sich in ihrer Arbeitszeitpolitik eher an weiblichen als an männlichen Erwerbsbiografien orientiert hätten. Dann wäre ihnen aufgefallen, dass zu den Wechselfällen des Lebens eben nicht nur Krankheit und Arbeitslosigkeit gehören, sondern viel mehr noch Kinderwunsch, Familie und der Wechsel der Generationen. Diese Erfahrung würde die Bedeutung von Berufs- und Erwerbsarbeit im Lebenslauf in einem zukunftsfähigen und kreativen Sinne des Wortes relativieren.
Prof. Dr. Uta Meier ist Inhaberin des Lehrstuhls für Wirtschaftslehre des Privathaushalts und Familienwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen
Literatur:
Bertram; H. (1997): Eltern und Kinder: Erziehung für eine ungewisse Zukunft. In: Ständige Familienkonferenz, Perspektiven der Erziehung im gessellschaftlichen Wandel, Bonn.
Dorbritz/ Gärtner (1999): Berechnungen zur Kinderlosigkeit am Institut für Bevölkerungsforschung – methodische Probleme und Ergebnisse, in: BiB-Mitteilungen, 20, 1999/2.
Engstler, H. (1998): Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik (aktualisierte und erweiterte Neuauflage), Bonn.
Sozialer Fortschritt, 49, Juli 2000, 7.
Stern (1999), H. 39.
Weick, S. (1999): Steigende Bedeutung der Familie nicht nur in der Politik. In: Informationsdienst sozialer Indikatoren (ISI, Juli 1999, S. 12-15.
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