21 Sep fK 3/98 Urban
Qualitätsentwicklung als dialogischer Prozeß
Der Kronberger Kreis für Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen
von Mathias Urban
Wer in der Kindertageserziehung Qualität entwickeln will, begibt sich leicht aufs Glatteis. Schon der erste Blick – noch aus der Ferne – zeigt ein komplexes Gefüge, in dem unterschiedlichste Akteure auf unterschiedlichsten praxisrelevanten Handlungsebenen wirken: Kinder und Eltern, sozialpädagogische Fachkräfte, (Kosten-)Träger, Fachberatung, Aus- und Weiterbildung. Immerhin scheint es möglich, auf den jeweiligen Ebenen verbindliche Anforderungen an eine gute und beste Praxis zu benennen und den Stand der Dinge festzustellen. Es ist eine Frage der Items und Operationalisierungen; letztlich eine Frage des Fleißes der Qualitätsexperten und ihrer wissenschaftlichen Akribie. Bei genauerem Hinsehen allerdings – immer dann, wenn man beginnt, sich auf die Menschen und Situationen einzulassen, mit denen man es an den verschiedenen Praxisorten zu tun bekommt – offenbart sich eine Eigenheit des zu evaluierenden Feldes, die den Standardisierern das Leben schwer macht:
„Kein Kindergarten ist gleich. Keine Erzieherin ist wie eine andere. Und wie auch immer man es anstellen mag: Kein Tag in einer Kindertagesstätte läßt sich wiederholen. Überall finden wir Unterschiede: in den äußeren Bedingungen, […], im pädagogischen Programm und Prozeß, bei den Mitarbeiterinnen, Kindern und Eltern, in ihren Haltungen und Überzeugungen, ihren Wünschen und Interessen.“
Hier setzt das Konzept des Kronberger Kreises für qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen an. Wir fragen: Was sind die eigentümlichen Kennzeichen der Praxis, die wir zu verstehen, beschreiben und zu entwickeln versuchen? Dabei gehen wir von der Überzeugung aus, daß pädagogische Praxis sich nicht ohne weiteres mit anderen beruflichen Tätigkeiten vergleichen läßt. Sie ist keine Praxis der Produktion von Gütern oder der Erbringung von Dienstleistungen. Pädagogische Praxis ist von besonderer, nicht-instrumenteller Art. Pädagogische Praxis ist ein personales Geschehen. Menschen sind nämlich keine Maschinen. Sie kann man nicht einfach einstellen oder nach Plan bearbeiten. Pädagogische Fachkräfte sind daher keine Erziehungstechniker oder -ingenieure. Sie wirken vielmehr in einem kommunikativen Feld, handeln und verhalten sich, sprechen und empfinden im komplexen Beziehungsgeschehen einer Mehrpersonengruppe, die sich selbst strukturiert, die Muster ausbildet und sich gleichzeitig mit eigentümlicher Dynamik verändert, beobachtet und bewertet, einzigartig und mit irreversibler Zeitstruktur. In humaner Praxis gibt es keine Wiederholungen. Das macht jeden Versuch einer Beeinflussung und Veränderung zu einem einzigartigen Vorgang, der zugleich widersprüchlich, komplex, unsicher, kurz „chaotisch“ und von Wert- und Interessenkonflikten gekennzeichnet ist. Erzieherische Praxis ist zudem nie einseitig, sondern hat immer ein Gegenüber, sie ist dialogisch. Humane Praxis macht man nicht allein. Empfänger pädagogischer Leistungen und Hilfen leisten immer auch selbst etwas, arbeiten selbst, sind Empfänger und Geber zugleich. In einem solchen Feld professionell zu handeln, heißt Beziehungen spontan und mit Überlegung zu gestalten, eher wie ein Künstler szenisch hervorzubringen, verstehend und handelnd zugleich – nicht in der Weise, daß Regeln oder Wissen bloß angewandt, sondern interkommunikativ erzeugt und experimentell überprüft werden. Es ist ein Überlegen im Handlungsvollzug – reflection-in-action – wie es der amerikanische Praxistheoretiker Donald Schön genannt hat.
Die Ziele erzieherischer Praxis sind in einer demokratischen Gesellschaft nicht weniger komplex: Autonomie und Sozialität, Individuierung und Gemeinschaftlichkeit, Selbst- und Kontextveränderung zur Bedürfnisbefriedigung wie zur Kompetenzerweiterung, Förderung der Freiheit und der Bürgerrechte wie des Gemeinsinns und der solidarischen Verpflichtung. Engagement für den gerechten Ausgleich und für die humane Zusammenarbeit anstelle gegenseitiger Vernichtung und Exklusion. Auch diese Ziele sind nicht einfach vorgegebene Tatsachen. Sie müssen immer wieder neu reflexiv erzeugt und ausgehandelt werden. Über sie muß stets neu entschieden werden; sie müssen stets inhaltlich neu gefaßt werden.
Insgesamt stellt sich die Frage: Wie kann man in einer solchen Konstellation vernünftig, kreativ und konkret handeln? Das ist letztlich die Frage der Qualität.
Auch die Qualitätsentwicklung ist letztlich eine Praxis. Was für das zu untersuchende Feld gilt, trifft auch auf die Qualitätsentwicklung zu: Sie ist einzigartig, multikomplex, widersprüchlich, von Wert- und Interessenkonflikten bestimmt. Sie kann nur erfolgreich sein – d.h. die fachliche Praxis in der jeweiligen Kindertageseinrichtung nachhaltig entwickeln und verbessern – wenn es gelingt, sich auf die je besonderen Bedingungen einzulassen, Kontakt aufzunehmen, eine Beziehung herzustellen. Ihre Chance liegt dann in der Öffnung der Wahrnehmung aller Beteiligten – insbesondere der Fachkräfte. Uns geht es nicht um das bloße Bewerten und Messen. Fremdevaluationen werden häufig als bedrohliches Damoklesschwert empfunden – vor allem dann, wenn nicht geklärt ist, was mit den produzierten Daten und Ergebnissen weiter geschehen soll. Erzieherinnen argwöhnen (aus leidvoller Erfahrung), hinter der Frage nach der Qualität verberge sich lediglich das Interesse der Kostenträger an Einsparungen, beim Personal, im Budget usw. Das ist kontraproduktiv. Denn unter solchen Voraussetzungen entstehen möglicherweise Daten, aber kaum konstruktive Veränderungsprozesse. Immer entstehen (als viel zu wenig wahrgenommenes Nebenprodukt) Ängste und unkontrollierbare Abwehrreaktionen.
Dialogische Qualitätsentwicklung gibt den reinen Außenstandpunkt auf, läßt die Fachkräfte in den Einrichtungen aber nicht mit der Überforderung einer ausschließlichen Selbstevaluation allein. Sie setzt vielmehr auf Gegenseitigkeit, auf die Triangulierung von Selbstbeobachtung, Beobachtung des Gegenüber mit einem gemeinsamen Dritten. Sie ist daher notwendigerweise ein gemeinsames Vorhaben aller Beteiligten in dem es keine Einbahnstraßen gibt: Alle beobachten alle. Dies geschieht in einem vereinbarten Rahmen, in den die Praxis in all ihren Aspekten gemeinsam untersucht und erforscht wird. Es geht um die strukturelle Ermöglichung des Nachdenkens im Handlungsvollzug – reflection-in-action. Wir beginnen stets mit der Klärung der Interessen, Bedenken und Motivationen der Beteiligten, ihrer Einstellung zur Qualitätsentwicklung. Wir untersuchen dann die Qualitäten, Stärken, Besonderheiten der jeweiligen Einrichtung: Was ist „Spitze“ und wo liegen die Ursachen des Erfolgs? Wir untersuchen systematisch, Schritt für Schritt die Praxis und nutzen dazu die Möglichkeit, Qualität in unterschiedlichen Dimensionen zu konstruieren, machen Vorschläge für bestimmte Wahrnehmungsperspektiven und öffnen so gewissermaßen eine Reihe konzeptueller „Fenster“ (Frames). Dazu nutzen wir im wesentlichen 8 Qualitätsdimensionen, die im Konzept der dialogischen Qualitätsentwicklung ausführlich entwickelt werden:
- die qualitativen Grundorientierungen (GO)
- die Programm- und Prozeßqualität (PPQ)
- die Leitungsqualität (LQ)
- die Personalqualität (PQ)
- die Einrichtungs- und Raumqualität (E+RQ)
- die Trägerqualität (TQ)
- die Kosten-Nutzen-Qualität (KNQ)
- die Förderung von Qualität (FQ)
Alle diese Dimensionen von Qualität erschließen sich in 3 Schritten:
1. der Erörterung (und möglicherweise Veränderung) des vorgeschlagenen Qualitätsstandards. D.h. die gemeinsame Formulierung dessen, was für eine bestimmte Dimension die beste Fachpraxis darstellt.
2. der Untersuchung der eigenen Praxis anhand der erkenntnisleitenden Fragen und damit
3. der Konkretisierung der qualitätsrelevanten Merkmale für die jeweilige Dimension.
Das Verfahren zielt auf die Initiierung eines nachhaltigen Prozesses, in dessen Verlauf die Fachkräfte der beteiligten Kindertageseinrichtungen selbst die Verantwortung für die Überprüfung und Entwicklung der Qualität ihrer Einrichtung übernehmen. Dies tun sie in gemeinsamer Verantwortung mit den Personen und Institutionen, deren Arbeit in besonderer Weise die Qualität der jeweiligen Kindertageseinrichtung beeinflußt: VertreterInnen des Trägers und der Fachberatung. Ausgehend von dieser Prämisse kann die Unterstützung und Ermutigung von Entwicklungsprozessen nur erfolgreich sein, wenn die folgenden zwei Voraussetzungen gegeben sind:
1. muß der Prozeß der Qualitätsentwicklung zu jeder Zeit verantwortlich von den beteiligten Fachkräften gesteuert werden können. Jeder Versuch, Veränderungen aufzudrängen – evtl. aus der besten Überzeugung, die Prozesse kämen aus eigenem Antrieb der Fachkräfte nicht zustande – ist letztlich kontrapoduktiv. Es entstehen unkontrollierbare Widerstände, die Autonomie der Fachkräfte wird nicht gefördert, ohnehin knappe Ressourcen werden nicht optimal eingesetzt, schlimmstenfalls verschleudert.
2. muß der Prozeß der Qualitätsentwicklung zwar von den Fachkräften der jeweiligen Einrichtung kontrolliert werden, er muß aber gleichzeitig den weiteren Kontext der Einrichtung miteinbeziehen. Nicht allein durch „Kundenbefragungen“ sondern durch verantwortlichen und verpflichtenden Einbezug von Fachberatung und Träger. Eine Kindertageseinrichtung kann letztlich nur dann nachhaltig besser werden, wenn die umgebenden Stütz- und Begleitsysteme sich ebenfalls entwickeln.
Wir verstehen dialogische Qualitätsentwicklung im wesentlichen als Beitrag zur Entwicklung der Fachlichkeit im Bereich der Kindertageserziehung. Qualitätsentwicklung (im hier beschriebenen Sinne der begleiteten Reflexion der eigenen Praxis) ist unmittelbarer Bestandteil der Professionalisierung in diesem Arbeitsfeld. Combe und Helsper sprechen in der Einleitung ihres Bandes zur Pädagogischen Professionalität vom pädagogischen Handeln als einem antwortenden, aber planmäßig nicht zu strukturierenden Geschehen. Daraus entwickeln sie die Forderung nach sozialen Räumen für Dispute über den Eigensinn der Arbeit und nach ständiger Auseinandersetzung über ihre Bedingungen, Handlungsgrundlagen und Handlungsmöglichkeiten. Professionalisierung geschieht im Kontext permanenter Selbstthematisierung und ständiger Prozeßreflexion! Dies zu fordern und zu fördern, schlagen wir vor.
Dr. Mathias Urban ist Diplom-Pädagoge und Geschäftsführer des Kronberger Kreises für Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen.
Literatur:
Reinhart Wolff: Qualitätssicherung als Entwicklung und Förderung der Fachkräfte. Vortrag auf der Fachtagung der Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder e.V. in Münster, 29. April 1998
Schön, Donald A.: The Reflective Practitioner. How Professionals Think in Action. Basic Books: New York 1983
Kronberger Kreis für Qualitätsentwicklung in Kindertageseinrichtungen: Qualität im Dialog entwickeln. Wie Kindertageseinrichtungen besser werden. Seelze / Velber 1998
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