18 Jun fK 3/11 Kinderrechte aktuell
Jetzt erst Recht(e) für Flüchtlingskinder
Flüchtlingskinder in Deutschland
Politischer und gesellschaftlicher Handlungsbedarf nach Rücknahme der Vorbehalte zur UN-Kinderrechtskonvention
In Deutschland haben Kinder ohne deutschen Pass, insbesondere wenn sie keinen Aufenthaltstitel besitzen, häufig Schwierigkeiten, ihre Rechte aus der UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) in Anspruch zu nehmen, obwohl die dort verbrieften Rechte nach der Rücknahme der Vorbehalte ausnahmslos für alle Kinder gelten. Besonders betroffen sind rund 16.000 Kinder, die auf ihre Entscheidung im Asylverfahren warten. Daneben gibt es nach Schätzungen von Fachkreisen 3.000 bis 6.000 Kinder, die ohne Eltern als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Deutschland leben und die zum Teil ebenfalls keinen festen Aufenthaltsstatus haben. Unter einem unsicheren Status und damit einhergehend unter besonderen Einschränkungen leiden auch etwa 24.000 Minderjährige, die lediglich „geduldet“ sind und Minderjährige ohne legalen Aufenthaltsstatus, zu deren Anzahl es keine fundierten Schätzungen gibt.
Viele Flüchtlingskinder leben hier, weil in ihren Ländern Diktaturen, Bürgerkrieg und Terror herrschen oder sie aus politischen, ethnischen oder religiösen oder geschlechtsspezifischen Gründen verfolgt wurden. Sie sind Opfer von Kinderhandel oder Zwangsprostitution geworden oder wurden als Kindersoldatinnen und -soldaten ausgebeutet. Mit der Ratifizierung der UN-KRK im Jahre 1992 ist die Bundesrepublik gemäß Artikel 22 des Abkommens u. a. die Verpflichtung eingegangen, geeignete Maßnahmen zu treffen, „um sicherzustellen, dass ein Kind, das die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt (…), angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält, die in diesem Übereinkommen oder in anderen internationalen Übereinkünften über Menschenrechte oder über humanitäre Fragen (…) festgelegt sind.“
Die Bundesrepublik Deutschland hat am 15. Juli 2010 gegenüber den Vereinten Nationen die Erklärung zurückgenommen, die sie bei der Ratifizierung abgegeben hatte. Die UN-KRK gilt somit spätestens seit diesem Zeitpunkt ohne Vorbehalt für alle in Deutschland lebenden Kinder. (…) Dennoch sind Asyl suchende und geduldete Kinder weiterhin in etlichen Bereichen benachteiligt. Bei ausländischen Kindern ohne legalen Aufenthaltsstatus ist der Zugang selbst zu grundlegenden Rechten häufig nicht gewährleistet. Die Bundesregierung erkennt nach der Rücknahme der Vorbehalte für sich keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf für die Verwirklichung von Kinderrechten. Im Gegensatz dazu sehen die unterzeichnenden Organisationen gerade vor dem Hintergrund der Rücknahme der Erklärung zur UN-KRK die Notwendigkeit von gesetzlichen Veränderungen auf Bundes- und Landesebene, aber auch im Verwaltungshandeln der zuständigen Behörden sowie der Gestaltung der Lebensbedingungen von jungen Flüchtlingen.
Die im Folgenden aufgeführten Problembereiche sind nicht als abschließende Auflistung zu verstehen. Vielmehr geht es darum, wesentliche Aspekte deutlich zu machen, die in einem überschaubaren Zeitraum zu einer nachhaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen dieser Kinder und Jugendlichen führen könnten.
Einheit der Familie sichern
Jedes Kind hat das Recht, nach Möglichkeit in seiner Familie zu leben. Das Aufenthaltsrecht knüpft Familienzusammenführung aber je nach Status an Voraussetzungen, wie die Sicherung des Lebensunterhalts aus eigenen Mitteln. Insbesondere Eltern und Kinder mit einem Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen sind besonders schutzbedürftig und erfahren die Familie in der Regel als stabilisierenden Faktor. Daher sollten sie einen Rechtsanspruch auf Familiennachzug erhalten, der davon unabhängig ist, ob die bereits in Deutschland lebenden Familienmitglieder über genügend Wohnraum verfügen und ihren Lebensunterhalt unabhängig von Sozialleistungen bestreiten. (…)
Inobhutnahme von unbegleiteten Minderjährigen standardisieren und verbessern Kinder, die allein nach Deutschland einreisen, brauchen sofortigen Schutz und kindgerechte Unterstützung. § 42 SGB VIII gewährt allen unbegleiteten Minderjährigen den Schutz der Jugendhilfe durch die Inobhutnahme. Dies muss in der Praxis ohne Ausnahme umgesetzt werden. Im Asylverfahrensgesetz sollte eindeutig geregelt werden, dass unbegleitete Minderjährige nicht verpflichtet sind, in einer Erstaufnahmeeinrichtung zu leben und eine Umverteilung in andere Bundesländer nur zum Wohle der Minderjährigen stattfindet. Die Rechtslage muss eindeutig sein und darf einer unverzüglichen Inobhutnahme nicht entgegenstehen. Es sollte sichergestellt sein, dass bundesweit Clearinghäuser mit ausreichenden Kapazitäten zur Verfügung stehen, in denen ein qualifiziertes Aufnahmeverfahren (so genanntes Clearingverfahren) stattfinden kann. (…)
Asylverfahren zum Wohl des Kindes gestalten
Die Vorbereitung auf ein Asylverfahren erfordert eine Beratung der Minderjährigen durch eine kultursensibel und geschlechterreflektiert qualifizierte Person ihres Vertrauens, vorzugsweise den Vormund oder eine Betreuungsperson aus dem Clearinghaus. Außerdem sollte bei Bedarf eine rechtliche Beratung durch Fachleute erfolgen. Die Bestellung eines Rechtsbeistands ergänzend zum Vormund zur Durchführung des Asylverfahrens muss möglich sein und ist individuell zu prüfen. Bis zur Klärung des weiteren Vorgehens sollte der Aufenthalt der Minderjährigen in Deutschland erlaubt werden. (…) Die geltende asyl- und aufenthaltsrechtliche Verfahrensfähigkeit ab dem 16. Geburtstag ist aufzuheben. Erfahrungen aus der täglichen Arbeit mit jugendlichen Flüchtlingen zeigen, dass sie ohne Beistand im Asylverfahren überfordert sind. Nach der UN-KRK steht ihnen spezifische Unterstützung bis zum 18. Lebensjahr zu. Dies gilt auch für das Asylverfahren. (…)
Zugang zu Schule und Ausbildung sicherstellen
Jedes Kind hat ein Recht auf Bildung und Ausbildung – ganz gleich, wo es lebt und welchen Aufenthaltsstatus es hat. Dies wird am besten durch eine umfassende Schulpflicht sichergestellt. Kindertagesstätten, Schulen, Sprachlerneinrichtungen und Vorbereitungskurse müssen für Kinder auch tatsächlich zugänglich sein, d. h. sie müssen örtlich erreichbar sein und die Ausstattung mit den dementsprechenden Ressourcen für Transportmittel und Lehrmittel muss erfolgen. (…)
Meldepflicht für Kinder ohne Aufenthaltsstatus abschaffen
Die Angst vor Abschiebung und Abschiebungshaft treibt manche Familien in die Illegalität, um dem Zugriff der Behörden zuvorzukommen. Dies verhindert in vielen Fällen, dass betroffene Kinder Bildungsangebote und Angebote gesundheitlicher Versorgung nutzen oder dass sich Kinder an Hilfseinrichtungen wenden können, die ihnen Schutz vor aktuellen Gewaltsituationen in ihrem nahen Umkreis bieten könnten. Die Beschäftigten öffentlicher Stellen wie Jugendämter und Schulen, aber auch von Kindertagesstätten in öffentlicher Trägerschaft und im Gesundheitssystem sind verpflichtet, Ausländerbehörden über „sich illegal aufhaltende“ Ausländer zu informieren. Um die Rechte aus der UN-KRK wahrnehmen zu können, ist es erforderlich, dass öffentliche Stellen, insbesondere Schulen, Kindertagesstätten und das Gesundheitssystem von dieser Meldepflicht entbunden werden. (…)
Volle Sozialleistungen gewähren
Asylsuchende, Geduldete und Personen mit bestimmten humanitären Aufenthaltserlaubnissen erhalten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG). Danach liegen die Regelleistungen mehr als ein Drittel unter den entsprechenden Hartz-IV-Sätzen. Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Ermittlung der Hartz-IV-Sätze müssen auch die Sozialleistungen für Asylsuchende und Flüchtlinge neu geregelt werden, da diese ebenfalls nicht transparent und nachvollziehbar berechnet wurden und selbst nach Einschätzung der Bundesregierung gegen das Grundgesetz verstoßen. (…)
Kinder nicht in „Lagern“ unterbringen
Kinder gehören nicht in Gemeinschaftsunterkünfte. Die Wohn- und Lebenssituation in Sammelunterkünften birgt insbesondere für Kinder krankmachende Faktoren, die zu chronischen Krankheiten und psychischen Dauerschäden führen können. Selbst geprägt von Fluchterlebnissen und traumatischen Erfahrungen bleiben sie häufig ohne angemessene Betreuung. Die Struktur und Organisation der Unterkünfte, die beengten Wohnverhältnisse, das Fehlen von Rückzugsmöglichkeiten und Privatsphäre, der Mangel an Anregung, der oft schlechte psychische Zustand der Eltern, die schlechten hygienischen Zustände und ständige Unruhe führen dazu, dass Kinder ihre elementaren Bedürfnisse nicht ausleben dürfen. (…)
Abschiebungshaft für Kinder abschaffen
Noch immer geraten Kinder in Deutschland – mit oder ohne Familie – aufgrund von aufenthalts- und asylrechtlichen Bestimmungen in Abschiebungshaft. Gerade Kinder leiden besonders unter der Haftsituation. Nach oftmals dramatischen und traumatisierenden Fluchtumständen stellt die Haft eine weitere große psychische Belastung dar. Oft wissen die Kinder nicht, warum sie inhaftiert sind. Aus humanitären Gründen sind Minderjährige grundsätzlich nicht in Abschiebungshaft zu nehmen. (…)
Keine Rückführung ohne Kindeswohlprüfung
Bei Abschiebungen von Kindern bleibt das Kindeswohl in der Regel ungeprüft. (…) Ob Kinder Deutschland verlassen sollen, muss im Einzelfall nach internationalen Standards geprüft werden. Dabei muss das Kindeswohl entsprechend Artikel 3 UN-KRK vorrangig berücksichtigt werden. (…)
Vorrang des Kindeswohls gesetzlich verankern
Um die Bedeutung von Kinderrechten zu verdeutlichen und den Willen zur vollen Umsetzung der Rechte aus der UN-Kinderrechtskonvention zu verdeutlichen, ist die Aufnahme von Kinderechten ins Grundgesetz – aber auch im Aufenthalts- und Asylverfahrensgesetz – geboten. Die verfassungsmäßige Verankerung der Rechte von Kindern auf Schutz, Beteiligung, Förderung, Bildung und Nichtdiskriminierung sind wichtige Schritte, um das Kindeswohl zu sichern und diese Rechte gegenüber allen staatlichen Institutionen geltend zu machen. (…)
Dieses Positionspapier wurde u. a. von folgenden Organisationen unterzeichnet: Amnesty International, Bundesfachverband Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge, Deutscher Kinderschutzbund, Deutsches Kinderhilfswerk, Forum Menschenrechte, Kindernothilfe, National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention, PRO ASYL.
Der vollständige Text einschließlich einer Liste mit sämtlichen unterzeichnenden Organisationen ist abrufbar unter www.national-coalition.de.
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