fK 3/09 von Gosen

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Selbständig Spielen und Lernen im „SpielRaum für Bewegung“

von Andrea von Gosen

Dienstag morgen 10.00 Uhr: Seit etwa einer Viertelstunde sind die zehn Kinder einer Krippengruppe – alle mit leichten Hosen bekleidet und barfuss – im SpielRaum unterwegs. Heute haben sich fast alle Kinder bereits nach wenigen Minuten für eine Aktivität entschieden. Einige genießen die schnelle Bewegung, die hier möglich ist. Andere erproben sich im Klettern an den unterschiedlichen Bewegungsmaterialien. Manche Kinder interessieren sich eher für kleinteilige Materialien, die sie in den Regalen finden und ziehen sich damit auf die niedrigen Essbänkchen zurück. Ein Kind findet seine Aktivität im Beobachten der anderen.

Wir sind im „SpielRaum für Bewegung“, der regelmäßig von Erzieherinnen und Kindern unterschiedlichen Alters aus Tageseinrichtungen und von Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern besucht wird, um das Bewegungs- und Spielangebot, das Anregungen für die kindlichen Entwicklungsbedürfnisse im Sinne Emmi Piklers bietet, kennen zu lernen.

Marion (alle Namen geändert) ist zum zweiten Mal mit ihrer Kindergruppe bei mir und ich sehe, dass es ihr schwer fällt zu akzeptieren, dass die knapp zwei Jahre alte Mara von ihrem Schoß aus dem Tun der Kinder zuschaut. Ich setze mich zu den beiden auf den Boden, um Marion Gelegenheit zu geben, ihre Gefühle und ihre Handlungsimpulse auszusprechen. Ich ermutige sie, ruhig auszuprobieren, was sie sich vorgenommen hat und dabei zu beobachten, wie Mara darauf reagiert. Dabei erlebt sie, dass Mara zwar kurz auf das Spielangebot eingeht, doch anschließend nicht aus eigenem Impuls zu einer Aktivität findet. Marion wird deutlich, dass Maras vorrangiges Bedürfnis die körperliche Nähe zu ihrer erwachsenen Bezugsperson ist.

Ich habe immer wieder erlebt, dass es wichtig ist, Kinder nicht zu bestimmten Aktivitäten zu drängen. Sie brauchen Zeit, um selbst zu entscheiden, was sie spielen möchten, wenn sie dazu bereit sind. Wir können darauf vertrauen, dass der Impuls, spielen zu wollen vorhanden ist und zu Tage tritt, wenn sich das Kind sicher fühlt und emotional gesättigt ist.

Aus der Perspektive eines Zweijährigen ist der SpielRaum riesig. Im Vergleich zum durchschnittlichen Gruppenraum einer Kindertageseinrichtung ist hier richtig viel Platz. Die Kinder können sich frei bewegen und ihre Aktivitäten selbst wählen. Nach anfänglich vorsichtigem Erkunden tasten sie sich Schritt für Schritt vor, vergewissern sich dabei immer wieder der Anwesenheit ihrer vertrauten Erzieherin und nehmen schließlich den gesamten Raum in Besitz.

Jonas kriecht durch einen hölzernen Tunnel. Er tut dies wieder und wieder. Der Tunnel ist an den Seiten nicht geschlossen, mit Stäben versehen, „einsehbar“, aber oben und unten aus massivem Holz. Der Junge, 20 Monate alt, robbt vorwärts: mal verlässt er den Tunnel an einem Ende, mal klettert er durch eine Öffnung nach oben. Schließlich richtet er sich in der erhöhten Position auf und lässt seinen Blick schweifen. Er ist ganz ruhig – ruht er sich aus?

Lisa, 18 Monate alt, nähert sich der siebensprossigen Dreiecksleiter. Umsichtig, sich mit den Händen sichernd, erklimmt sie Sprosse für Sprosse, bis sie über die Leiter hinaussehen kann. Als sie den Rückweg antreten will, schaut sie sich Hilfe suchend um. Ich komme näher zu ihr und sage ihr, dass ich bei ihr bleibe, bis sie wieder unten am Boden angekommen ist. Sie scheint beruhigt zu sein und kann sich weiter auf das Absteigen konzentriert.

In unmittelbarer Nähe hat der zweijährige Tom herausgefunden, dass er auf der umgedrehten Holzkiste Töne erzeugen kann. Mit bloßen Füßen stampft er rhythmisch auf dem hölzernen Podest. Die dumpfen, an Trommelschläge erinnernden Geräusche gefallen ihm. Erneutes Stampfen, Lauschen und Lachen – ein Wechsel zwischen schneller Bewegung und Horchen auf die Töne, die er produziert. Seine Begeisterung wächst, als die gleichaltrige Lisa dazu kommt und in sein Tun einfällt. Gemeinsam freuen sich die Kinder über ihr lustvolles, selbst erfundenes Spiel.

Die Lautstärke dieser Aktivität scheint den zweieinhalbjährigen Hannes nicht zu stören. Mit ernstem Gesichtsausdruck ist er dabei, ein Tablett mit kleinen Tassen und einer Kanne aus Blech quer durch den Raum zu balancieren. Sein Ziel ist das Essbänkchen in der Ecke. Dort lässt er sich nieder und spielt „Eingießen und Trinken“. Anna bringt ihm zwei kleine Teller, darf mittun, erhält eingeschenkt und spielt nun ebenfalls „Trinken“.

Eric, 19 Monate alt, sammelt aus einer Kiste große Holzbausteine und stapelt sie auf einem fünf Schritte entfernten Tisch. Obwohl es ihn Mühe kostet, nimmt er immer zwei flache Quader mit einer Hand und trägt sie zum Tisch. Sein Turm hat bereits Augenhöhe erreicht. Doch er soll noch höher werden.

Kurz darauf haben sich alle fünf Jungen der Gruppe auf dem großen Fünf-Stangen-Gerät versammelt. Obwohl das Gerät mit einer Länge von 2,40 Metern genügend Platz bietet, drängen sich die Kinder an einem Ende. Dabei sind sie umsichtig, dass sie einander weder stören noch gefährden. Paul sitzt bereits auf der mittleren Sprosse und hält sich an der oberen fest. Gleichzeitig versucht er, sich mit beiden Füßen auf der untersten Sprosse zu sichern. Als ihm das gelingt, lehnt er sich so weit wie möglich nach hinten und lässt den Kopf rückwärts hängen. Nun kann er die Welt verkehrt herum betrachten. Die anderen wollen es ihm gleich tun, doch nur Eric gelingt es. Er genießt die Umkehrperspektive und wiederholt seinen Versuch mehrfach.

Die übrigen drei Jungen sind noch nicht groß genug, um die Distanz zwischen den Stangen überbrücken zu können. Nach einigen Versuchen geben sie auf. Weder Ärger noch Frustration sind bei ihnen zu spüren.

Herausforderungen ohne Gefahr
Was unterscheidet den „SpielRaum für Bewegung“ von einem normalen Bewegungsraum, wie er heute als Standardausstattung in fast jeder Kindertageseinrichtung zu finden ist? Die Ausstattung des 60 Quadratmeter großen Raumes, der für die jeweilige Gruppe vorbereitet wird, bietet genügend Herausforderungen, die von den Kindern ohne fremde Hilfe bewältigt werden können. Die stabilen Kriech-, Krabbel- und Kletterelemente aus dem Pikler-Sortiment regen die Kinder an, sich ihren Möglichkeiten entsprechend auszuprobieren. Ihre wiederholten Versuche tragen dazu bei, immer sicherer zu werden. Dabei entwickeln sie Umsicht und Selbstvertrauen, wenn sie niemand drängt oder sich in ihre Versuche einmischt.

Auf niedrigen Regalen in Augenhöhe der Kinder befinden sich einfache, für symbolisches Spiel geeignete Materialien:
– große, helle Plastikbecher, die sich leicht stapeln lassen, oder die zum „Eingießen und Trinken-Spielen“ einladen;
– Tücher verschiedener Größe und aus verschiedenen Stoffen, in Körben sortiert;
– einfache Stapelelemente: Ringe und andere hölzerne Teile;
– Bälle unterschiedlicher Größe;
– naturbelassene Holzbausteine mit Rinde, mit denen man Bauen kann oder die die Kinder gern einsammeln; – unterschiedliche Gefäße zum Einfüllen und Ausleeren kleinerer Spielmaterialien stehen bereit, die sich auch zum Sammeln und Bauen eignen und wieder andere, die sie später für die Anfänge des Rollenspiels benutzen;
– ein Tablett mit Tassen und Tellern im Miniformat;
– eine flache Kiste mit einer großen Anzahl quaderförmiger, flacher Bausteine.

Alles Spielmaterial ist schlicht, robust und für Kleinkinder gut zu greifen, überwiegend aus natürlichem Material, ohne versteckte Reize und in ihren Farben natürlich und klar. Sowohl die Geräte als auch das Spielmaterial können für Kinder unterschiedlichen Alters variiert oder ausgetauscht werden, damit der SpielRaum den unterschiedlichen Entwicklungsbedürfnissen angepasst werden kann. Der Raum ist so vorbereitet, dass die Kinder sofort und ohne Anleitung Erwachsener aktiv werden können.

Ein „Angebot“ in dem Sinne, dass Kinder zu einer bestimmten Aktivität, animiert oder motiviert werden, ist nicht nötig. Im Gegenteil: die Kinder gewinnen überhaupt erst Entscheidungsspielräume für spontane Aktivitäten, weil im SpielRaum keine Bewegungs- oder Rollenspielangebote gemacht werden. Deshalb bitte ich alle begleitenden Erwachsenen davon Abstand zu nehmen, in das Spiel der Kinder lenkend einzugreifen. Für diejenigen, die das aktive Anbieten von Spiel- und Handlungsmöglichkeiten als Kernelement ihres pädagogischen Handelns ansehen, ist das eine harte Geduldsprobe.

Durch das Beobachten wächst jedoch bei Erzieherinnen und Eltern das Gespür und das Verständnis und nach und nach auch das Vertrauen in die kindlichen Fähigkeiten. Wenn wir als Erwachsene die Kinder bei ihren Versuchen respektvoll begleiten, entwickeln diese Selbstvertrauen und innere Stärke.

Das freie Spiel ist ein wesentliches Element der Pikler-Pädagogik. Jedem Kind wird Zeit und Raum gegeben, entsprechend seinen individuellen Entwicklungsmöglichkeiten sich selbst und seine Umwelt kennen zu lernen. Der Erwachsene sorgt für eine entsprechend vorbereitete Umgebung, die sicher genug ist, damit das Kind seinen Interessen ohne große Gefährdung nachgehen kann, und die anregt, den nächsten Entwicklungsschritt tun zu können. Während das Kind im Zuge der Entwicklung motorischer Fähigkeiten lernt „…sich auf den Bauch zu drehen, zu rollen, zu kriechen, zu sitzen, zu stehen und zu gehen, lernt es nicht nur diese Bewegungen, sondern auch, wie man lernt. Es lernt, etwas selbständig zu tun, sich für etwas zu interessieren, etwas auszuprobieren, zu experimentieren. Es lernt Schwierigkeiten zu überwinden. Es lernt die Freude und die Befriedigung kennen, die es bei seinem Erfolg erfährt, dem Ergebnis seiner Geduld und Ausdauer“ (Emmi Pikler).

Die Einheit von symbolischem Spiel und Bewegung in selbst gesteuerten Lernprozessen
Bewegung ist die Grundlage jeglicher Intelligenzentwicklung. Das Neugeborene kommt mit einer einfachen Ausstattung an Bewegungsmustern auf die Welt, die zunächst von Reflexen gesteuert sind. Mit der Entwicklung seiner Sinne erarbeitet sich das Kind komplexere Bewegungsmöglichkeiten. Zielgerichtete Handlungen werden möglich. Durch Greifen und Heranziehen von Gegenständen und durch Bewegung im Raum erforschen Kleinkinder ihre Umwelt und bauen auf diese Weise ihr Verständnis der Wirklichkeit auf. In ständiger Forschertätigkeit – ihrem Spiel – vertiefen, erweitern und verfeinern sie ihr Bild von der Welt.

In der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres beginnen Kinder mit dem symbolischen Spiel – ein für das Begreifen komplexer Zusammenhänge genetisch verankertes Verhalten. Bewegungslust und Entdeckerfreude, der ständige Impuls, sowohl in der Bewegung als auch im Forschen die eigenen Grenzen zu erfahren und über sie hinauszugehen, können vom symbolischen Spiel zwar begrifflich-analytisch getrennt werden, jedoch nicht in der Realität. Hier gibt es Gleichzeitigkeit, fließende Übergänge oder häufigen, schnellen Wechsel zwischen Aktivitäten, bei denen die Bewegung im Vordergrund steht, und symbolischem Spiel. Selbst gesteuerte Lernprozesse sind nicht-linear. Sie sind diskontinuierlich und widersprechen dem Bild von didaktisch geordnetem und methodisch angeleitetem Lernen, das in der Schule kultiviert wird.

Selbst gesteuerte Lernprozesse von Kindern sind nicht planbar. Die von Erwachsenen übrigens auch nicht. Was die Organisatoren solcher Lernprozesse tun können und was im SpielRaum geschieht, das ist die Vorbereitung der Umgebung in einer Weise, die den kindlichen Entwicklungsbedürfnissen Raum bietet und sie befriedigt. „Intelligenz“, so Jean Piaget, „baut sich nur durch Aktivität auf, die einem echten Interesse entspringt.“ Dies gilt für jedes Lebensalter, gleichermaßen für Kinder und Erwachsene.

www.pikler-spielraum.de

Andrea von Gosen ist Diplom Pädagogin, Familientherapeutin und Leiterin des SpielRaums für Bewegung in Berlin.

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