24 Jul fK 3/06 Amsler
Religiose Erziehung mit Kopf, Herz und Hand in der Baha’i-Religion
„Betrachte den Menschen als ein Bergwerk, reich an Edelsteinen von unschatzbarem Wert“
von Peter Amsler
Bildung und Erziehung haben in der Baha’i-Religion einen sehr hohen Stellenwert. Die geistige Entwicklung des Einzelnen als auch der Fortschritt der Gesellschaft sind Schwerpunkte der weltweiten Gemeindeaktivitaten. In keinem anderen Bereich wird dies so deutlich wie in der Werteerziehung von Kindern und Jugendlichen, wie es beispielhaft an dem Angebot einer ortlichen Baha’i-Gemeinde in Wiesbaden deutlich wird.
Die Baha’i-Religion ist eine neuzeitliche Religionsstiftung. Sie entstand im Iran des 19. Jahrhunderts und hat zum Islam ein ahnliches Entstehungsverhaltnis wie das Christentum zum Judentum. Derzeit leben mehr als sechs Millionen Baha’i in uber 180 Landern der Erde. In Deutschland sind bereits seit 100 Jahren Baha’i ansassig, aufgrund ihrer kosmopolitischen Lehren wurden sie jedoch in Nazi-Deutschland verboten und blieben es in der DDR bis 1989. Noch heute werden sie in einigen islamisch gepragten Landern als Apostaten verfolgt.
Vor allem zwei Aspekte ihrer Glaubenslehre lasst die Baha’i-Religion gegenuber anderen religiosen Traditionen humanistisch-aufklarerisch erscheinen. Beide Aspekte beruhren unmittelbar das Verstandnis uber Kindererziehung und ihrer praktischen Durchfuhrung.
Zum einen glauben die Baha’i an eine fortschreitende Gottesoffenbarung. Demnach tut Gott der Menschheit im Laufe ihrer Entwicklung immer wieder neu seinen Willen kund. Dies geschieht durch die Offenbarungen einzelner Propheten – als „Menschheitslehrer“ und „Manifestationen Gottes“ – wie Abraham, Moses, Buddha, Christus, Mohammed oder in jungster Zeit durch Baha’u’llah, den Stifter der Baha’i-Religion. Dieser Prozess wird solange andauern, solange es eine Schopfung Gottes gibt. Alle Religionen entstammen mithin der gleichen gottlichen Quelle, um die Menschheit zu einer „standig fortschreitenden Kultur“ zu erziehen, wie es in den Schriften der Baha’i hei?t. Religiose Wahrheit ist zwar einerseits absolut, wenn sie die wesensma?ige Einheit der Religionen benennt. Andererseits ist sie jedoch relativ und muss aus ihrer Zeit heraus interpretiert werden.
Da nach Auffassung der Baha’i die Menschheit in diesem Prozess der fortschreitenden Gottesoffenbarung bereits einen gewissen Grad an kollektiver Reife erreicht hat, ist Nachahmung und Gefolgschaft in religiosen Angelegenheiten verboten. Vielmehr gilt das Prinzip der selbstandigen Suche nach Wahrheit, was religiose Institutionen wie das Priesteramt, Monchstum oder Gurus ausschlie?t. Die Gemeinde organisiert sich demgegenuber in demokratisch gewahlten Gremien.
Es versteht sich damit von selbst, dass Baha’i-Erziehung mit Indoktrination nichts gemein hat. Obgleich die vielfaltigen Unterrichtsaktivitaten der Gemeinde einen Wert auf die Prinzipien und grundlegenden Lehren der Baha’i-Religion legen, steht das Lernen zum eigenstandigen Denken, zum Reflektieren und zur Anwendung des Erlernten im eigenen Leben wie das der Gesellschaft im Vordergrund. Besonders in den fruhen Jahren der Kindheit richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Entwicklung geistiger Eigenschaften und auf solche Einstellungen, Angewohnheiten und Verhaltensweisen, durch die sich ein geistiger Mensch auszeichnet und die der Gesellschaft von Nutzen sind.
„Das Hochste Wesen spricht: Betrachte den Menschen als ein Bergwerk, reich an Edelsteinen von unschatzbarem Wert. Nur die Erziehung kann bewirken, dass es seine Schatze enthullt und die Menschheit daraus Nutzen zu ziehen vermag“ (Baha’u’llah).
Eine der grundlegenden Annahmen der Kindererziehung in der Baha’i-Religion ist die „edle Natur“ des Menschen. Allein durch die Annahme, dass jedes Kind „ein Bergwerk, reich an Edelsteinen von unschatzbaren Wert“ ist, gehen die Erziehenden weg von der derzeitigen, vielfach zu beobachtenden erzieherischen Praxis. Statt das Kind wie einen leeren Becher langsam mit Informationen, Werten und Einstellungen zu fullen, unterstutzen sie das Kind, seine ihm innewohnenden „Edelsteine“ zu fordern.
Hat das Kind also von Geburt an die Moglichkeit, seinen „geistigen Adel“ zu entfalten, so liegen in ihm auch von Anfang an individuelle Fahigkeiten. Wie aber die Kerze auch nicht von selbst angezundet werden kann, um Licht zu geben, so mussen auch die Erziehenden die Talente und Fahigkeiten eines jeden Kindes einfuhlsam suchen und fordern. Insbesondere die Einubung von Gewohnheiten und Verhaltensmustern, die der Gesellschaft von Nutzen sind, spielen dabei eine hervorgehobene Rolle. Gewohnheiten, die wir in der Kindheit erlernen, werden uns das ganze Leben lang Teil des alltaglichen Handelns sein. So ist es schon in den fruhen Jahren des Kindes Ziel der Erziehung, es darin zu unterstutzen, hilfreich zu sein, ehrlich, fair, freundlich, geduldig oder mutig. Vor allem die Aufgeschlossenheit gegenuber anderen religiosen Traditionen spielt eine Rolle, so dass nicht selten auch andere religiose Wahrheiten wertschatzend gelehrt werden. Die Klammer, die all diese und noch weitere erstrebenswerte Tugenden umgibt, ist fur die Baha’i-Erziehung jedoch die Erziehung zur Gottesfurcht. Bereits die Kinder sollen lernen, gemeinschaftsfordernde Tugenden aus Liebe zu Gott einzuhalten. Das Erlernen von kurzeren Gebeten, Sentenzen und Liedern ist dabei nur ein Instrument. „O Gott! Fuhre mich, beschutze mich, erleuchte die Lampe meines Herzens und mache mich zu einem strahlenden Stern. Du bist machtig und stark“ (Abdul-Baha).
Ausdrucklich hei?t es in den Baha’i-Schriften, dass Kindererziehung keine Angelegenheiten allein der Eltern ist, sondern die ganze Gemeinde betrifft. So grundeten bereits im Iran des 19. Jahrhunderts die ersten Baha’i allgemeinbildende Schulen fur Jungen und – als Novum der Zeit – auch fur Madchen nach modernen, fortschrittlichen Lehrplanen. Heute befassen sich die meisten selbstorganisierten Entwicklungsprojekte der Internationalen Baha’i-Gemeinde mit Bildungsfragen, verknupfen das Lernen jedoch mit praktischen Arbeiten, woraus die Teilnehmenden einen unmittelbaren Nutzen ziehen konnen. Seit Mitte der 1990er Jahre haben die Baha’i damit begonnen, die Bildungserfolge aus diesen Entwicklungsprojekten, die zunachst in Lateinamerika durchgefuhrt wurden, auch fur andere Gemeinden nutzbar zu machen. Das Tutorenprinzip, die unmittelbare Anwendung des Gelernten im Alltag oder der Fokus auch auf die geistige Dimension des Menschen sind einige Elemente, die mittlerweile in allen Baha’i-Gemeinden der Welt Anwendung finden. Daneben ist jede Unterrichtsstunde mit gleichen Aktivitaten verbunden, egal ob sie in Teheran, Quito oder Berlin abgehalten wird: Gebete und Zitate, Singen, Geschichten erzahlen, Spielen und kreatives Gestalten finden in jeder Unterrichtsstunde statt. Uberall wird auf die Qualitat der Beziehung zwischen den Lehrern und den Kindern und deren Eltern geachtet, die auf Liebe und Respekt basieren muss.
In Guest bei Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern hat sich beispielsweise in den vergangenen Jahren eine eigene staatlich anerkannte Kindertagesstatte entwickelt („Wilde 9“), deren padagogisches Konzept von diesen Annahmen inspiriert ist. Die deutsche Baha’i-Gemeinde rief zudem eigens ein Bildungswerk ins Leben, das Hermann-Grossmann-Institut in Tambach-Dietharz, um die Ausbildung der Tutoren bzw. der Lehrer zu koordinieren und durchzufuhren. So bieten die meisten der uber 100 Baha’i-Gemeinden und Gruppen in Deutschland offentliche Kurse der Werteerziehung fur Kinder – und zunehmend auch fur Jugendliche – an. Entstanden diese „Kinderklassen“ meist auf Initiative der Eltern, so entwickeln sie sich zunehmend zu nachhaltigen Angeboten mit ausgebildeten Tutoren, geeigneten Unterrichtsmaterialien und entsprechenden offentlichen Raumen.
Im Jahr 2004 begann die Wiesbadener Baha’i-Gemeinde einen Kurs „Geistige Erziehung fur Kinder“ mit insgesamt 18 Kindern zwischen sechs und 13 Jahren. Alle zwei Wochen sonntags treffen sich die Kinder, die mehrheitlich nicht zur Gemeinde gehoren, um mit ihren funf ehrenamtlichen Lehrerinnen und Lehrern beispielsweise „die Reiche der Schopfung“ oder gemeinschaftsfordernde Tugenden wie Geduld, Mut, Loslosung, Ehrlichkeit oder Dienstbarkeit durch zu nehmen. Die kindgerechte Vermittlung erfolgt in den Dimensionen „Kopf-Herz-Hand“, die gezielt von den Lehrern bei den Kindern angesprochen werden. Die Erfahrung zeigt, dass bei den Kindern am besten die praktischen Ubungen aufgenommen werden, zum Beispiel ein Geduldsparcour mit entsprechenden Urkunden, das Thema Beratung mit der Familie oder die praktische Umsetzung des Themas Dienstbarkeit, bei dem ein Besuch in einem Altenheim auf dem Programm steht.
Parallel zu den Kindern nehmen die Eltern an einem Elternkurs teil. Dieses ursprunglich nicht geplante Seminar, welches sich als sinnvolle Erganzung zum Programm der Kinder erwiesen hat und die „Wartezeit“ der Eltern bereichernd ausfullt, gibt den Eltern der an dem Kurs teilnehmenden Kinder die Moglichkeit, sich ihrerseits im Bereich „Erziehung“ weiterzubilden bzw. eigene Erfahrungen mit denen anderer engagierter Eltern auszutauschen. Die Kinder sind wiederum beeindruckt, dass auch ihre Eltern die „Schulbank drucken“; dies bringt die Familien wieder naher zusammen.
Peter Amsler ist Referent fur Menschenrechtsfragen in der Berliner Vertretung des Nationalen Geistigen Rates der Baha’i in Deutschland.
Sorry, the comment form is closed at this time.