17 Aug fK 3/02 Petri
Das Drama der Vaterentbehrung
Vom Chaos der Familie zu einer neuen „Geschlechterdemokratie“
von Horst Petri
„Little Criminals“. In dem kanadischen Film von Sterphen Surjik (1995) hat die Welt für den Helden Des ihre Konturen verloren. Er macht das Beste daraus, indem er zu einem Teufel in Kindsgestalt mutiert. Sein Diebesgut verhökert er an einen Hehler, donnert mit geklauten Autos durch die Gegend, befördert sie kurzerhand in einen Kanal, wenn der Sprit verbraucht ist, und lacht auch noch zu seinen Späßen, wenn er ein Holzhaus abfackelt. Ein kleiner Wilder, elf Jahre alt. Hinter der Koboldsmaske die Seele eines eiskalten Engels. Durch ein zufällig belauschtes Gespräch zwischen seiner Mutter und der Polizei erfährt er zum erstenmal, wer sein Vater ist: einer von vielen Erziehern des Heims, in dem die Mutter als junges Mädchen untergebracht war. Wer weiß das schon so genau? Jetzt ist der Durchbruch von verdrängter Einsamkeit, Verzweiflung und Wut nicht mehr aufzuhalten. Aus nichtigem Anlass erschießt Des den Stiefvater seines einzigen Freundes – ein symbolischer Akt der Vatertötung.
Der Film durchbricht das Klischee von der Vaterlosigkeit erwachsener Verbrecher, indem er die subtile psychologische Studie auf ein Kinderschicksal lenkt. So früh kann, das ist seine Botschaft, die Vaterentbehrung eine Kinderseele zerstören. Wie ernst sie zu nehmen ist, belegen die täglichen Presseberichte und Kriminalstatistiken über Kinder unterhalb der Strafmündigkeitsgrenze, die in wachsendem Ausmaß mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Sie stellen Jugendbehörden, Gerichte und die Öffentlichkeit vor ein neues gesellschaftliches Phänomen, das eine allgemeine Ratlosigkeit verbreitet. Nur langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass ein großer Teil dieser Kinder vaterlos aufwächst. Dieser Umstand erklärt die Gefühlskälte und das Fehlen von Schuld- und Schamgefühlen bei ihren Taten. Im Gegenteil. „Bevor ich vierzehn Jahre alt bin, kann ich tun und lassen, was ich will.“ Diesen Trumpf, den Des in dem Film mit zynischer Ironie immer wieder gegen die Gesellschaft ausspielt, wird zum Credo von Teilen einer jungen Generation, die auf den Mangel an vorgelebter Autorität mit der Entfesselung ihrer Triebwelt reagiert.
Wir leben mit einem gespaltenen Bewusstsein. Während das skizzierte Szenario trotz aller Aufgeregtheit als soziales Randphänomen entsorgt wird, feiert die Gesellschaft unbekümmert die Fortschritte von individueller Freiheit, Emanzipation und Selbstverwirklichung. Wenn sie das Szenario als Spiegel der eigenen Situation sehen könnte, würde sie spüren, wie heiß der Vulkan inzwischen geworden ist, auf dem sie tanzt. Im Zentrum der Befreiungsideologie steht seit langem die Aufkündigung des patriarchal definierten Geschlechtervertrages. So überfällig sie war und der Frauenbewegung als unzweifelhaftes Verdienst anzurechnen ist, so sichtbar werden allmählich die verheerenden Folgen für die nachwachsenden Generationen. Jede revolutionäre Erneuerung schafft zunächst eine chaotische Übergangsperiode und hat ihren Preis. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass sie seit einiger Zeit in ihre kritische Phase eingetreten ist. In der Krankheitslehre bezeichnet Krise den Punkt, an dem sich der Weg in die Heilung oder in den Tod entscheidet. Auch eine gesellschaftliche Krise enthält die Chance zu einer strukturierenden Ordnung des Chaos, aber auch die Gefahr einer weiteren Destabilisierung.
Der Geschlechterkampf bewegt sich heute noch auf einer eskalierenden Spirale wechselseitiger Entfremdung. Damit schlägt die ursprünglich konstruktive Kritik der Frauenbewegung in kontraproduktive Destruktion um. Es ist eine schlichte Tatsache, dass im Rahmen der Befreiungsbewegung von Frauen und Männern die Konsequenzen für die Kinder entweder nahezu ausgeblendet oder durch ideologische Argumente gerechtfertigt wurden, die sich heute als grobe Täuschungen erweisen. Das ernsthafteste Problem, das die Geschlechtertrennung produziert hat, ist die definitive Vaterentbehrung. Durch den emanzipatorischen Umbau der Familie und die dabei radikal vollzogene Dekonstruktion des Vaterbildes wächst seit zirka dreißig Jahren eine wachsende Zahl von Kindern ohne ihre Väter auf – ein Trend, der sich weiter beschleunigt. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Darstellung handelt nicht von berufsbedingten Zeiten der Vaterabwesenheit, auch nicht von Trennungs- und Scheidungsvätern, die durch einen lebendig gelebten Kontakt zu ihren Kindern die Kontinuität der Beziehung garantieren. Im Zentrum steht die endgültige Vaterlosigkeit durch unbekannte Erzeuger, durch den Tod des Vaters, aber vor allem durch die Flucht der Väter oder ihre systematische Ausgrenzung durch Mütter nach Scheidungen und Trennungen.
Die entwicklungspsychologische Bedeutung des Vaters
Zum Verständnis des Dramas der Vaterentbehrung ist zunächst an einige zentrale Vaterfunktionen zu erinnern. Die Entwicklungspsychologie unterscheidet heute drei für die Vater-Kind-Beziehung entscheidende Zeiträume: die Triangulierungsphase, die erste und die zweite ödipale Phase.
(1) Die Triangulierungsphase (erstes bis drittes Lebensjahr)
Solange sich die Humanwissenschaften auf die Erforschung der frühen Mutter-Kind-Beziehung konzentrierten, blieb der Vater eine zu vernachlässigende Größe. Dieses Defizit wurde erst in den letzten drei Jahrzehnten ausgeglichen. Die neuere Säuglings- und Kleinkindforschung konnte nachweisen, wie schwierig, schmerzhaft und angstbesetzt der notwendige Ablösungsprozess des Kleinkindes aus der frühen Symbiose mit der Mutter ist, und wie stark es hin- und hergerissen wird zwischen seinen Wünschen nach Abgrenzung und Individuation einerseits und dem unbedingten Wunsch, die Geborgenheit der frühen Mutter-Kind-Einheit zu erhalten, andererseits. Erst dieser aufregende Befund machte den Blick auf die Bedeutung des Vaters frei. Nach dem Triangulierungskonzept beginnt die eigentliche Dreiecksbeziehung Mutter-Vater-Kind bereits in der Ablösungsphase zwischen dem neunten und vierzehnten Lebensmonat. Der sog. „Dritte“ bietet dem Kind den notwendigen Halt, wenn es bei der Ablösung von der Mutter durch seine Trennungsangst und Ambivalenz in eine Krise gerät. Die Anlehnung an den Vater hilft ihm, seine Symbiosewünsche mit der Mutter aufgeben zu können. Neben dieser »Pufferfunktion« kommt entscheidend hinzu, dass das Kind in der Dreieckskonstellation zwei voneinander getrennte Liebesobjekte zur Verfügung hat, die Mutter und den Vater. Sie bieten zwei verschiedene Identifizierungsmöglichkeiten, eine weibliche und eine männliche. Dadurch wird der Reifungsprozess des Kindes entscheidend vorangetrieben. Erst durch die Integration beider Anteile kann es ein ganzheitliches, weiblich-männliches Selbstbild aufbauen.
Zusammenfassend kann man für die wichtige Triangulierungsphase formulieren: Das Familiensystem ist im Gleichgewicht, wenn es der Mutter gelingt, auf die Bedürfnisspannungen des Kindes zwischen seinen Symbiosewünschen und Autonomiebestrebungen einfühlend zu reagieren, und wenn der Vater durch ausreichende Anwesenheit dem Kind genügend Sicherheit bietet, damit es sich aus der mütterlichen Hülle befreien kann. Entscheidend im Sinne der Systemgesetze ist aber auch die Beziehung der Eltern in dieser Zeit. Nur wenn der Mann seine Frau als Partnerin akzeptiert und sie gleichzeitig in ihrer Mutterrolle bestätigt, ist sie innerlich ausgeglichen genug, um das Kind freigeben zu künnen. Umgekehrt wird der Mann seine Vaterrolle umso besser ausfüllen, je mehr er sich von seiner Frau geliebt und in seinem väterlichen Engagement nicht ausgegrenzt fühlt. Eine gelungene Triangulierung stellt also einen Kreislauf wechselseitig positiver Bezogenheit innerhalb des Beziehungsdreiecks dar.
(2) Die erste ödipale Phase (viertes bis sechstes Lebensjahr)
Es kann hier nicht der Ort sein, den von Freud formulierten Ödipuskomplex, der dieser Phase ihren Namen gab, und der bekanntlich das inzestuös-sexuelle Begehren des gegengeschlechtlichen Elternteils von drei- bis sechsjährigen Kindern zum Inhalt hat, erneut abzuhandeln. Stattdessen soll ein Entwicklungsaspekt betont werden, der für die Vater-Kind-Beziehung während dieser Zeit prägender sein dürfte. Nach der Ablösung von der Mutter erfährt sich das Kind zum erstenmal als eigenständiges Wesen, das mit neuen Anforderungen einer zunächst fremden Umwelt konfrontiert wird. Da es noch nicht über genügend Erfahrungen und Techniken verfügt, um die daraus resultierenden Gefahren und die mit ihnen verbundenen Ängste aus eigener Kraft zu bewältigen, ist es weiterhin auf Schutz und Hilfe durch die Eltern angewiesen. Die Entwicklungsaufgabe in dieser Zeit, die Umwelt aktiv zu erforschen, sich in ihr zu orientieren und zu behaupten, setzt ein ausreichendes Gefühl der Sicherheit und des Selbstvertrauens über die eigenen Fähigkeiten voraus.
Die Rolle des Vaters bei der Bewältigung dieses Entwicklungsschrittes kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Anders als die Mutter, die dem Kind hauptsächlich durch ihre Emotionalität und durch sprachliche Kommunikation den notwendigen Rückhalt gibt, vermittelt der Vater ihm die Welt durch aktive Konfrontation, Ermutigung, Förderung und gesellschaftlich vorgegebene Normensysteme. Diese durch fundierte Studien herausgefundenen Unterschiede elterlicher Beziehungsangebote und Erziehungsstile erweisen sich psychologisch in idealer Weise als komplementär. Sie ergänzen emotionale, soziale, kognitive und instrumentelle Anreize zu einer notwendigen Einheit. Dabei wird der Vater in seiner handlungsorientierten und moralischen Vorbildfunktion als positives Objekt verinnerlicht und in den Gewissensinstanzen, dem sog. Über-Ich, verankert.
(3) Die zweite ödipale Phase (zwölftes bis sechzehntes Lebensjahr)
Die Pubertät als Übergang zwischen Kindheit und Erwachsensein und als Schnittstelle zwischen Familie und Gesellschaft ist eine Zeit der Unruhe, der Orientierungslosigkeit und des revolutionären Aufbruchs. Die so genannte Identitätskrise in der Pubertät stellt Mädchen wie Jungen gleichermaßen vor die Frage, ob sie den Schritt ins Erwachsenenleben jemals bewältigen werden. Besonders in heutiger Zeit ist die Zukunft der jungen Generation durch ernsthafte Krisen blockiert, worauf viele Jugendliche mit Angst, Resignation, Verzweiflung oder Aggression reagieren. In dieser Situation benötigen sie die Väter stärker als die Mütter. Auch hier lässt sich wieder auf das Gesetz von den komplementären Mutter- und Vaterrollen verweisen. Während die Mutter in ihren biologischen und sozialen Funktionen ab der Geburt die wichtigere Person darstellt, teilen sich die Eltern im idealtypischen Fall während der ersten ödipalen Phase die unterschiedlichen Erziehungsaufgaben. Für den Vater gipfeln sie in seiner Veranwortung für die Kinder in der Pubertät und Adoleszenz.
Trotz der veränderten Selbstbilder von Frauen und Männern und ihres sozialen Kontextes repräsentiert der Vater eindeutiger zentrale Aspekte der Öffentlichkeit, in die Jugendliche jetzt selbständig hineinwachsen sollen. Von der Art, wie er für seine Kinder in der Pubertät die Weichen stellt und sie in die Welt entlässt, hängt entscheidend ihre Bewährung vor den neuen Lebensaufgaben ab.
Darüber hinaus wird in der Pubertät mit dem Schritt zur Geschlechtsreife das Gefühl für die eigene psychosexuelle Identität erst grundlegend konstituiert. Nur wenn die Tochter durch die Identifikation mit dem Vater und durch seine Bestätigung ein weibliches Selbstbild und ein positives Männerbild verinnerlichen kann, und der Sohn zu seiner eigenen männlichen Identität findet, werden beide beim Eintritt in die Gesellschaft und in die Welt der Sexualität über ein stabiles Selbstgefühl als Frau oder als Mann verfügen.
Die Folgen der Vaterentbehrung
Entwicklungspsychologisch ist einleuchtend, dass je nach Dauer und Intensität der väterlichen Verfügbarkeit die Identifizierungsmöglichkeiten zur Errichtung innerer Vaterbilder variieren. Nach den drei entscheidenden Lebensphasen ist es daher zweckmäßig, zwischen einem frühen, mittleren und späten Vaterverlust zu unterscheiden. Je früher das Kind auf die Haltestrukturen des Vaters verzichten muß, umso gefährdeter ist es in seiner gesamten weiteren Entwicklung. Entsprechend ausgeprägt ist auch das Trauma, das mit jeder Vaterlosigkeit verbunden ist.
Des, der elfjährige Junge aus dem zitierten Film ist in der Schwere seiner Störungen ein typisches Beispiel für den frühen Vaterverlust im Sinne einer primären Vaterlosigkeit. Charakteristisch für den mittleren Verlust in der ersten ödipalen Phase ist eine Stagnation der nachfolgenden Reifungsschritte. Die Defizite sind aber, je nach den Umweltbedingungen, oft deswegen leichter auszugleichen als beim primären Vaterverlust, weil die Verfügbarkeit des Vaters in dieser Zeit wichtige Grundsteine für die Errichtung eines inneren Vaterbildes und die psychische Struktur des Kindes, wie die Ausbildung einer Gewissensinstanz, soziale Kompetenz und kognitive Fähigkeiten gelegt hat, die im Sinne des Realitätsprinzips günstige Vorbedingungen zur Nachreifung und Bewältigung späterer Lebensaufgaben stellen.
Die späte Vaterentbehrung in der Pubertät legt die Annahme eines vergleichsweise milden Traumas nahe. Tatsächlich zeigt die Untersuchung von Scheidungskindern in diesem Alter den geringsten Grad an psychischer Belastung und psychosozialen Langzeitschäden. Wenn man jedoch die Besonderheiten der Pubertät und Adoleszenz berücksichtigt, sind solche Forschungsergebnisse kein Anlass zur Beruhigung. Sie basieren auf Durchschnittserfahrungen an größeren Gruppen, sagen aber nur wenig über die Verarbeitung des Traumas im Einzelfall aus. Außerdem erfassen sie nur die gröberen Störungen, während das subtile Leiden in empirischen Studien meist unentdeckt bleibt. Bei keiner erlebten Trennung oder Scheidung in der Pubertät lassen sich dramatische Entwicklungen ausschließen und in ihrer Langzeitwirkung zuverlässig einschätzen. In der Praxis ist man immer wieder überrascht, mit welchem Ausmaß an Depressionen, Resignation und Verzweiflung gerade Jugendliche auf die Trennung der Eltern mit dem definitiven Verlust des Vaters reagieren, wobei soziales Versagen bis hin zu kriminellen Entgleisungen nicht ausgeschlossen sind. Wie wir gesehen haben, bildet der Vater in der Sinn- und Orientierungskrise der Pubertät einen wichtigen Brückenkopf zur Außenwelt. Unter seinem Verlust brechen diese Stützen plötzlich weg, und der Jugendliche wird noch stärker in die Strudel seiner Verwirrungen hineingezogen.
Im Zusammenhang mit der Vaterentbehrung ist der Begriff des Traumas essentiell. Nach Auffassung des modernen Fachgebiets der Psychotraumatologie werden Traumata durch einmalige oder chronische Lebensereignisse erzeugt, durch die ein Individuum in seinen normalen Möglichkeiten zur Bewältigung einer krisenhaften Situation absolut überfordert ist, wodurch es zu einem Zusammenbruch entscheidender Regulationsmechanismen für das innere Gleichgewich kommt.
Zu den wichtigsten traumatischen Ereignissen zählen: Mutterentbehrung, sexueller Missbrauch und Misshandlung von Kindern, Vergewaltigung, KZ-Haft, Folter, schwere Kriegserlebnisse, Flüchtlingsschicksal, Geiselhaft, Opfer von Natur- und technischen Katastrophen und tragische Verkehrsunfälle. Es ist auffallend, dass der Verlust des Vaters in solchen Auflistungen bis heute nicht auftaucht. Am Beispiel der angeborenen Motivsysteme, die erst durch die neuere Säuglingsforschung genauer differenziert wurden, lässt sich jedoch, hier sehr verkürzt, nachweisen, dass jede Vaterentbehrung ein schweres Trauma darstellt. Dabei sind folgende Motive besonders betroffen: das Motiv der Bindung, das Motiv von Schutz und Sicherheit, das Motiv der Orientierung, das Motiv der Selbstbehauptung und Selbstbewahrung und das Motiv der Selbstwertschätzung. Nur wenn diese Motive durch die ständige Rückkoppelung mit der Umwelt bestätigt und weiterentwickelt werden, entsteht daraus ein ganzheitliches Gefühl für die Kontinuität und Kohärenz im Selbst als Grundlage eines stabilen Selbst-Bewusstseins und einer eigenen Identität.
Wenn man zu diesem Konzept der Motivsysteme einige Funktionen des Vaters in Beziehung setzt, wird die traumatische Wirkung seines Verschwindens evident. Der Vater ist neben der Mutter die früheste und lebenswichtigste Bindungsperson des Kindes; er repräsentiert Schutz und Sicherheit gegenüber den Bedrohungen der Außenwelt; durch seine stärkere gesellschaftliche Verankerung bietet er dem Kind spätestens ab der ersten ödipalen Phase prägende Orientierungen bei dessen Lebensentwurf an; für Mädchen wie für Jungen sind die Identifizierungen mit dem Vater und die Verinnerlichung eines positiven Vaterbildes notwendige Bestandteile der Selbstbehauptung und Selbstbewahrung; und schließlich dienen Bestätigung, Besorgnis und Förderung durch den Vater in entscheidender Weise der Selbstwertschätzung, ohne die eine Selbstverwirklichung nicht gelingt.
Jede Vaterentbehrung stellt also eine Kombination aus akutem und chronischem Trauma dar. Der Trennungsschock und der anschließend dauerhafte Verzicht auf den Vater greifen maßgeblich in die psychischen Reifungsprozesse ein und behindern den Aufbau eines stabilen Selbst durch die Verletzung seiner Motivsysteme. Dabei geht neben dem Vater auch immer ein Teil des eigenen Selbst verloren. Die Erschütterung des Selbsterlebens führt immer auch zu einem Kommunikations- und Bindungsverlust und zu einer Beeinträchtigung des Weltverständnisses. Damit kommt es zu einer Entfremdung von sich und den anderen, die die völlige Entwurzelung des Subjekts besiegeln kann.
Die Traumaforschung hat uns eine Vorstellung darüber vermittelt, wie ein von Angst, seelischem Schmerz, narzisstischer Verletzung, Wut, Depression und Einsamkeit gezeichnetes Subjekt auch in seinen Ich-Fähigkeiten eingeschränkt wird. Das Ich als zentrale innere Instanz für Kognition, Lernen, Denken und planendes Handeln gerät durch seine Überflutung mit ungeordneten Gefühlskräften in einen Zustand der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit, die seine Funktionen bis zur völligen Apathie lahmlegen können.
Nach allem lassen sich die als wissenschaftlich gesicherten Auswirkungen eines Vaterverlustes in ihrem Trend kurz zusammenfassen:
(1) Für den intellektuellen Bereich, der sich durch Schulnoten, Leistungstests, Berufsabschlüsse und am beruflichen Erfolg überprüfen lässt, besteht in der Forschung weitgehende Übereinstimmung über die negative Wirkung der Vaterentbehrung. Davon sind Jungen und Mädchen gleicherweise betroffen.
(2) Für die eigene Geschlechtsrollenentwicklung verweisen alle Befunde auf die entscheidende Funktion der Mutter. Wenn ihr weibliches Selbstbild ungestört bleibt und sie das männlich-väterliche Prinzip weiterhin akzeptiert, können sowohl Mädchen als auch Jungen ein stabiles sexuelles Identitätsgefühl und befriedigende Partnerbeziehungen entwickeln. Anderenfalls drohen für Mädchen und Frauen die Gefahren des sexuellen Missbrauchs in der Kindheit, frühe Schwangerschaften, frühe Ehen und schwere Partnerprobleme; Jungen und Männer sind häufig durch sexuelle Störungen, Bindungslosigkeit zu Frauen, Don Juanismus oder andere Partnerschwierigkeiten belastet.
(3) Für die Gesellschaft am besorgniserregendsten sind die sozialen Folgen der Vaterentbehrung, die sich bei Jungen am nachhaltigsten niederschlagen. Wenn das für sie so wichtige männliche Identifikationsobjekt entfällt, bleibt ihre Gewissensbildung unterentwickelt. Dadurch kann sich das bei ihnen stärker als bei Mädchen ausgeprägte Triebpotential der Aggression zu einer gefährlichen, weil ungesteuerten Kraft entwickeln. Deswegen ist bei ihnen der Weg von der Verwahrlosung zur Gewaltkriminalität, oft im Zusammenhang mit Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, nicht weit. Die Zahlen, die über die verschiedenen Formen sozialer Entgleisung bei Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden vorliegen, sind in der Tat alarmierend.
(4) Schließlich sind die ernsthaften seelischen Erkrankungen zu nennen. Untersuchungen an erwachsenen Patienten zeigen eine Häufung vaterloser Schicksale bei Neurosen, Depressionen, schweren Persönlichkeitsstörungen, Schizophrenie, Drogen- und Alkoholsucht und bei Selbstmordversuchen und Selbstmorden. Für alle diese Erkrankungen sind ein tiefes Misstrauen in die Verlässlichkeit menschlicher Bindungen und ein starker Selbsthass, weil man sich selbst nicht für liebenswert hält, charakteristisch.
Die genannten Störungen bedeuten nicht nur Leiden für die Betroffenen, sondern eine hohe Belastung des Gemeinwesens. Deswegen plädiert der Mentor der deutschen Väterforschung Fthenakis für eine dringliche Verbesserung der gesellschaftlichen Rahmenbedingen und des sozialen Netzwerks zur Reorganisation der Familie nach einem Vaterverlust. Seine Schlußfolgerung: „Eine Familie ohne Vater ist demnach nicht per se als defizitär anzusehen“, kann ich jedoch nicht teilen. Sie entspringt nach meiner Auffassung einem Wunschdenken, wie es auch in der Öffentlichkeit besteht. Das Defizit, das ein verlorengegangener Vater hinterlässt, bedeutet immer Schmerz, Trauer und Einsamkeit, bedeutet ein Trauma. Ob und wie es sich ausgleichen und verarbeiten lässt, ist die Herausforderung an eine Kultur, die die Vaterentbehrung als kollektives Phänomen begreifen lernen und als Teil der eigenen Ordnung anerkennen und integrieren muß.
Vaterentbehrung und Umwelt
Die Schwere des beschriebenen Traumas hängt nicht allein vom Zeitpunkt des Vaterverlustes ab, sondern entscheidend auch von den fördernden oder hemmenden Einflüssen des sozialen Umfeldes. Neben der Restfamilie (Mutter, Geschwister, Verwandtschaft) bilden Stiefväter, Ersatzväter, Freundschaften, spätere Partnerschaften und die gesamten sozialen Rahmenbedingungen ein weites soziales Netzwerk. Seine Qualität entscheidet über jede Art der Lebensbewältigung und im Fall eines Traumas über die heilenden oder zusätzlich belastenden Einflüsse bei seiner Überwindung.
In der Scheidungs- und Vaterdeprivationsforschung besteht jedoch Einigkeit darüber, dass bei einem Vaterverlust die Mutter im sozialen Netzwerk des Kindes die wichtigste Beziehungsperson darstellt. Sie hat die größte Last bei der Verarbeitung des Traumas für das Kind zu tragen. Sie muss – meist allein – die vielfältigen Bedürfnisse des Kindes befriedigen, muss deren Verletzung, Trauer, Trennungsschmerz und Wut nach der Vaterentbehrung auffangen, muss die eigenen aus der Tiefe andrängenden Gefühlskräfte unter Kontrolle bringen, die bei ihr selbst durch den Partnerverlust aufgewühlt werden, und muss die Kinder vor deren zerstörerischem Potential schützen. Wahrlich, eine heroische Aufgabe! An ihr zu scheitern ist menschlich. Aber das Scheitern ist mit Schuld- und Versagensgefühlen verbunden, wodurch das innere Gleichgewicht noch stärker erschüttert wird. Wenn dann noch der von feministischer Seite ausgehende Erwartungsdruck hinzukommt, die Ideologie, die Mutter müsse und könne das alles alleine bewältigen und sogar besser als mit einem anwesenden Vater, kann die Hilflosigkeit und Ohnmacht in panische Ängste, schwere Depressionen und Verzweiflung umschlagen. Außerdem wird die seelische Überforderung sehr häufig durch die Verschlechterung der sozialen und ökonomischen Lebenssituation nach Ausfall des Vaters noch gesteigert. Unter all diesen Voraussetzungen sind dem Durchbruch der Irrationalität keine Grenzen gesetzt.
Die häufigsten Gefahren einer mangelnden Affekt- und Triebkontrolle liegen in einer Einfühlungsverweigerung in das Leiden der Kinder; im Gegenteil können diese zu physischen und psychischen Opfern eines Medea gleichen Rachekomplexes werden; die Projektion der eigenen Schuldgefühle auf den Mann rechtfertigt, auch vor den Kindern, seine Verfolgung und Entwertung und stürzt diese in schwere Loyalitätskonflikte; außerdem werden die Kinder häufig als Bündnispartner im Kampf gegen den Vater, als Partnerersatz, als narzisstische Substitute zur Stabilisierung der inneren Leere der Mutter oder als Sündenböcke missbraucht und müssen neben ihrem eigenen Gefühlschaos noch die Überflutung mit den mütterlichen Ängsten, Depressionen und anderen psychischen Problemen nach dem Trennungsverlust verarbeiten; dabei kommt es leicht zur Parentifizierung, zur Elternersatzbildung der Kinder, die als Tröster und Beschützer die Erwachsenenrolle gegenüber der kindlich regredierten Mutter übernehmen sollen.
Abhängig von der seelischen Disposition der Mutter und ihrer Verarbeitung des Partnerverlustes weisen alle diese Verschiebungen und Überwerfungen im Mutter-Kind-Verhältnis auf die zusätzlichen Belastungen hin, die Kinder neben der Vaterentbehrung zu bewältigen haben. In einer systemischen Formel ausgedrückt: ein Paardrama ist ein Vater-Kind-Drama ist ein Mutter-Kind-Drama. Damit wird Müttern, ob freiwillig oder unverschuldet, eine Hypothek aufgeladen, die kaum jemals ohne schwerwiegende Konflikte für sie selbst und die Kinder abgetragen werden kann. Nach allen vorliegenden Erfahrungen gibt es daher keinen Grund, das Los der Mütter nach einem Vaterverlust schönzureden. Ein Vaterverlust ist nach neuestem Forschungsstand auch durch keine noch so gute Bemutterung zu kompensieren. Das bedeutet: Trotz der vielfältigen Entlastungen durch ein enges Netz von Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungseinrichtungen bleiben die Elementarbeziehungen des Kindes die zu seinen Eltern. Sie konstituieren seine Bindungsfähigkeit und die Ausdifferenzierung seiner psychischen Struktur und stiften als äußere und verinnerlichte Objekte die Grundlagen seines Selbstgefühls und seiner Identität. Der Zusammenbruch dieses ursprünglichen Systems der Einheit von Eltern und Kindern und seine Reorganisation durch alternative Familienmodelle kann immer nur zu Teillösungen führen. Nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte müssen wir jenseits aller Utopien diese Tatsache realisieren lernen. Besonders die zur Ideologie geratene Auffassung, die Mutter könne allein den Ausfall des Vaters kompensieren, entstammt einem illusionären Wunschdenken im Rahmen einer missverstandenen Emanzipation. In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff „alleinerziehende Mutter“ ein Euphemismus. Mit der Erziehung ist es nicht getan. Entscheidend für die psychische Entwicklung des Kindes sind seine emotionalen Beziehungen, nach denen sich der Erfolg jeder Erziehung erst bemisst. Im Sinne einer ganzheitlichen Persönlichkeit benötigt das Kind dazu das komplementäre Bindungs- und Beziehungsgefüge zur Mutter und zum Vater. Die geschilderten Veränderungen im Mutter-Kind-Verhältnis nach einem Partner- bzw. Vaterverlust gelten als wichtige Bestätigung dieser entwicklungspsychologischen Grundannahme.
Geschlechterdemokratie im 21. Jahrhundert
Im breiten Spektrum der Möglichkeiten, das Trauma der Vaterentbehrung zu lindern, spielt die gesellschaftspolitisch aktuelle Debatte über eine neue „Geschlechterdemokratie“ ein zentrale Rolle. Vordergründig scheint sie durch die zunehmenden Scheidungsraten und die sichtbar gewordenen Grenzen des Geschlechterkampfes zustande gekommen zu sein. Der tiefere Grund liegt möglicherweise in der langsamen Auflösung einer kollektiven Verdrängung, eines Tabus, das bisher die Vaterentbehrung umgeben hat. Dazu müssen wir uns klarmachen, dass die Zahlen über nichteheliche, Trennungs- und Scheidungskinder die Tatsache verdecken, dass sich das wahre Ausmaß des Vaterverlustes in der Gesamtbevölkerung gar nicht bestimmen lässt, erstens, weil ein großer Teil der über Achtzehnjährigen bereits durch Scheidung vaterlos aufgewachsen ist und zweitens weil eine erhebliche Bevölkerungsgruppe noch zur Kriegsgeneration zählt, die durch 5,25 Millionen kriegstoter Soldaten, darunter Millionen von Vätern, belastet ist. In dem 1963 von A. Mitscherlich veröffentlichten Buch „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“, trifft man auf die Ungeheuerlichkeit, dass er die reale Vaterlosigkeit aus seiner sozialpsychologischen Analyse ausdrücklich ausklammert und die so genannte „Unsichtbarkeit“ der Väter allein aus den industriellen Arbeitsbedingungen ableitet. Diese Verleugnung erfolgte zu einer Zeit, als der millionenfache Vaterverlust sowohl durch den Ersten als auch verstärkt durch den Zweiten Weltkrieg noch als klaffende Wunde durch die Bevölkerung ging. Sie war so schmerzhaft und gleichzeitig von unsäglichen Schuldgefühlen über die Verbrechen des Dritten Reiches begleitet, dass es, thesenhaft formuliert, zu einer kollektiven Verdrängung des Traumas kam, das bis in die jüngste Zeit weder wissenschaftlich noch in der Öffentlichkeit aufgearbeitet wurde. So blieb auch unreflektiert, dass es die real vaterlose Nachkriegsgeneration war, die in der 1968iger Bewegung der traditionellen Familie ideologisch und faktisch „den Krieg erklärte“ und damit wiederum eine Kindergeneration gezeugt hat, von der große Teile ihre Väter diesmal nicht durch einen militärischen, sondern durch den Krieg der Geschlechter verloren haben. Diese vaterverlassenen Kinder von Vätern ohne Vater stellen Teile der heutigen jungen Vatergeneration dar.
In der Traumaforschung nennt man eine solche Tradition die „unbewußte Weitergabe eines Traumas von Generation zu Generation“. Seine kollektive Verleugnung hat in Teilen der radikalen Frauenbewegung sogar zu der paradoxen Umkehrung nach dem Grundsatz geführt: „Ohne Vater ist alles viel besser“. Da sich bei der derzeitigen Unübersichtlichkeit und dem Chaos in den Geschlechterbeziehungen das Drama der Vaterentbehrung ausweiten wird, ist es dringend an der Zeit, das Tabu, durch das sich kollektive Abwehrformen aus Gleichgültigkeit, Desinteresse, Gefühllosigkeit, Gewöhnung und Abstumpfung herausbilden, aufzulösen. Nur wenn der Vaterverlust nicht weiter im kollektiven Unbewussten abgespalten bleibt, sondern als Katastrophe für die Betroffenen und für den Frieden der sozialen Gemeinschaft bewusst gemacht wird, können präventive Maßnahmen greifen.
Ein erster, fast revolutionär zu bezeichnender Reformschritt dazu war das Inkrafttreten des „Neuen Kindschaftsrechts“ im Juli 1998, von dessen zentralen Zielen man eines mit der Formulierung auf den Punkt bringen könnte: „Jedes Kind hat ein Recht auf beide Eltern“.
Nur ein Emanzipationsbündnis von Frauen und Männern –von Müttern und Vätern – so ihr Grundsatz, ist in der Lage, über die formalisierten Bedingungen der Gleichberechtigung hinaus ein tieferes Gefühl für die Gleichwertigkeit beider Geschlechter zu schaffen.
Erst wenn ein tieferes Gefühl für die Gleichwertigkeit beider Gechlechter im Bewusstsein der Öffentlichkeit und in den gesellschaftlichen Institutionen breit verankert ist, lässt sich die Polarität der Geschlechter zu Gunsten einer komplementären Beziehung nach demPrinzip wechselseitiger Anerkennung und Fürsorge auflösen. Die amerikanische Psychoanalytikerin Jessica Benjamin war eine der ersten, die mit Nachdruck die Überwindung der Spaltung zwischen Frauen und Männern propagierte. Sie setze ein solidarisches Handeln voraus, durch das ein Gleichgewicht in der Verteilung der familiären und beruflichen Rollenaufgaben erst erreicht werden könne. Es handelt sich bei diesem Konzept einer „Geschlechterdemokratie“ um ein Großprojekt für das 21. Jahrhundert. Es setzt nicht nur bei jedem einzelnen Bereitschaft und Eigenschaften wie Konfliktfähigkeit, Toleranz und Versöhnungsbereitschaft voraus; es erfordert auch einen gesellschaftlichen Umbau auf vielen Gebieten, am einschneidensten in der Gestaltung der Arbeitswelt. Wenn die unversöhnte Beziehung der Geschlechter in eine produktive Gemeinsamkeit einmünden und zu einer neuen Kultur des Dialogs führen soll, werden alte und liebgewordene Prinzipien aufgegeben und durch innovative ersetzt werden müssen.
So steht am Beginn des neuen Jahrhunderts mit seinen familiären Katastrophen die Hoffnung auf die evolutionäre Kraft der menschlichen Vernunft und der Psyche, die in absehbarer Zukunft das Demokratiebewusstsein vorantreiben und zur Erfindung tragfähiger Familienstrukturen beitragen werden. Nur durch sie lässt sich die transgenerationale Weitergabe des Traumas der Vaterentbehrung unterbrechen.
Gekürzte Fassung des gleichnamigen Beitrags, erschienen in: Psychoanalytische Familientherapie, 2. Jahrgang, Nr. 2, 2001, Heft 1. Wir danken dem Psychosozial-Verlag für die Genehmigung.
Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.
Prof. Dr. Horst Petri ist Kinder- und Jugendpsychiater und Psychoanalytiker in Berlin
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