fK 3/02 Franz

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Wenn der Vater fehlt

Epidemiologische Befunde zur Bedeutung früher Abwesenheit des Vaters für die psychische Gesundheit im späteren Leben

von Matthias Franz

Die Entwicklung eines Kindes zu einer vollständigen, selbstbewussten und beziehungsfähigen Persönlichkeit wird nachhaltig gefördert durch liebevolle, einfühlungsfähige, zuverlässige und fürsorglich Grenzen setzende Eltern. Familiäre Desintegration, die Abwesenheit der Mutter oder des Vaters, Erfahrungen sexueller oder körperlicher Gewalt, die emotionale Ablehnung des Kindes oder die hinter materieller Wohlstandsverwahrlosung waltende Gleichgültigkeit gegenüber seinen Beziehungs- und Entwicklungsbedürfnissen sind großenteils empirisch belegte Risikofaktoren für die seelische und körperliche Gesundheit des Kindes auch im späteren Leben.

In der vorliegenden Untersuchung sollen eigene empirische Befunde speziell zur Bedeutung des Vaters für die psychosoziale Gesundheit ihrer Kinder vorgestellt werden. Die Bedeutung des Vaters für die Entwicklung des Kindes wird erst in den letzten Jahren endlich auch zu einer auch öffentlich interessierenden Frage. Informationen hierzu sind angesichts der in Deutschland steigenden Scheidungsraten (ca. 200.000 pro Jahr, in mehr als der Hälfte sind minderjährige Kinder mitbetroffen) und der zunehmenden Zahl von Alleinerziehenden von Interesse. Der Anteil der in Einelternfamilien aufwachsenden Kinder stieg in den letzten Jahrzehnten ständig auf heute ca. 18%. In Deutschland leben ca. 3 Millionen Alleinerziehende mit Kindern – über 80% von ihnen sind Mütter.

Der Vater als prägender männlicher Partner ist darüberhinaus heute über weite Bereiche der frühkindlichen Entwicklung nur wenig präsent. Das Fehlen personal vermittelter männlicher Identifikationsmöglichkeiten in Kindergärten und Grundschulen ist eklatant. Kinder sind hier weit überwiegend mit weiblichen Bezugspersonen zusammen. Vielen in ihrem Rollenbild und Selbstverständnis verunsicherten Männern ist darüber hinaus offensichtlich nicht klar, wie wichtig gerade ihre spürbare Gegenwart für eine gesunde Entwicklung ihrer Kinder ist. Ein Beleg dafür sind empirische Untersuchungsbefunde in westlichen Industriegesellschaften zum Zuwendungsverhalten von Vätern ihren Kindern gegenüber. Unabhängig davon ob die Mütter zu Hause oder berufstätig sind, wenden sich Väter laut dieser Studien ihren Kindern emotional und in direkten Versorgungsfunktionen deutlich seltener zu als die Mütter.

Vieles spricht heute für ein gravierendes kindliches Erfahrungsdefizit an positiv definierter Väterlichkeit. Der Kollaps fragwürdiger, männlich-patriarchalischer Rollen- und Wertvorstellungen steht dabei sicher auch im Zusammenhang mit den destruktiven Exzessen des letzten Jahrhunderts. Die tradierten Stereotypen sind hohl geworden, existieren aber noch als latente Erwartungen und Wünsche z.B. auch in Gestalt werbepsychologisch interessanter und kommerziell nutzbarer Fragmente. Angesichts des kindlichen Erfahrungsdefizits an konkreter Männlichkeit gewinnen diese Einflüsse an Bedeutung. So ist die „Mater“-ialisierung menschlicher Grundbedürfnisse nach Beziehung, Austausch und liebevoller Wertschätzung unübersehbar: Diese Erfahrung wird bereits sehr früh gesetzt. Der frei verfügbare Fernseher als kommerzieller Brückenkopf und Beziehungssurrogat im Kinderzimmer Vierjähriger ist keine Seltenheit – eine Entwertungserfahrung, die eigentlich nur einer Körperverletzung gleichgesetzt werden kann. Die fortschreitende Depersonalisierung kindlicher Entwicklungsumgebungen sowie die Verleugnung der Bedeutsamkeit des Vaters für die Autonomieentwicklung des Kindes scheint ihren vorläufigen und bizarren Höhepunkt in der Erzeugung von vaterlosen Designerbabys zu finden. Eine technische Meisterleistung sicherlich, aus entwicklungs-psychologischer Sicht aber wohl eine barbarische Stümperei. Es sei denn, es gelänge in Zukunft auch die biologischen Schalter für bindungsmodifizierende Eingriffe zu identifizieren und zu nutzen. Man kann vermuten, dass auch hieran bereits gearbeitet wird.

Es scheint heute so, als ob durch die zunehmende Vermarktung menschlicher Grundbedürfnisse ein Phantasieraum erschlossen wird, der nicht mehr vorwiegend von einer potentiell sadistischen Vaterautorität und entsprechenden Wertehierarchien geprägt ist, sondern auch oder vielleicht sogar vorwiegend von Aspekten eines übermächtigen auch das männliche Individuum aufsaugenden mütterlichen Attraktors. Einer solchen unbewußten kollektiven Matrix entsprechen umfassende Realitätskonstrukte wie die Globalisierung oder weltumspannende anonyme Großkonzerne. Diese schaffen und erfordern funktionale, künstliche Identitäten, die wenig Platz lassen für die Vorstellung einer selbstbestimmten, personalen und selbstbewussten Männlichkeit.

Als mediale Platzhalter und kommerziell genutzte Projektionsfiguren bedienen zahlreiche „Helden“ persistierende, auf einen starken und fürsorglichen Vater bezogene kindliche Bindungswünsche. Diejenigen, welche die Filme „Terminator“ oder „Matrix“ kennen, haben hierfür gute Beispiele. Heute erkennen breite Bevölkerungsschichten und zahlreiche, insbesondere männliche Konsumenten ihre dyadischen Ängste und ihre Vaterbedürftigkeit in solchen Medienprodukten wieder. Sowohl in Terminator als auch in Matrix – übrigens auch in der kommerziell extrem erfolgreichen Starwars-Trilogie – treten Jungen oder junge Männer, die ihre Väter verloren haben, gegen eine allgegenwärtig-parasitäre, umfassend mächtige Maschinenwelt oder das Böse schlechthin an. In derartigen Gegnern sind unschwer die allmächtigen, aggressiv aufgeladenen Verfolger und paranoide frühkindliche Ängste zu erkennen, die aus psychoanalytischer Sicht einer nicht gelösten dyadischen Mutter-Kind-Beziehung zugeordnet werden. In all diesen Filmen finden sich dann sehr einfühlsame väterliche Förderer, die dem kleinen „Heiland“ dabei helfen, die Welt vor der endgültigen Beherrschung durch die allmächtige Maschinen des Bösen zu retten und selber dabei zum Mann zu werden. Diese Väter zeichnen sich neben ihrer männlichen Stärke auch durch ihre Bereitschaft zur Anleitung, Einfühlung und brillante technische Fähigkeiten aus. So stellen sie den Sieg über die paranoiden Invasoren und die Initiation des Jungen in die Männerwelt sicher. Derartige Filme bieten lediglich illusionäre Verarbeitungsmöglichkeiten, spiegeln aber die unbewußten Beziehungsmodelle vieler Menschen im Alltag wider und und reflektieren das väterliche Defizit unserer Gesellschaft.

Aus psychoanalytischer Sicht besitzt demgegenüber die Präsenz und Zuwendung des Vaters für die kindliche Entwicklung und die psychische Gesundheit im späteren Erwachsenenleben eine entscheidende Bedeutung. Der Vater ermöglicht bereits sehr früh die begleitete und notwendige Individuation des Kindes aus der umfassenden Beziehung zur allmächtig erlebten Mutter hinein in eine Welt vielfältig abgestufter Beziehungsmöglichkeiten. Seine positive emotionale Zuwendung fördert außerdem die Entwicklung einer selbstbewussten und stabilen sexuellen Identität des Kindes. Diese Zusammenhänge werden heute zunehmend durch Befunde klinischer und epidemiologischer Untersuchungen anhand großer Untersuchungsstichproben bestätigt.

Auf der Basis der Mannheimer Kohortenstudie zur Epidemiologie psychogener Erkrankungen werden nachfolgend Daten zum Zusammenhang zwischen väterlicher Präsenz während der kindlichen Entwicklungsjahre und psychogener Beeinträchtigung im späteren Erwachsenenalter vorgestellt. In der Ergebnisdarstellung heben wir besonders auf die Probanden des Geburtsjahrganges 1935 ab, da der Effekt des fehlenden Vaters in dieser ältesten Jahrgangskohorte unserer Untersuchung vor allem aufgrund der Kriegsereignisse besonders häufig zum Tragen kam.

Methodik

Innerhalb der Mannheimer Kohortenstudie wird mit dem Begriff der psychogenen Erkrankungen die Gruppe der vorwiegend psychosozial beeinflussten Störungen (Psychoneurosen, Persönlichkeitsstörungen, Belastungsreaktion, somatoforme Erkrankungen, somato-psychosomatische Erkrankungen) bezeichnet. Die Verwurzelung dieser Störungen in der psychosozialen Biographie des Einzelnen aber auch die bekannte und ausgeprägte Tendenz zum Symptomwandel im Verlauf und zur Komorbidität rechtfertigen es, diese Krankheitsbilder zu einer Gruppe zusammenzufassen.

Seit Mitte der 1970er Jahre beforscht die Gruppe um Schepank Häufigkeit, Verlauf und Einflussbedingungen psychogener Erkrankungen in einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe der Stadt Mannheim. Die erste Querschnittuntersuchung (t1) wurde zwischen 1979 und 1983 durchgeführt und hatte die Feststellung der Häufigkeit psychogener Erkrankungen in der erwachsenen Normalbevölkerung (ca. 26,0%) zum Ziel. Die primäre Untersuchungsstichprobe besteht aus 600 deutschen Erwachsenen der Jahrgänge 1935, 1945 und 1955 (je 100 Männer und Frauen), welche aus der Stadtbevölkerung Mannheims zufällig ausgewählt worden waren. Drei Jahre später (t2) konnten 528 (88,0%) dieser Probanden nachuntersucht werden. Zu beiden Untersuchungszeitpunkten wurden ein halbstrukturiertes, psychodynamisch orientiertes Interview sowie standardisierte sozialempirische und psychometrische Testinstrumente eingesetzt. Die Interviews wurden von trainierten und klinisch-psychosomatisch erfahrenen Psychoanalytikern/innen (Ärzte/innen und Psychologen/innen) durchgeführt. Zwischen 1991 und 1994 wurde die bislang letzte Folgeuntersuchung des Spontanverlaufes der psychogenen Beeinträchtigung mit 301 Probanden (50,2%) durchgeführt (t3).

Persönlichkeitsmerkmale, klinische und soziodemographische Variablen wurden zu jedem Studienzeitpunkt untersucht. Die psychogene Beeinträchtigung der Probanden wurde durch die Untersucher mittels des Beeinträchtigungs-Schwere-Scores (BSS) bestimmt. Der BSS ermöglicht entsprechend trainierten Experten den Grad der bestehenden psychogenen Beeinträchtigung auf drei Subskalen (körperlich, psychisch, sozialkommunikativ) von 0-4 einzuschätzen. Der Messbereich des Skalensummenscores reicht von 0 (keine psychogene Beeinträchtigung) bis zum Maximalwert von 12 (extreme Beeinträchtigung). Frühkindliche Entwicklungsbedingungen (erfragt in t1) wurden durch die Interviewer über standardisierte Ankerbeispiele eingeschätzt und insbesondere hinsichtlich Abwesenheit und eingeschränkter emotionaler Verfügbarkeit der Eltern dokumentiert. In gleicher Weise wurden globale Belastungsscores für die kindlichen Entwicklungsjahre 1-6 und 6-12 eingeschätzt. Dies geschah wiederum unter Bezug auf definierte Ankerbeispiele (traumatische Entwicklungeinflüsse, z.B. Verlust primärer Bindungsfiguren, broken-home-Konstellationen, frühe Erfahrungen aggressiven/sexuellen/emotionalen Missbrauchs oder psychopathologisch auffällige Eltern.

Da sich in früheren eigenen wie auch anderen Untersuchungen auf Querschnittebene bereits ein signifikanter Zusammenhang zwischen psychogener Beeinträchtigung und traumatischen Versorgungsdefiziten in der Frühkindheit nachweisen ließ, wurden die gefundenen Korrelationen in der hier vorgelegten Verlaufsuntersuchung hypothesengeleitet zunächst an bestimmten Risikogruppen geprüft.

Der erste Extremgruppenvergleich bezieht sich auf die Probanden, welche primär chronisch auf hohem Niveau psychogen beeinträchtigt waren. Diese Gruppe wurde mit den gesundesten, psychogen konstant am geringsten beeinträchtigten Probanden verglichen.

Ein zweiter Extremgruppenvergleich wurde anhand der Probanden, die zu t1 noch nicht die Fallschwelle überschritten hatten, sich dann aber im Verlauf kontinuierlich im Sinne einer adaptiven Dekompensation verschlechterten, durchgeführt. Diesen wurden als komplementäre Gruppe die Probanden gegenübergestellt, welche sich von t1 kontinuierlich verbesserten.

Anschließend wurde ebenfalls für die Gesamtstichprobe mittels einer schrittweisen Regression die zu t3 bestehende psychogene Beeinträchtigung durch zu t1 erhobene Variablen aus den Bereichen Kindheitsentwicklung, klinische Beeinträchtigung und Persönlichkeit modelliert, um die Bedeutung eines in der Kindheit fehlenden Vaters in Relation zu anderen Einflussgrößen abschätzen zu können. In einem weiteren Untersuchungsschritt wurde dann speziell eine länger als 6 Monate andauernde Abwesenheit des Vaters während der ersten sechs Lebensjahre als Kriterium einer Gruppenbildung (Vater vorhanden/nicht vorhanden) zu Grunde gelegt. Der Zusammenhang der frühen Abwesenheit des Vaters mit der im späteren Erwachsenenleben bestehenden psychogenen Beeinträchtigung wurde unter besonderer Berücksichtigung der heute ca. 65-jährigen, ältesten Probanden der Mannheimer Stichprobe untersucht. Insgesamt 126 (65 Männer, 61 Frauen) Probanden des Geburtsjahrganges 1935 konnten sowohl zu t1 wie auch zu t3 untersucht werden.

Ergebnisse

Sowohl im Extremgruppenvergleich unterschiedlicher Verlaufstypen der psychogenen Beeinträchtigung als auch innerhalb eines Gesamtmodells des Langzeitverlaufes war ein signifikanter Zusammenhang zwischen späterer psychogener Beeinträchtigung mit einer defizitären Vaterbeziehung nachweisbar.

Der Einfluss des Geschlechts und der Anwesenheit des Vaters auf den BSS-Summenwert wurde mit Hilfe einer Varianzanalse für die Zeitpunkte t1 und t3 untersucht. Wie in Tab. 1 dargestellt, gibt es (statistisch bedeutsame) Unterschiede zwischen Männern und Frauen (stärker beeinträchtigt) und zwischen den Probanden, bei welchen der Vater in der frühen Kindheit präsent war bzw. fehlte (stärker beeinträchtigt).

t1 1935-Gesamt
(n=125)
1935-Männer
(n = 65)
1935-Frauen
(n = 60)
Vater fehlte 4,16 (2,24) 3,42 (1,81) 4,97 (2,39)
Vater präsent 3,48 (1,72) 3,15 (1,75) 3,84 (1,65)
Gesamt 3,88 (2,06) 3,31 (1,78) 4,50 (2,17)

Tab. 1: Psychogene Beeinträchtigung (BSS-Summenwert für das letzte Jahr, Standardabweichung) der Probanden des Geburtsjahrganges 1935 der Verlaufsstichprobe zum Zeitpunkt t1 in Abhängigkeit von der Präsenz des Vaters in den ersten sechs Lebensjahren; Gesamtstichprobe und getrennt nach Männern und Frauen.

Im Unterschied dazu war ein Geschlechtseffekt zu t3 nicht mehr feststellbar. Hier bestanden lediglich Unterschiede im BSS-Summenwert zwischen den Probanden, welche in den kindlichen Enrtwicklungsjahren über einen Vater verfügten und denen, bei welchen dies nicht der Fall war (Tab. 2).

t3 1935-Gesamt(n=125) 1935-Männer(n = 65) 1935-Frauen(n = 60)
Vater fehlt 4,64 (2,21) 4,21 (2,16) 5,11 (2,21)
Vater präsent 3,71 (1,87) 3,67 (2,11) 3,76 (1,61)
Gesamt 4,26 (2,12) 3,98 (2,13) 4,55 (2,08)

Tab. 2: Psychogene Beeinträchtigung (BSS-Summenwert für das letzte Jahr, Standardabweichung) der Probanden des Geburtsjahrganges 1935 der Verlaufsstichprobe zum Zeitpunkt t3 in Abhängigkeit von der Präsenz des Vaters in den ersten sechs Lebensjahren, Gesamtstichprobe und getrennt nach Männern und Frauen.

Das Risiko eines Probanden des Jahrganges 1935 zum Zeitpunkt t1 die Fallschwelle des BSS-Summenwertes (> 4) zu überschreiten war erhöht, wenn der Vater in den ersten sechs Lebensjahren mehr als sechs Monate lang nicht präsent war (Tab. 3).

Fallschwelle BSS Vater präsent Vater fehlt Gesamt Odds ratio
Kein Fall in t1 44 52 96
Fall in t1 8 21 29 2,22
Gesamt 52 73 125
Kein Fall in t3 39 42 81
Fall in t3 13 31 44 2,21
Gesamt 52 73 125

Tab 3: Risiko der Fallzuordnung (odds ratio) in Abhängigkeit von der Präsenz des Vaters (bzw. des Fehlens des Vaters von mehr als sechs Monaten in den ersten sechs Lebensjahren) zum Zeitpunkt t1 und t3 in der Jahrgangskohorte 1935 (n = 125) der Verlaufsstichprobe. Die Fallschwelle des BSS-Summenwertes wird bei einem Wert von > 4 überschritten.

Diskussion

Wesentlicher und zentraler Befund der vorgelegten Untersuchung ist der statistisch bedeutsame und im Verlauf sogar noch deutlicher werdende Zusammenhang zwischen Anwesenheit bzw. Fehlen des Vaters in den prägungssensiblen ersten sechs kindlichen Entwicklungsjahren und der im späteren Leben bestehenden psychogenen Beeinträchtigung. Von den 125 langzeituntersuchten Probanden des Geburtsjahrganges 1935 fehlten in fast 60% der Fälle die Väter in den ersten 6 Lebensjahren, für den Geburtsjahrgang 1945 beträgt der Anteil der fehlenden Väter immer noch 41%. Erst beim Nachkriegsgeburtsjahrgang 1955 reduziert sich dieser Anteil auf ca. 10%. Diese enorm hohe Rate der fehlenden Väter war bedingt durch die zivilisatorische Katastrophe der Nazidiktatur und ihre kriegerischen Folgen. Auch heute noch überschreiten die ehemaligen Kinder des Krieges als Erwachsene statistisch ebenfalls signifikant die Fallschwelle, sie sind psychogen deutlich schwerer beeinträchtigt als die Probanden, die auch in den Kriegs- und Nachkriegsjahren eine stabile Beziehung zum Vater hatten. Die in Deutschland jahrzehntelang praktizierte Verleugnung dieser bis heute wirksamen kriegstraumatischen Zusammenhänge ist angesichts des historisch Vorgefallenen heute kaum noch nachvollziehbar und wird vielleicht nur durch die Größe der Schuld verständlich.

Hier einige von Radebold zusammengestellte Fakten: In Folge der Kriegseinwirkungen starb jeder 8. männliche Deutsche in Deutschland, darunter 4,7 Mio. Wehrmachtssoldaten. Dies bedeutet, dass über die fast sechs Kriegsjahre hinweg jeden Tag 2500 Männer starben. Insgesamt 11 Mio. deutsche Soldaten waren 1946 als Kriegsgefangene fern von ihren Familien. Für die Kinder der Kriegs- und Nachkriegszeit bedeutete dies, dass in Deutschland ¼ der Kinder ohne Vater aufwuchsen. 2,5 Mio. Halb- und 100.000 Vollwaisen hatten keine oder eine traumatisch schwer gestörte Beziehung zum Vater. Häufig waren die sog. deutschen Heldenmütter nicht in der Lage, ihre Trauer über den Verlust ihres Mannes zu verarbeiten oder gar zu zeigen. Pflichtorientiert und sozial zurückgezogen kam es in zahlreichen deutschen Nachkriegsfamilien zu einer emotionalen Erstarrung der familiären Beziehungsmuster. Viele Kinder waren einer überfordernden Parentifizierung (nach dem Motto: Was würde Dein toter Vater dazu sagen?) durch ein idealisiertes Vaterbild ausgesetzt.

In zahlreichen psychotherapeutischen Behandlungen Älterer werden dies Erfahrungen regelmäßig und unter hohem Leidensdruck thematisiert Die enormen, psychischen Folgen dieser bei Millionen von Menschen in Kriegsfolge gesetzten Traumatisierungen sind jedoch bis heute nur in Umrissen bekannt und wurden in Deutschland niemals epidemiologisch und systematisch erforscht.. Das biographische Echo dieser Erfahrung erfährt erst in allerletzter Zeit verstärktes wissenschaftliches Interesse.

Die Bedeutung des Vaters zeigte sich in unserer Untersuchung zunächst in einem verlaufsorientierten Extremgruppenvergleich innerhalb einer epidemiologischen Stichprobe. Sowohl in der Gruppe primär chronisch Erkrankter als auch in der Gruppe zunehmend dekompensierender Probanden fanden sich Hinweise auf eine gestörte oder konflikthafte Vaterbeziehung bzw. ein Fehlen des Vaters in den ersten Lebensjahren.

Darüber hinaus waren während der Kindheit bestehende psychosoziale Belastungen innerhalb unseres Regressionsmodells mit der späteren psychogenen Beeinträchtigung im Erwachsenenalter assoziiert. Wiederum war speziell das Fehlen des Vaters in den ersten sechs Lebensjahren (> 6 Monate) im Sinn einer Prädiktorvariable der psychogenen Beeinträchtigung statistisch bedeutsam. Auch das relative Risiko als Fall einer psychogenen Erkrankung klassifiziert zu werden war für die Probanden, welche in der Frühkindheit nicht über einen Vater verfügten, zu beiden Untersuchungszeitpunkten signifikant erhöht.

Das Fehlen des Vaters in den frühen Entwicklungsjahren stellt per se selbstverständlich keinen direkt monokausal gerichteten Einflussfaktor auf die psychogene Beeinträchtigung im späteren Erwachsenenleben dar. Unter bestimmten Umständen, beispielsweise im Fall einer sehr konflikthaften Elternbeziehung, kann die Abwesenheit des Vaters sogar von Vorteil für die weitere Entwicklung sein. Eine überdurchschnittlich hohe psychogene Beeinträchtigung resultiert letztlich aus dem Zusammenwirken zahlreicher Variablen wie z.B. Persönlichkeitsmerkmalen, sozialer Unterstützung, chronischen Belastungen, erbgenetischen Einflüssen und eben frühkindlichen Belastungen. Eine Trennung vom Vater über einen längeren Zeitraum scheint dann im Sinne einer Risikoerhöhung wirksam zu werden, wenn dieser Verlust im Umfeld des Kindes nicht ausreichend kompensiert werden kann.

Die biographische Reichweite der Abwesenheit des Vaters und seiner Unterstützung der Mutter bei dem Versuch, eine sichere Bindung zum Kind herzustellen, wird aber bis heute unterschätzt und sollte prospektiv in breiter angelegten Untersuchungen z.B. in kriegstraumatisierten Populationen oder anderen Risikopopulationen untersucht werden. Eine weitere Untersuchung dieser Zusammenhänge erscheint auch angesichts zunehmender Scheidungsraten und der wachsenden Zahl von Einelternfamilien als wichtig.

Väter werden z.Z. glücklicherweise bei uns nicht mehr in kriegerischen Auseinandersetzungen missbraucht, aber den Kindern fehlen sie – wie eingangs erwähnt – aus anderen Gründen. Angesichts der hier vorgestellten Befunde zur Bedeutung des Vaters in der Frühkindheit, der großen Häufigkeit und des ungünstigen Spontanverlaufs psychogener Störungen erhält dieser Umstand eine besondere sozialpolitische Brisanz. Der Sozialstatus alleinerziehender Mütter ist weit unterdurchschnittlich, ihr Armutsrisiko hoch. Aus zahlreichen Studien ist – entgegen ideologisch motivierter und budgetschonender Idealisierungen des Alleinerziehens vorzugsweise aus dem politischen Raum – bekannt, dass Kinder Alleinerziehender ein erhöhtes Risiko haben, im späteren Leben an psychischen/psychosomatischen Störungen oder Beziehungsschwierigkeiten zu leiden. Insbesondere bei depressiv erkrankten Personen, Angsterkrankungen oder bei aggressiv-impulsnah agierenden männlichen Jugendlichen und Erwachsenen wurde von verschiedenen Untersuchern ein in den kindlichen Entwicklungsjahren abwesender Vater beschrieben.

Für alleinerziehende Mütter ist es schwerer ihren Kindern zeitlich und emotional zur Verfügung stehen. Oft sind sie aufgrund zahlreicher Belastungen selber hilfsbedürftig oder müssen einer Erwerbsarbeit nachgehen. Die soziale Ablehnung und der Verlust sozialer Beziehungen sind wichtige Ursachen psychischer Belastungen und Ängste bei Alleinerziehenden. Es kann angenommen werden, daß Alleinerziehende sich ihren Kindern deshalb häufig nur mit relativ hoher emotionaler Anspannung zuwenden können. In einer in Düsseldorf durchgeführten Untersuchung gaben 21% der befragten Alleinerziehenden an, dass sie Kinder aus einer gescheiterten Partnerbeziehung als eine Belastung in einer neuen Partnerschaft erleben würden. Eine solche Beziehungskonstellation ist für das Kind sehr wahrscheinlich mit der Erfahrung latenter Ablehnung und daraus resultierenden Entwicklungsrisiken verbunden. Die Überforderung des einen und das Fehlen des anderen Elternteils können entwicklungstypische Unterstützungs- und Identifikationsbedürfnisse des Kindes systematisch in Frage stellen und zu neurotischen Anpassungsleistungen des Kindes unter Verzicht auf eigene Entwicklungsschritte in Richtung einer emotional authentischen Identität führen. Dies bedeutet nicht, dass jede alleinerziehende Mutter, jedes Kind einer Einelterfamilie zwangsläufig psychisch/psychosomatisch erkrankt. Das Erkrankungsrisiko ist in dieser Gruppe jedoch – besonders für die Jungen – überdurchschnittlich hoch und es besteht deshalb angesichts weiter fortschreitender sozialer Bindungsverluste ein unabweisbarer, dringender gesellschaftlicher Unterstützungsbedarf. Dies gilt nach vorliegenden Befunden besonders für junge, sozial benachteiligte alleinerziehende Mütter, die nicht über eine weitere Bezugsperson für ihr Kind verfügen.

Die dem Beitrag zugrunde liegende empirische Untersuchung fand unter Mitarbeit von Klaus Lieberz, Norbert Schmitz und Heinz Schepank statt. Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben und sämtlicher Tabellen sowie weitere Arbeiten zum Thema Einelternfamilien sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

Prof. Dr. med. Matthias Franz ist als Arzt für Psychotherapeutische Medizin am Klinischen Institut für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf tätig

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