28 Aug fK 3/00 Beyme
Offenheit – das wichtigste Prinzip bei einer Adoption
von Maja von Beyme
Viele Menschen beklagen oder stellen erstaunt fest, dass man in Deutschland für alles Zertifikate braucht. Kinder aber könne man „wild“ in die Welt setzen und zusehen, was dann passiert. Besonders verhängnisvolle Folgen hat dies, wenn es um Adoptivkinder geht. Diese Kinder werden zwei Mal in die Welt gesetzt. Das erste Mal ist es die ganz normale Geburt. Das zweite Mal das Abgeben und Aufnehmen eines Kindes von der ersten in die nächste Familie. Wenn diese zweite Geburt in eine neue Welt nicht misslingen soll, muss sie gründlich, offen und einfühlsam vorbereitet werden.
Die Abgabe aus der Perspektive des Kindes
Ein Kind ist neun Monate im Bauch seiner Mutter. Geruch, Stimme und auch Stimmungen der Mutter sind ihm vertraut. Sie sind die einzigen Orientierungen für die Welt, in die es entlassen wird. Der Verlust dieser Vertrautheit gleich nach der Geburt ist ein traumatisches Erlebnis, das ein Leben lang nachwirkt. Nur durch Adoptiveltern, die sich diesem Ereignis stellen und zum Kind gehörend akzeptieren, kann es gemildert werden. Sie dürfen nicht dem Irrtum verfallen und meinen, die Vergangenheit des Kindes mit viel Liebe ungeschehen machen zu können. Liebe allein genügt nicht!
Bei fast allen leiblichen Müttern können „Liebesreserven“ mobilisiert werden. Hartnäckig und einfühlsam muss mit ihnen darum gerungen werden, sich von ihrem Kind zu verabschieden. Es ist für sie selbst als Überprüfung ihrer Entscheidung wichtig. Aber das Kind „versteht“ diese Verabschiedung als schmerzliche Realität und bekommt damit eine Chance, sich auf die neue Realität einzulassen. Die leibliche Mutter bereitet damit ihrem Kind den seelischen Weg in die neue Familie.
Dieses Sich-Verabschieden ist altersunabhängig. Auch der Säugling „versteht“, wenn die Mutter ihm liebevolle und aufmunternde Worte ins Ohr flüstert. Eine Mutter könnte beispielsweise sagen: „Ich schaffe es nicht, dich großzuziehen. Du wirst es sehr gut in deiner neuen Familie haben, sie werden die Kraft haben dich zu lieben wie es dir zusteht, da bin ich ganz sicher.“
Wenn ein Kind bei der Abgabe bereits älter ist, wird es natürlich noch schwerer für eine Mutter, ihrem Kind diese Wahrheiten zu sagen. Sie ahnt die heftigen Reaktionen ihres Kindes von Verzweiflung bis Zorn. Um dies aushalten zu können, braucht sie ihrerseits viel liebevolle Unterstützung. Wie schmerzvoll es für ein Kind auch sein mag, es ist gleichzeitig der erste realitätsgerechte positive Schritt in seine neue Familie, in die Zukunft.
Die Aufnahme aus der Perspektive des Kindes
Im besten Fall hat das Kind eine entschiedene Mutter erlebt, die ihm all´ dies auf seinen Weg mitgibt. Oft aber schaffen die abgebenden Mütter diesen letzten Liebesakt nicht. Die Kinder kommen verletzt in die neue Familie. Die Adoptiveltern benötigen neben ihrer großen Liebe für das Kind auch ein immenses Wissen, das ihnen zusteht. Hingebungsvolle Zärtlichkeit verbunden mit dem festen Willen, dem Kind einen unumstößlichen Platz in der eigenen Familie zu sichern und ihm zugleich seine Biografie, seine Wurzeln zu lassen. Auch dann werden die Kinder immer wieder die eigenen Verletzungen spüren. Sie haben aber die Chance, mit Hilfe ihrer Adoptiveltern die Verletzungen in ihr Leben zu integrieren, und zwar vom ersten Tag an. Im Laufe des Lebens muss das Thema Adoption immer wieder angeschnitten werden. Beispielsweise gibt es Tage, an denen die Quengeleien und Unzufriedenheiten eines Adoptivkindes keinen konkreten Grund haben. Das Kind ist einfach unausstehlich! In solchen Momenten könnte es angebracht sein, das Kind in die Arme zu nehmen und zu fragen, ob es vielleicht an seine Bauchmama (wie auch immer man die leibliche Mutter nennen mag) denke. Dann erleben Eltern häufig einen Ausbruch von Tränen und Sätze wie: „Keiner hat mich lieb!“ Dann sollten Eltern auf keinen Fall Rechtfertigungsreden halten, oder gar mit Vorwürfen reagieren. Sie könnten das Kind einfach fest im Arm halten und vielleicht fragen: „Glaubst du das wirklich?“ Das Kind sollte das Gespräch bestimmen, die Mutter oder der Vater nur reagieren, höchstens Verständnisfragen stellen. Es sei denn, das Kind verbeißt sich in seinen Schmerz. Dann ist es auch mal ratsam, das Kind daran zu erinnern: „Weißt du eigentlich, dass ich auch oft traurig bin, dass du nicht in meinem Bauch gewachsen bist?“
Wie kann man lernen, gute Adoptiveltern zu werden?
Gute Eltern zu sein ist sehr schwer, aber gute Adoptiveltern zu sein muss gelernt werden. Bei Jugendämtern, Landesjugendämtern oder Adoptivelternvereinigungen sollten hierzu Kurse angeboten werden. In diesen Kursen müsste gelernt werden, wie man an die Gefühle eines verletzten Kindes herankommt. Hilfreich sind dabei Rollenspiele, in denen alle Eltern einmal die Rolle des Kindes übernehmen sollten, um zu spüren, was alles in einem Kind vorgehen kann. Wie sich Kinder oft alleine fühlen, wenn z.B. die Eltern reden und reden: Keinem Kind kann „beigebracht“ werden, dass man es liebt. Das muss es spüren. Dazu ist Schweigen oft das sinnvollere Mittel.
Wie sieht ein solcher Prozess bei Adoptivkindern aus fernen Ländern aus? Das fremdartige Aussehen zwingt die Adoptiveltern von vornherein, die Adoption vor aller Welt nicht zu verleugnen. In diesem Umstand liegt ein Vorteil. Für alles Übrige gelten die allgemeinen Regeln der Offenheit und das Verstehen der Verletztheit des Kindes. Hier können Adoptiveltern zwar keine Unterstützung bei der Suche nach den Eltern anbieten. Aber sie können die „leibliche“ Kultur ihrer Kinder positiv in die eigene Familie integrieren. Sie können sich viel Wissen über diese fremde Kultur aneignen. Eines Tages können sie ihrem Kind vorschlagen, dieses Land gemeinsam zu besuchen. Je mehr sie aus dieser Kultur in ihr Haus holen, desto leichter ist es für das Kind stolz zu sein, „von dort“ zu kommen.
Adoptiveltern laufen immer wieder Gefahr, ihre Kinder schonen zu wollen. Deshalb sprechen viele kaum über ihre eigenen Phantasien, die die leiblichen Eltern der Kinder betreffen. Aus solchen Äußerungen würden sich viele Gesprächsmöglichkeiten ergeben. „Die Kinder werden schon fragen, wenn sie etwas wissen wollen“, ist ein immer wieder zu hörender Satz. Nein! Sie fragen eben sehr oft nicht! Sie spüren die Unsicherheiten ihrer Eltern und wollen diese nicht in schwierige Situationen bringen. Außerdem haben sie Angst, wieder weggeschickt zu werden, sobald sie zu unbequem sind. Erst wenn Adoptiveltern sich innerlich wirklich frei gemacht haben, und völlig unbefangen gegen Jedermann mit dem Thema Adoption umgehen können, werden sie ihrem Kind helfen können, sich diesem schmerzlichen Thema zu stellen. Dieses gemeinsame Erleben der schmerzlichen wie auch der schönen Themen bringt ihnen viel Nähe.
Manchmal kann eine Adoption nicht offen durchgeführt werden, weil das Kind oder seine neue Familie dadurch in Gefahr geriete. Dennoch muss von Anfang an das Prinzip der Offenheit gewährleistet sein. Auch wenn die leiblichen Eltern schwierige Biografien vorzuweisen haben, besteht kein Grund, dies dem Kind ab einem gewissen Alter zu verschweigen. Voraussetzung ist, dass die Adoptiveltern vorher die Eltern kennengelernt und nach deren verletzten Seiten gesucht haben. Neben der z.B. kriminellen oder geistig gestörten Person zeigt sich ihnen plötzlich ein verletztes Kind mit liebenswerten Ecken. Sowohl die eine wie auch die andere Seite zu kennen, ist für Adoptivkinder von existentieller Wichtigkeit. Sie brauchen die ganze Wahrheit, um in Abgrenzung zu ihnen ihr eigenes Ich zu finden.
Eine gut vorbereitete Adoption kann ein Segen für alle sein, die an dem Prozess beteiligt sind. Ein offener, lebenslanger Dialog ist notwendig und auch lernbar. Für eine gelungene Adoption gilt eigentlich immer: Die Adoptiveltern sind für das Kind Mutter und Vater. Die leiblichen Eltern werden zu guten Freunden.
Maja von Beyme ist Diplom-Pädagogin, Familientherapeutin und Verfahrenspflegerin. Sie war 25 Jahre im Jugendamt Heidelberg für Adoption und Pflegefamilien zuständig.
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