24 Jun fK 2/10 Jerg
Inklusion von Anfang an
Entgrenzungen als Herausforderung für eine inklusive Gestaltung von Kindertagestätten
Von Jo Jerg
Inklusion zu ermöglichen und zu gestalten ist eine Kernaufgabe der Sozialen Arbeit, einschließlich der frühkindlichen Bildung und Erziehung. Im Gegensatz dazu ist in vielen Feldern der Sozialen Arbeit die Arbeitssituation der Pädagog(inn)en durch Exklusionsverwaltung, also die Unterstützung der Klientel in abgesonderten Räumen, gekennzeichnet. Für den Bereich der frühen Kindheit bestehen gute Chancen für eine inklusive Ausgestaltung der Angebote, weil hier der Leistungs- und Konkurrenzdruck nicht maßgeblich ist.
Realität ist: Kinder mit Behinderungen bzw. mit einem spezifischen Unterstützungsbedarf werden in den Bundesländern unterschiedlich, in Deutschland insgesamt noch wesentlich durch die Inklusion in Exklusionsbereiche gesellschaftlich eingebunden. Das heißt circa die Hälfte der Kinder mit Unterstützungsbedarf besucht noch Sondereinrichtungen in der Kindheit und wird räumlich ausgegliedert.
„Denken ohne Geländer“ – Inklusion beginnt in den Köpfen!
Inklusion zu realisieren bedeutet u. a., über vorhandene Grenzen und Ordnungsvorstellungen nachzudenken, sie zu hinterfragen, zu öffnen oder überwinden zu müssen. Eine Metapher für Entgrenzungen bietet Hannah Arendts Bild „Denken ohne Geländer“, in dem durch das Loslassen des Gewohnten und Vertrauten neue Perspektiven eröffnet werden. Inklusion beginnt deshalb in den Köpfen und meint: „Menschen haben nicht nur mit anderen Menschen Umgang, sondern auch mit sich selbst. Diese Verkehrsform heißt Denken“. Dies beinhaltet eine partnerschaftliche Auseinandersetzung mit sich selbst, eine Reflexionsarbeit an der eigenen Haltung. Deshalb besteht die Herausforderung bei der Entwicklung von inklusiven Settings, Entgrenzungen bei sich und mit anderen zusammen zu realisieren. Mit anderen Worten: es geht darum, Barrieren auf unterschiedlichen Ebenen zu beseitigen.
Der Beitrag nimmt drei Dimensionen von Entgrenzungen in den Fokus, die als Grundgedanken zur Entwicklung eines inklusiven Alltags dienen können. Um den Weg einer inklusiven Ausgestaltung der Kindertagesstätten beschreiten zu können bedarf es der (1) Entgrenzung unserer Denk- und Ordnungsvorstellungen, die wir als „in Strukturen gefrorene Prozesse“ verstehen können und die mit dem Inklusionsverständnis neu bearbeitet werden, (2) Entgrenzung der bisherigen Aufgabenfelder durch die Einbindung einer Vernetzung und Gemeinwesenorientierung, (3) Entgrenzung von Arbeitsmethoden durch eine Beteiligungskultur und Entwicklung demokratischer Strukturen.
Ein Leitbild für Inklusion: „Jedes Kind ist willkommen“
Der Weg zu einer inklusionsorientierten Ausrichtung braucht eine klare Bestimmung, was Inklusion konkret mit dem Bild des (behinderten) Kindes zu tun hat. Anhand des Verhältnisses normal-behindert, von unterschiedlichen Benachteiligungsformen, der Uneindeutigkeit von Exklusion und der Konstruktion von dem Bild des Kindes soll exemplarisch verdeutlicht werden, wie grundlegend diese Begriffsdiskussionen für konzeptionelle Entwicklungen sind.
Von der Integration zur Inklusion – Entgrenzung der Behinderungsbilder
Der Wechsel vom Integrations- zum Inklusionsverständnis eröffnet eine sichtbare gedankliche Aufhebung des gängigen Zwei-Welten-Bildes: auf der einen Seite „Normalität“ und auf der anderen Seite „Behinderung“. Dem Konzept der Integration liegt die Idee zugrunde, dass diejenigen, die integriert werden sollen, außerhalb stehen und durch einseitige oder wechselseitige Anpassungen integriert werden können. Der Inklusionsbegriff schließt alle selbstverständlich mit ein und setzt Vielfalt und Unterschiedlichkeit als gegebene Realitäten.
Mit diesem inhaltlichen Wechsel gilt es zu lernen, dass die Unterscheidungen zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen nicht grundlegend sind, sondern die von außen gesetzten Lebensbedingungen Grenzen für den einzelnen Menschen mit Behinderung setzen. Dazu müssen die „Behinderungsbilder“ in den Köpfen der so genannten nichtbehinderten Menschen mit konkreten Begegnungen konfrontiert werden, um die Verbundenheit mit dem eigenen Dasein erkennen zu lernen.
Eine prägnante Kurzfassung des umfassenden Verständnisses für Inklusion lautet: „Geht nicht – gibt´s nicht!“ Inklusion ist ein Menschenrecht, das durch die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung nochmals neu durchzubuchstabieren ist. Diese zusätzliche und spezifische Form der Menschenrechte ist eine Übersetzung der allgemeinen Menschenrechte für Menschen mit Unterstützungsbedarf und als eine Erinnerung und Aufforderung zu verstehen. Sie ist deshalb notwendig, weil auf politischen und strukturellen Ebenen noch diese besondere Perspektive benötigt wird, damit die strukturell selbst erzeugte Ungleichheit und Benachteiligung für diese gesellschaftliche Gruppe bearbeitet und die Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen wahrgenommen, ernst genommen und umgesetzt werden.
Vielfalt als Chance für Gemeinsamkeit und Differenz – Beseitigung der strukturellen Benachteiligung unterschiedlicher Zielgruppen
Den Blick ausschließlich auf die Zielgruppe der Kinder mit Behinderungen zu richten, ist eine Engführung der Inklusion, weil die Betonung von Behinderung/Assistenzbedarf immer wieder diese besondere Zuschreibung von behindert/nichtbehindert herstellt und Stigmatisierungen mit produziert. Was verbindet die Lebenswelten von Kindern mit Behinderungen mit anderen strukturell benachteiligten Lebenswelten? Andere Differenzkategorien wie sozialer Status, Armut, Migrationsgeschichte, Geschlecht, Religion u. a. beinhalten ebenso Benachteiligungen, die im umfassenden Verständnis von Inklusion mitberücksichtigt werden müssen, weil es um jedes einzelne Kind mit seinem besonderen Unterstützungsbedarf geht. Diese Grundlagen bieten auch eine hohe Anschlussfähigkeit an den Begriff und das Konzept Diversity und Intersektionalität.
Exklusion ist per se nicht negativ – Das Ende der Eindeutigkeit
Der Inklusionsbegriff ist ein schillernder Begriff. Er wird je nach Fachgebiet – z. B. in Naturwissenschaften, Pädagogik, Soziologie – sehr unterschiedlich verwendet. Mit dem systemischen Verständnis von Inklusion und Exklusion wird das pädagogische Verständnis von Inklusion erweitert, das Inklusion per se als positiv und Exklusion als negativ setzt.
Der systemische Inklusionsbegriff entstand aus der Erkenntnis, dass heutige Gesellschaften durch Ausdifferenzierung in Teilsysteme gekennzeichnet sind (u. a. Wirtschaftssystem, Erziehungssystem, Rechtssystem). Die Zuordnung Inklusion-Exklusion hält zunächst ohne Wertung bzw. ohne positive oder negative Zuschreibung fest, ob ich einen Zugang oder keinen Zugang habe zu dem jeweiligen Teilsystem. Ob Inklusion oder Exklusion von dem oder der Einzelnen positiv oder negativ bewertet wird, hängt davon ab, ob er/sie selbst die Wahl hat darüber zu entscheiden, wo er/sie zugehörig bzw. nicht zugehörig sein möchte. Entscheidend ist, ob ich zu den relevanten Teilsystemen wie Bildung oder Wirtschaft einen Zugang erhalte.
Exklusion steht für zwei unterschiedlich zu bewertende Prozesse. Zum einen kann es in unserer heutigen Gesellschaft inzwischen ganz unterschiedliche Personenkreise treffen, die mit Ausschließungstendenzen kämpfen müssen. Dabei gibt es trotz der allgegenwärtigen Ausschlussgefahr gesellschaftliche Gruppen, die der Gefahr einer Exklusionskarriere besonders ausgesetzt sind, u. a. zählen hierzu Menschen mit Unterstützungsbedarf. Der Verlauf von Exklusionsprozessen lässt sich nach Andreß/Stichweg an drei relevanten Kippstellen aufzeigen: Startpunkte, Beschleuniger und Auffangmechanismen.
In Bezug auf die Lebenswelten von Kindern mit Behinderungserfahrung wird aus dem systemtheoretischen Kontext deutlich, dass Startpunkte für Exklusionskarrieren durch Barrieren zur Bildung gegeben sind und durch das Etikett Behinderung beschleunigt werden. Dies gilt ebenso für Kinder mit anderen Benachteilungen. Mögliche Stoppmechanismen in der Exklusionskarriere sind z. B. Gesetze. Deshalb ist die Behindertenrechtskonvention ein neuer Anker und Hoffnungsfunke für Familien mit Kindern mit Unterstützungsbedarf.
Zum anderen lässt die zunächst wertneutrale Differenzierung von Inklusion und Exklusion auch andere Deutungen der Exklusion im Kindergartenalltag sichtbar werden. Ein spezifisches Lernangebot für Kinder im Regelkindergarten z. B. kann im positiven Sinne ein Exklusives sein, wenn das Kind diese Einzel- bzw. Kleingruppenzuwendung schätzt und seine Themen bearbeiten kann. Der neue Blick liegt darin, dass diese Exklusion positiv zu schätzen ist, wenn diese Exklusivität für jedes Kind gilt, nicht nur für so genannte behinderte Kinder.
Inklusion ist anschlussfähig an aktuelle Bildungsdiskurse
Es gibt den oft zutreffenden Satz: „Auf den Anfang kommt es an!“ Die ersten Jahre sind, wie die neueren Forschungen in der frühkindlichen Bildung zeigen, eine wichtige Phase in Bezug auf Bindung und Bildung – beide Bereiche sind für die Entwicklung jedes Menschen von besonderem Belang. Betrachtet man die Bildungsdiskussion für den Kindergartenbereich und den fachlichen Diskurs über Qualitätsstandards und Qualitätssicherung in Kindergärten, so werden Berührungspunkte, Überschneidungen und eine Anschlussfähigkeit inklusionspädagogischer Ansätze und Orientierungen sichtbar.
Fthenakis verweist darauf, dass die Öffnung der Bildungsdebatte im Kindergartenbereich durch Elschenbroich, Laewen, Schäfer u. a. unterstützt wurde, aber ein weitergehendes Verständnis in der Erzieher(innen)ausbildung bzw. deren Reform stärker in den Blick genommen werden muss: Vor dem Hintergrund postmoderner Diskurse über veränderte Lebensbedingungen, in denen Lebensverläufe und soziale Lagen sich ausdifferenzieren, Lebensperspektiven unberechenbar werden, erweitert u. a. Fthenakis’ Beitrag zur aktuellen Bildungsdiskussion den Blick auf die Lern- und Lebenswelten von Kindern. In Bezugnahme auf den internationalen Diskurs und auf entwicklungspsychologische Standards hebt er hervor, dass es sich bei dem Prozess der Aneignung von Realität vor allem um einen sozialen Prozess handelt. „So hat sich in der internationalen Kultur zunehmend die Einsicht durchgesetzt, dass das Kind eher in dem Sinne als kompetent verstanden werden kann, dass es intelligent sozial agiert, als dass es als einsamer Wissenschaftler die Welt des Unbekannten entdeckt.“ Das Kind wird somit als ein (inter)aktives Subjekt verstanden, das in der Auseinandersetzung mit den zur Verfügung stehenden Wissensvorräten und Kulturräumen mit anderen zusammen seine Identität im sozialen Raum entwickelt.
Was heißt dies für Kinder mit einem hohen Unterstützungsbedarf? Jutta Schöler konnte in der Reflexion langjähriger Erfahrungen integrativer Praxis feststellen: „Je schwerer die Behinderung ist, umso notwendiger braucht ein Kind die vielfältigen Anregungen der nichtbehinderter Kinder“. Nehmen wir den Alltag der Sondereinrichtung kritisch unter die Lupe, so lässt sich zugespitzt formulieren: was heißt es, in einer Gruppe des Sonderkindergartens zu sein, in dem kein Kind spricht, kein Kind ein Lied singen kann oder alle Kinder mit Sprachhemmnissen zu tun haben und nur die Erwachsenen sprechen etc.? Warum sollen diese Gegebenheiten Förderung bzw. fördernde Lernbedingungen sein?!
Inklusion benötigt gemeinsame und geteilte Verantwortung
Inklusion zu realisieren, erfordert strukturelle Rahmenbedingungen herzustellen, die die notwendigen Unterstützungsangebote und individuellen Assistenzen im Alltag ermöglichen. Dies ist nur zu erreichen, wenn einerseits Träger und Kommune die inklusive Ausrichtung teilen und den politischen Willen zur Inklusion einlösen. Andererseits bedarf es einer Entwicklung bezüglich Durchlässigkeiten, die weit über den Kita-Alltag hinausgeht und neue Aufgaben mit einbeziehen muss. Dabei sind als Hintergrund für diese umfassende Neustrukturierung die „riskanten Freiheiten“ (Beck/Beck-Gernsheim) in modernen Lebensbedingungen mit zu berücksichtigen.
Auf den ersten Blick vollzieht sich die Inklusion durch einen räumlichen Wechsel, also vom Sonderkindergarten in den Regelkindergarten. Aber es sind noch viele andere Wechsel damit verbunden und notwendig: auf der Beziehungsebene, in Bezug auf Finanzierungsmodelle, veränderte Angebots- und Infrastrukturen und verlässliche Unterstützungsleistungen etc. In der weiteren Darstellung werden anhand der Durchlässigkeit und Demokratisierung der Strukturen zwei zentrale Aufgaben beschrieben, die im Hinblick auf die Absicherung der Unterstützungsleistungen in inklusiven Lebensbezügen von Bedeutung sind.
Durchlässigkeit nach innen und außen ausbauen und verstärken
Durchlässigkeit – auch eine Form der Entgrenzung – zeichnet sich dadurch aus, dass vorhandene Trennungen überwunden werden, indem durch eine gegenseitige Annäherung Verbindungen hergestellt werden. Ein anderes Bild für Durchlässigkeit ist Vernetzung. Durchlässigkeit zeigt sich in Bewegung und Beweglichkeit und erfordert Kooperation und gemeinsame Verantwortung und kann dem Ziel einen Weg zu individuellen passgenauen Hilfen bahnen.
Eine Kindertagesstätte alleine kann keine nachhaltige gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen. Zum einen bedarf es der Durchlässigkeit der Hilfeformen von Regeleinrichtungen und Sondereinrichtungen. Es muss selbstverständlich werden, dass in einer Kindertagesstätte im Stadtteil alle notwendigen sonderpädagogischen und therapeutischen Angebote und Unterstützungsformen mit eingebunden werden und die z. T. vorhandenen Abgrenzungen (Konkurrenz) und Hierarchien zwischen den Bereichen überwunden werden (interdisziplinäre Teams und Hilfemix). Dies gilt auch für den Übergang in die Schule. Zum anderen bedarf es einer weiteren Durchlässigkeit der Mitarbeiter(innen)teams: Teams in den Einrichtungen sind bisher kaum sozialräumlich vernetzt. Die Eigenlogik der Institutionen lässt noch oft eine Durchlässigkeit zwischen den Angebotsbereichen vermissen. Anzudenken wären noch weitergehende Entgrenzungen von Hilfebereichen. Eine Vernetzung mit der Jugendhilfe, mit der Familienhilfe, mit den gemeindeorientierten Hilfen oder der Nachbarschaftshilfe, um nur wenige zu nennen, kann Synergieeffekte mit sich bringen, die im Hinblick auf die Einbindung von Kindern mit hohem Unterstützungsbedarf – im Bereich der Pflege oder Interaktionsbegleitung – besonders relevant sein können. Neuere Konzepte, wie z. B. Kinder- und Familienzentren, bieten hierfür eine gute Basis.
Netzwerken – Erweiterung des professionellen Rollenverständnisses von Erzieher(inne)n
Um diese Durchlässigkeit herzustellen und Sicherheit zu entwickeln und zu geben, braucht es eine Gemeinde, in der Kinder mit Unterstützungsbedarf selbstverständlich Bürger und Bürgerinnen sind und wie andere auch an den unterschiedlichen Angeboten teilhaben. Dazu bedarf es verlässlicher Netzwerke mit inklusiven Angeboten in der Gemeinde sowie auch Begegnungsmöglichkeiten von Selbsthilfegruppen von Familien mit Kindern mit Assistenzbedarf. Zur Entwicklung dieser Netzwerkstrukturen müssen pädagogische Mitarbeiter(innen) in der Kindertagesstätte Ressourcen für Sozialraum- und Gemeinwesenarbeit einsetzen und anerkannt bekommen.
Jenseits der Kita – Rahmenkonzepte für Inklusion und inklusive Netzwerke
Die Entwicklung eines inklusiven Klimas und einer inklusiven Infrastruktur im Gemeinwesen ist die Aufgabe der Kommune/des Landkreises und eine wichtige Basis für deren nachhaltige Entwicklung innerhalb und außerhalb der Kita. Diese Aufgabe muss zusammen mit anderen Hilfeangeboten, Regeleinrichtungen, Bildungseinrichtungen, Stadtplanungsentwicklung, Wohnungsbau, Mitbürger(inne)n etc. gelöst werden. Es geht dabei um eine Verantwortungsteilung zwischen den Beteiligten in der Kommune. Dieser Umbau der Gesellschaft zu einem vernetzten System von persönlichen und familiären Ressourcen, nachbarschaftlichen Netzwerken und Bürgerschaftlichem Engagement sowie professionellen Hilfen benötigt über einen mittelfristigen Zeitraum zusätzliche Investitionen und ein Denken jenseits der Zielgruppen.
Mit der Teilhabe wächst die „Teilgabe“ bzw. eine Beteiligungskultur
Inklusion ist ein permanenter Prozess zur Demokratisierung der Entwicklung von Unterstützungsangeboten. Inklusion ist eine Idealvorstellung, die es anzustreben gilt und die eine kontinuierliche Bearbeitung erfordert. Mit ihr unausweichlich verbunden ist die Entwicklung demokratischer Entscheidungsprozesse.
Ein zentraler Schlüssel für gelingende und an Sicherheit orientierte Wege liegt in der Beteiligung der Kinder mit Behinderungserfahrung und ihren Familien. Die Entwicklung der Hilfen muss im Elementarbereich mit den Eltern erarbeitet und abgestimmt werden, um eine gelingende Teilhabe zu erzielen. Die Erfahrungen in inklusiven Settings zeigen in allen Lebensbereichen, dass
– in der Regel Eltern durch die Beteiligung an der Entwicklung der Hilfen ein sehr hohes Engagement entwickeln,
– vorhandene Ängste der Eltern gegenüber Veränderungen durch den gemeinsamen Entwicklungsprozess gelingend bearbeitet und die Veränderungen positiv bewertet werden können,
– die Möglichkeit, in der Alltagsbewältigung selbst aktiv werden zu können und Verantwortung zu übernehmen, eine neue Lebensqualität bildet, die die Eltern positiv und Lebenssinn stiftend erfahren und die zugleich deren Selbstwertgefühl stärkt.
Menschen an der Entwicklung ihrer Hilfen zu beteiligen, ist nach Richard Sennett (2002) eine der zentralen Bedingungen für einen respektvollen Umgang miteinander. Mit der aktiven Beteiligung der Eltern, die neben der Funktion im Elternbeirat auch als Berater(innen) für andere Eltern mit eingebunden werden können, wird das Expert(inn)enteam grundlegend über den Rahmen der Professionellen hinaus erweitert.
Teilgabe stärken erhöht die Chance auf Anerkennung und die Möglichkeit von Demokratieerfahrungen
Mit dem Besuch eines Regelkindergartens können Kinder mit Behinderungserfahrung öffentlich zeigen, dass sie etwas für die Gemeinschaft tun können und wollen. Inklusive Angebote verändern die Welt der Kinder mit Behinderungserfahrung in grundlegenden Dingen. Sie sind wie andere Kinder u. a. Spielpartner(innen), ein/e Freund/in in der Nachbarschaft, ein Mitglied der Gruppe, das vielleicht gut trösten kann, oder ein Kind, das jedem anderen Kind zeigt, dass es normal ist, mit manchen Anforderungen Schwierigkeiten zu haben. Kinder mit Behinderungserfahrungen sind stolz, diese vielfältigen Rollen übernehmen zu können und mit diesen Rollen für andere bedeutsam zu werden.
Teilgabe heißt: ich habe die Gelegenheit, etwas zu geben und erhalte dafür in der Regel eine Anerkennung. Voraussetzung für die Teilgabe in inklusiven Settings ist, dass die Professionellen die Interessen und Fähigkeiten der Kinder mit Behinderungserfahrung erkennen müssen und Gelegenheiten schaffen, damit diese Kinder auch ihre Fähigkeiten einbringen können. Richard Sennett (2002) weist darauf hin, dass es vor allem darauf ankommt, die eingebrachten Fähigkeiten der Menschen zu erkennen. Dies führt dazu, dass Ungleichheiten weniger bedeutsam werden. Wenn erkannt wird, dass jedes Kind etwas beitragen kann, spielen die Unterschiede keine so große Rolle. Die Beteiligung der Kinder an der Gestaltung des Alltags, z. B. durch Kinderkonferenzen, in denen Kinder ihre Bedürfnisse und Interessen äußern und mit anderen abstimmen lernen, bietet Gelegenheiten, mit Vielfalt umzugehen.
Der „Index für Inklusion“ – ein Arbeitsbuch zur Gestaltung von inklusiven Entwicklungen
Um diese Entwicklungsschritte umzusetzen, ist der „Index für Inklusion“ ein hilfreiches Arbeitsinstrument, weil er mit den Dimensionen: inklusive Kulturen, inklusive Strukturen und inklusive Methoden jeder Kindertageseinrichtung die Möglichkeit eröffnet, mit ihren spezifischen Fragen an einer prozessorientierten inklusiven Ausrichtung mit einer umfassenden Beteiligungskultur zu arbeiten und sich darin zu qualifizieren.
Der Text ist eine stark gekürzte Fassung des gleichnamigen Beitrags in der Schriftenreihe der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, Verlag Evangelische Gesellschaft Stuttgart (erscheint im Herbst 2010). Der vollständige Text einschließlich der Fußnoten und Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.
Prof. Jo Jerg ist Hochschullehrer und Enthinderungsbeauftragter an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg.
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