fK 2/10 Hausmanns

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen als Grundlage und Messlatte von Bildungs- und Behindertenpolitik

Von Sibylle Hausmanns

Vor mehr als 20 Jahren, im November 1989, wurde die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-KRK) verabschiedet und 1992 von der Bundesrepublik ratifiziert. Seitdem wird die Umsetzung der Konvention hauptsächlich in Kinder- und Jugendhilfe- sowie Kinderschutzkreisen politisch und fachlich diskutiert und betrieben. 1995 gründete sich die National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention, in der inzwischen über 100 deutsche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zusammengeschlossen sind, um den Prozess der Umsetzung zu forcieren und zu begleiten. Darunter befinden sich auch Organisationen, die in der Bildung und/oder der Behindertenhilfe und -selbsthilfe tätig sind.

Kinder mit Behinderungen und Kinderrechte?
Eltern, die ihr Kind mit Behinderung auf dem Weg zum Erwachsenwerden in die Mitte der Gesellschaft begleiten wollen, erleben in vielfältiger Weise, dass ihr Sohn, ihre Tochter in erster Linie für behindert, erst dann eventuell für ein Kind gehalten wird. An den klassischen Orten einer Kindheit – in der Krippe, dem Kindergarten (hier erfreulicher Weise mit abnehmender Tendenz), dem Hort, in der allgemeinen Schule, im Sportverein, in der Musikschule, in der Jugendgruppe, der Ferienfreizeit, selbst in der Kirchengemeinde – werden diese Kinder nicht selbstverständlich erwartet.

Wer hier Teilhabe einfordert, stößt auf viele Hindernisse: bauliche und gesetzliche Barrieren, mangelnde Zusammenarbeit von Behörden und Anbietern, Barrieren in den Köpfen, scheinbar unlösbare Aufsichts- und Haftungsfragen, Ahnungs- und Hilflosigkeit der Akteure. In Krippe und Hort ist die Teilhabe von Kindern mit Behinderung bundesgesetzlich gar nicht geregelt. Von drei Jahren an bis zum Schuleintritt hat jedes Kind – ob mit oder ohne Behinderung – einen Anspruch auf einen Kindergartenplatz, der aber von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich umgesetzt wird. In einigen Ländern gibt es Sonderkindergärten oder so genannte Schulkindergärten, die auf den Besuch einer bestimmten Sonderschulform vorbereiten sollen. So beginnt Exklusion bereits im frühen Kindesalter.

Kommunale Jugendförderung und -bildung hat Kinder und Jugendliche mit Behinderungen selten als Zielgruppe im Blick, in Kirche und freier Jugendarbeit bleiben Teilhabechancen dem Engagement einzelner Personen überlassen. Im Rahmen von Schule überwiegen segregierende Angebote die inklusiven bei Weitem: nur 15 Prozent aller Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf dürfen bundesweit allgemeine Schulen besuchen. Zum Vergleich: In der EU werden im Durchschnitt 78,9 Prozent aller Kinder mit „special needs“ in allgemeinen Schulen unterstützt. Im Freizeitbereich werden nicht einmal Statistiken geführt: Die Abwesenheit von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen ist kein Thema, sie sind und bleiben unsichtbar.

Die UN-KRK spielt bisher in politischen und fachlichen Debatten der Behindertenhilfe und -selbsthilfe eine nachgeordnete Rolle, auch dort, wo es um Kinder mit Behinderungen geht. Fast naturwüchsig sind getrennte Systeme der Beratung, Begleitung, Förderung, Freizeitgestaltung, außerschulischen Bildung für Kinder mit und ohne Behinderungen und ihre Familien entstanden, die auch alle bisherigen Debatten um Integration und Inklusion unbeschadet überdauert haben.

Als außerordentlich hinderlich auf dem Weg von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in ein Leben inmitten der Gesellschaft erweist sich die Zersplitterung der Zuständigkeiten für ihre verschiedenen Bedürfnisse. Entlang den Zuordnungen des Sozialgesetzbuches ist die Verantwortung für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen zwischen den Trägern der Rehabilitation zerteilt (Kranken- und Pflegeversicherung, Jugend- und Sozialamt, Arbeitsagentur). So erhalten Kinder mit so genannten geistigen und körperlichen Behinderungen Eingliederungshilfe nach dem SGB XII, Kinder mit so genannter seelischer Behinderung nach SGB VIII. Für Hilfsmittel ist je nach Behinderung, Lage des Falles und Ort die Kranken- oder Pflegeversicherung, die Eingliederungshilfe (Jugend- oder Sozialamt? Örtlich oder überörtlich?), der Schulträger, das Integrationsamt oder die Hauptfürsorgestelle zuständig. Jede dieser Behörden entwickelt ihre eigene, mit immer neuer Begutachtung des Kindes untermauerte, von ihren Denkmustern und Gepflogenheiten geprägte Sicht auf den „Fall“. Auch das SGB IX hat hier bisher in der Praxis der Behörden keine Abhilfe geschaffen.

Die Trennung setzt sich fort bei den Anbietern der verschiedenen Hilfen, den verschiedenen Professionalitäten, verschiedenen Disziplinen in Forschung und Lehre für Kinder mit und ohne Behinderung. Besonders zwischen Kinder- und Jugendhilfe und Behindertenhilfe sowie zwischen Behindertenhilfe und Schule gab und gibt es wenig Berührungspunkte, Austausch, Befruchtung – zum Nachteil des gemeinsamen „Gegenstandes“, Kinder und Jugendliche mit Behinderungen.

In der schulischen Praxis kommen Kinderrechte allenfalls in Gestalt von Unterrichtseinheiten vor, die Kinder über ihre Rechte aufklären oder sich mit Kinderrechtsverletzungen etwa in der dritten Welt beschäftigen. Auch wenn einzelne Schulen, Dienste und Einrichtungen Leitbild, Profil und Arbeit an der Kinderrechtskonvention orientieren, fehlt eine Strategie von Bund, Ländern und Kommunen mit dem Ziel, dies zum Regelfall zu machen. Eine Strategie, für das deutsche Schulsystem gesetzliche, organisatorische, pädagogische und didaktisch-methodische Konsequenzen aus der Konvention abzuleiten, ist nicht in Sicht. Erst im März 2006, also vierzehn Jahre nach der Ratifizierung der Konvention, fasste die Kultusministerkonferenz den Beschluss, alle zukünftigen Empfehlungen und Beschlüsse an der UN-Kinderrechtskonvention zu orientieren. Eine inhaltliche Debatte blieb auch danach aus.

Wozu verpflichtet die Kinderrechtskonvention?
Die UN-KRK stellt in ihrem Artikel 1 lapidar fest: „Im Sinne dieses Übereinkommens ist ein Kind jeder Mensch, der das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat.“ In Artikel 2 heißt es: „Die Vertragsstaaten achten die in diesem Übereinkommen festgelegten Rechte und gewährleisten sie jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehenden Kind ohne jede Diskriminierung“, erstmals in einem UN-Menschenrechtsvertrag wird auch das Diskriminierungsmerkmal „Behinderung“ erwähnt. Zu den weiteren Rechten gehören die Rechte auf Leben, Überleben, Entwicklung (Artikel 6), eine eigene Identität (Artikel 8), Gesundheitsfürsorge (Artikel 24), Bildung und Erziehung (Artikel 28/29), Ruhe, Freizeit, Spiel, aktive Erholung und Teilnahme am kulturellen und künstlerischen Leben (Artikel 31). Die Vertragsstaaten verpflichten sich, diese Rechte unter Ausschöpfung der verfügbaren Mittel sicherzustellen (Artikel 4), und bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes in den Vordergrund zu stellen (Artikel 3). Kinder sollen dazu frei ihre Meinung äußern können und in allen sie betreffenden Angelegenheiten gehört werden (Artikel 12). Kinder mit Behinderungen haben darüber hinaus Anrecht auf besondere Unterstützung zur „möglichst vollständigen sozialen Integration und individuellen Entfaltung“ (Artikel 23).

Diskriminierungsverbot
Die Vorstellung davon, was eine Diskriminierung sei, hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Die Bürgerrechtsbewegungen in den angelsächsischen Ländern haben wesentlich zur Sensibilisierung und zur Ausprägung des Begriffes beigetragen. Was beispielsweise den diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung angeht, hat es in den Vereinigten Staaten rechtliche Auseinandersetzungen über getrennte oder gemeinsame Beschulung von schwarzen und weißen Kindern gegeben. Zunächst lautete die Devise, dass auch gegen den Willen der Betroffenen getrennte Bildungsangebote gleich und damit nicht diskriminierend seien. Am 17. Mai 1954 dann fällte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten einstimmig die richtungweisende Entscheidung, dass „getrennte Bildungseinrichtungen von Natur aus ungleich“ sind (Separate is not equal), mit der Folge, dass schwarze Kinder Zugang zu allen Schulen erhielten. Nur gleicher Zugang zu gemeinsamer Bildung ist also nicht diskriminierend. Erst im Sommer 2008 wendete der Oberste Gerichtshof diesen Grundsatz erstmals auf Kinder mit Behinderungen an. Acht Kinder mit Autismus hatten sich gegen die Zuweisung zu einer Spezialschule gewehrt und Zugang zur allgemeinen Schule begehrt. Eine amerikanische Bürgerrechtsgruppe unterstützte die Kinder und ihre Eltern im Verfahren.

Die von der Bundesrepublik in 2009 ratifizierte UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen präzisiert den Begriff Diskriminierung weiter: Mit Artikel 5,3 (Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung) verpflichten sich die Vertragsstaaten, „angemessene Vorkehrungen“ zu treffen, damit Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen ihre Rechte wahrnehmen können. Artikel 24 (Bildung) erwähnt in Absatz 2c noch einmal ausdrücklich die Verpflichtung, angemessene Vorkehrungen im Einzelfall zu treffen. Die Verweigerung angemessener Vorkehrungen stellt eine Diskriminierung dar.

Vorrang des Kindeswohls
Artikel 3 UN-KRK enthält ein Kernstück der Kinderrechtskonvention: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes (im Original: best interests of the child) ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist,“ heißt es dort. Zu prüfen ist in jedem Einzelfall, was dem Wohl und Interesse des Kindes entspricht. In der darauf folgenden Güterabwägung ist dem Interesse des Kindes Vorrang vor anderen Rechtsgütern einzuräumen. Wenn anders entschieden wird, müssen schwerwiegende Gründe dafür vorliegen. Die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) übernimmt den Artikel 3 KRK wortgleich im Artikel 7.

Wie herausfinden, was dem Wohl des Kindes entspricht?
In Deutschland ist die Kindeswohldebatte bisher geprägt von Anstrengungen zur Abwehr von Kindeswohlgefährdung (häusliche Gewalt, Vernachlässigung, Missbrauch, Gewalt in den Medien). Kindeswohl, im Originaltext „best interests of the child“ hat aber darüber hinaus gehende Bedeutung. Diese ist eng verknüpft mit der Sicht des Kindes als Subjekt, als Träger eigener Rechte, die weder für Eltern und Pädagogen noch für staatliche Eingriffe zur Disposition stehen. Jedes Kind wird als Individuum, als einzigartig in seinem So-sein und in seiner Weltaneignung anerkannt. „Jedes Kind ist seine eigene Norm“ fasst die National Coalition in einem Positionspapier „Die Rechte des Kindes nach der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen im Deutschen Schulwesen“ zusammen. Diese Individualität äußert sich in Eigenaktivität, dem Zugehen auf die Welt, dem Wirksamwerden, Aneignen, ein eigenes Weltbild entwickeln. Dem muss in Erziehung und Bildung (Frei-)Raum und (Frei-)Zeit gegeben werden, denn diese Prozesse geschehen im Wesentlichen selbstbestimmt, im experimentellen Kontakt und Austausch mit Umwelt und anderen Menschen. Sie dienen dem Auffinden der eigenen Reichweite, aber auch der eigenen Grenzen.

Schließlich ist das Recht auf Partizipation unmittelbar mit dem Subjektcharakter des Kindes und damit mit dem Kindeswohl verbunden. „Es handelt sich nicht um die Gewährung einfacher Mitsprache, sondern um ein mit der Persönlichkeitsentwicklung unmittelbar zusammenhängendes Menschenrecht (…). Bereits die „interaktiven Signale“, durch die sich das Kind unmittelbar nach der Geburt äußert, oder die oft unbeholfenen Kundgebungen bei Auffälligkeit oder Behinderung, wollen als Ausdruck des Eigenwesens des Kindes verstanden und geachtet werden. Das Recht des Kindes auf Partizipation hat daher sein Gegenstück in der Verpflichtung der Erwachsenenwelt, jedem Kind mit einer sein Eigenwesen achtenden Wertschätzung zu begegnen“ (Eichholz 2009). Dem Kindeswohl dient also, was Individualität, Eigenaktivität, Selbstbestimmtheit und Partizipation des Kindes würdigt, unterstützt, fördert, ermöglicht, und zwar im Kontakt und in Auseinandersetzung mit natürlicher und gesellschaftlicher Umwelt.

Kinder mit Behinderungen
Der von Menschenrechtsverletzungen besonders gefährdeten Gruppe der Kinder mit Behinderungen ist der Artikel 23 der Kinderrechtskonvention gewidmet. Er verpflichtet die Vertragsstaaten, Hilfen für Kinder mit Behinderungen „so zu gestalten, dass sichergestellt ist, dass Erziehung, Ausbildung, Gesundheitsdienste, Rehabilitationsdienste, Vorbereitung auf das Berufsleben und Erholungsmöglichkeiten dem behinderten Kind tatsächlich in einer Weise zugänglich sind, die der möglichst vollständigen sozialen Integration und individuellen Entfaltung des Kindes einschließlich seiner kulturellen und geistigen Entwicklung förderlich ist.“ Auch im englischen Text wird hier der Begriff „Integration“ verwandt. Der Zusammenhang macht allerdings deutlich, dass der freie Zugang und die volle Teilhabe gemeint sind.

Um vor dem Hintergrund der bis dahin unzureichenden Umsetzungspraxis der Kinderrechtskonvention für Kinder mit Behinderungen zu präzisieren, wie dem Ausschluss von Kindern mit Behinderungen vom Genuss ihrer Rechte entgegen gewirkt werden kann, vollzog der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes mit dem allgemeinen Kommentar (General Comment) Nr. 9 zu den Rechten behinderter Kinder den Paradigmenwechsel von der Integration zur Inklusion. Nicht die Anpassung des Kindes mit Behinderung an die Umwelt, z. B. an das System der allgemeinen Schule, sei gefragt, sondern die Anpassung der Schule an die Bedürfnisse eines jeden Kindes. In seinem Bericht über das Bildungswesen in Deutschland kommt der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für das Recht auf Bildung, Vernor Munoz, 2007 folgerichtig zu dem Schluss, dass an deutschen Schulen Kinder mit Behinderungen diskriminiert werden.

Mitteleinsatz
Artikel 4 UN-KRK bestimmt: „Die Vertragsstaaten treffen alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Verwirklichung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte. Hinsichtlich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte treffen die Vertragsstaaten derartige Maßnahmen unter Ausschöpfung ihrer verfügbaren Mittel“. Aber welche Mittel sind verfügbar? „Artikel 4 deklariert ein prozedurales Recht. Jeder Staat hat regelmäßig in einem transparenten Verfahren zu prüfen, ob alle geeigneten Maßnahmen eingesetzt wurden, um die Artikel der Konvention zu implementieren. Zu den geeigneten Maßnahmen gehört nicht nur die Bereitstellung von finanziellen Mitteln, wie der Artikel 4 deutlich macht“, so Prof. Lothar Krappmann, Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes (Krappmann 2008). Voraussetzung eines solchen Verfahrens, in dem die volle Ausschöpfung der Mittel geprüft wird, sei eine vollständige Zusammenstellung aller öffentlichen Ausgaben zur Umsetzung der Kinderrechte, aber auch der weiteren Maßnahmen zu diesem Ziel. Nichtregierungsorganisationen seien in diesem Verfahren ebenso zu beteiligen wie Kinder und/oder deren Vertreter. Sollten zentrale Verpflichtungen aus den Kinderrechten nicht voll verwirklicht worden sein, sei eine Begründung erforderlich, dass alle Anstrengungen (every effort) und Einsatz der Mittel „to the maximum extent“ unternommen wurden, um diese Verpflichtungen einzulösen. Außerdem sei dann ein Plan erforderlich, wie in einem absehbaren Zeitrahmen die volle Verwirklichung erreicht werden kann.

Grundlage? Messlatte?
Die Bundesregierung hat einen „Nationalen Aktionsplan für ein kindgerechtes Deutschland 2005-2010“ zur Umsetzung der Kinderrechtskonvention vorgelegt. Darin heißt es zum Thema Kinder mit Behinderungen: „Sie (die Bundesregierung) nimmt eine Überprüfung und gegebenenfalls Anpassung aller relevanten Gesetze und Ausführungsbestimmungen im Hinblick auf die Integration von Kindern mit Behinderungen vor.“ Diese Aufgabe ist noch nicht gelöst. Zudem reicht es nicht aus, die Gesetze und Ausführungsbestimmungen anzupassen. Auch die Umsetzung, das was bei Kindern und ihren Familien ankommt, steht auf dem Prüfstand. In den seit der Ratifizierung der Kinderrechtskonvention vergangenen 20 Jahren hätte längst auffallen und thematisiert werden müssen, dass die Angebote für Kinder mit Behinderungen eben nicht „tatsächlich in einer Weise zugänglich sind, die der möglichst vollständigen sozialen Integration und individuellen Entfaltung des Kindes“ dienen, wie es in Artikel 23 UN-KRK heißt. Ein Nationaler Aktionsplan hätte zu beschreiben, auf welche Weise, mit welchen konkreten Schritten diesem Missstand abgeholfen werden kann.

Weiter heißt es im Nationalen Aktionsplan zum Thema Bildung: „Die Bundesregierung hat es deshalb zu ihren vordringlichen Zielen erhoben, das derzeit selektive Bildungssystem umzugestalten und stattdessen die individuelle Förderung jedes einzelnen Kindes zum Herzstück einer neuen Bildungspolitik zu erklären. (…) Statt Kinder frühzeitig ein- und auszusortieren, brauchen wir mehr Vertrauen in die Bildungsfähigkeit eines jeden Kindes. (…) Wir müssen das Bildungsangebot für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf verbessern, indem wir verstärkt die integrative vorschulische und schulische Förderung von behinderten Kindern und Jugendlichen gewährleisten.“ Das Dilemma: Die Bundesregierung hat seit der Föderalismusreform keinerlei Kompetenzen in Sachen schulische Bildung mehr. Gleichwohl vertritt sie die Bundesrepublik als Vertragsstaat international.

Aber auch auf anderen politischen Ebenen gibt es zu tun: So wäre etwa die kommunale Schulentwicklungs- und Jugendhilfeplanung an der Kinderrechtskonvention zu orientieren und in diesem Zuge auf die Integration/Inklusion von Kindern mit Behinderungen zu achten. Schulen können ihr Profil auf dieser Grundlage entwickeln. Dienste der Kinder und Jugendhilfe und der Behindertenhilfe können Kinderrechte in ihr Leitbild aufnehmen – und die Umsetzung überprüfen.

Perspektiven
Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen greift die Themen der Kinderrechtskonvention auf und präzisiert, wie Kinder mit Behinderungen in den Genuss ihrer Kinderrechte gelangen können. Es wird nötig sein, beide Konventionen aufeinander zu beziehen, Kinder mit Behinderungen als Schnittmenge beider Konventionen zu betrachten. Die nötige Auseinandersetzung mit den zentralen Begriffen beider Konventionen – Kindeswohl, Inklusion, Selbstbestimmung – muss überall dort geführt werden, wo für Kinder gearbeitet wird.

Hoffnungsvoll stimmt, dass z. B. im Hinblick auf Inklusive Bildung neue Bündnisse möglich sind zwischen Verbänden aus den Bereichen Kinder- und Jugendhilfe, Bildung, Behindertenhilfe und -selbsthilfe, Bürger- und Menschenrechte. Die Kultusministerkonferenz hat eine Ad-hoc-Arbeitsgruppe eingesetzt, die die Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung von 1994 vor dem Hintergrund der Behindertenrechtskonvention überarbeitet. Verbände sitzen mit am Tisch. Inklusive Bildung ist ein Thema in den Medien. Politikerinnen und Politiker sind gesprächsbereit wie nie.

Im 13. Kinder- und Jugendbericht mit dem Schwerpunkt Kinder und Gesundheit wurde über die Lage von Kindern mit Behinderungen als Querschnittsthema berichtet. Wie schon zuvor im Bildungsbericht und im Bericht über die Lage von Menschen mit Behinderungen wurde deutlich, dass ein beschämend enger Zusammenhang besteht zwischen Behinderung, Migration, Krankheit und Armut einerseits und dem Zugang zu Bildung andererseits. Auch die Zersplitterung der Zuständigkeiten im Sozialrecht wird thematisiert. Seitdem hat eine neue Debatte über die „große Lösung“ begonnen, das Zusammenführen aller Kinder mit allen ihren Bedarfen im Kinder- und Jugendhilferecht (SGB VIII).

All dies geschieht nicht, ohne dass Betroffene und Verbände die Orientierung an den UN-Menschenrechtsverträgen permanent politisch, fachlich und notfalls juristisch einfordern, auch z. B. indem sie ergänzende Berichte zu den Staatenberichten der Bundesregierung über die Umsetzung der Kinderrechtskonvention an den UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes erstatten. Eine große Aufgabe, für die die Vorzeichen aber nie besser waren.

Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

Der Beitrag erscheint zugleich in dem Buch des Bundesverbands Lebenshilfe „Eine Schule für Alle! – Schülerinnen und Schüler auf dem Weg zur Inklusion“. Wir danken dem Lebenshilfe-Verlag Marburg für die Genehmigung.

Sibylle Hausmanns ist Mitarbeiterin des Projektbüros der Bundesarbeitsgemeinschaft „Gemeinsam leben – gemeinsam lernen“.

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