fK 2/10 Albers

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Inklusion in der frühen Kindertagesbetreuung

Anforderungen an eine inklusive Frühpädagogik

Von Timm Albers

In der Übertragung des englischen Fachbegriffs ‚inclusion’ ins Deutsche gibt es eine Tradition fehlerhafter Übersetzungen, die von der deutschen Fassung der Salamanca Erklärung über Prinzipien, Politik und Praxis der Pädagogik für besondere Bedürfnisse der UNESCO (1994) zur 2009 ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention reicht: Der im Deutschen für die Eingliederung von Menschen mit einer Behinderung ins Bildungssystem etablierte Begriff der Integration wird synonym mit dem Begriff der Inklusion verwendet, der aus fachlicher Perspektive mit einem gesellschaftlichen und bildungspolitischen Paradigmenwechsel verbunden ist und damit weit über die Zielvorgaben von Integration hinausgeht. Im vorliegenden Beitrag soll nach einer inhaltlichen Unterscheidung zwischen Integration und Inklusion herausgearbeitet werden, welche Anforderungen an die frühe institutionelle Kindertagesbetreuung innerhalb eines inklusiven Bildungssystems zu stellen sind.

Im Dezember 2006 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) die Konvention zum Schutz und zur Förderung der Rechte behinderter Menschen verabschiedet. Damit liegt erstmals ein internationales Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vor, das den Schutz der in zahlreichen UN-Konventionen und Deklarationen geregelten Menschenrechte aus der Perspektive behinderter Menschen regelt. Alle Staaten, die diesen Völkerrechtsvertrag in ihren nationalen Parlamenten ratifiziert haben, sind verpflichtet, die Gesetzgebung für behinderte Menschen so auszurichten, dass die in der Konvention geregelten Rechte verwirklicht werden und eine gesellschaftliche Entwicklung in Gang gesetzt wird, die Menschen unabhängig von der Art und vom Schweregrad ihrer Behinderung als vollwertige und gleichberechtigte Bürger ihres Landes anerkennt. Die aktuelle Rechtslage betont dabei das Recht aller Menschen auf gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und auf Vermeidung von Benachteiligungen. Auch die Salamanca-Konferenz von 1994 bekräftigte zwar das Recht jedes Menschen auf Bildung unabhängig von persönlichen Merkmalen und individuellen Unterschieden, bildungspolitische Veränderungen blieben in der Folge jedoch aus.

Mit dem Inkrafttreten der UN-Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderung in Deutschland am 26.3.2009 stehen Bildungsinstitutionen mehr denn je vor der Aufgabe, die Forderungen nach einem inklusiven Bildungssystem in der pädagogischen Praxis umzusetzen. Hier ist es von großer Bedeutung, dass ein fachliches Verständnis entwickelt wird, welches Inklusion nicht mit Integration gleichsetzt, sondern Veränderungen in der Institution fokussiert. Nicht mehr die Frage danach, ob ein Kind aufgenommen werden kann, sondern vielmehr die Frage, wie sich eine Einrichtung verändern muss, um ein Kind mit seinen individuellen Bedürfnissen aufnehmen zu können, sollte im Vordergrund stehen.

Von diesem Leitbild einer Pädagogik der Vielfalt ist die derzeitige Integrationspraxis in der vorschulischen Bildung, Betreuung und Erziehung noch weit entfernt, obwohl es in Deutschland bereits Einrichtungen gibt, die den Erfolg der gemeinsamen Sozialisation von Kindern, unabhängig von individuellen Unterschieden, eindrücklich nachweisen. Da jedoch zunächst der „teilstationäre Bedarf“ eines Kindes als Voraussetzung für die Zuweisung heilpädagogischer Unterstützung erhoben werden muss, um die Rahmenbedingungen für einen Integrationsplatz in der Krippe bereit stellen zu können, wird die Forderung nach inklusiver Bildung in der derzeitigen Praxis in keiner Weise erfüllt: Trotz einer annähernd 30jährigen Erfahrung mit der gemeinsamen Erziehung in Deutschland wird bei der Integration behinderter Kinder in Krippe und Kindergarten immer noch von einer Zwei-Gruppen-Theorie ausgegangen, nach der erst nach der Feststellung eines Förderbedarfs die entsprechenden sonder- oder heilpädagogischen Ressourcen zugewiesen werden. Entsprechend ist der Zugang zu vorschulischen Bildungs- und Sozialisationsprozessen für Kinder mit einer Behinderung unter den derzeitigen gesetzlichen Rahmenbedingungen deutlich erschwert. Eltern von Kindern mit einer Behinderung bleibt daher nur der Weg, einen Integrationsplatz einzuklagen. Im Hinblick auf den Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz im Jahr 2013 werden Entwicklungsbedarfe im Bereich gesetzlicher Rahmenbedingungen und im Hinblick auf die Aus-, Fort- und Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte in diesem Kontext immanent.

Von der Integration zur Inklusion
Die Realisierung der UN-Konvention in Bildungsinstitutionen ist mit weitreichenden Konsequenzen verbunden, da der im englischen Originaltext verwendete Begriff der „inclusive education“ in Deutschland mit Integration übersetzt wurde, jedoch weit mehr beinhaltet, als dies in der derzeitigen Integrationspraxis erkennbar wird. Inklusion setzt ein verändertes Verständnis von Normalität und Vielfalt in einer Gesellschaft voraus und unterscheidet sich in zentralen Punkten von der Integration: (1) Integration will den Menschen mit Behinderung in ein bestehendes System einpassen, Inklusion hingegen betrachtet den Menschen von Anfang als Teil der Gesellschaft.
(2) Inklusion nimmt keine Unterteilung in Gruppen (Menschen mit Behinderung, Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund etc.) vor, sie will das System (z. B. Krippe, Kindergarten, Schule, Arbeit, Wohnen) an die Bedürfnisse der Menschen anpassen.
(3) Inklusion basiert auf dem „Diversity“-Ansatz – die Unterschiedlichkeit aller Menschen ist kein zu lösendes Problem, sondern eine Normalität – an diese Normalität wird das System angepasst und nicht umgekehrt.

Inklusion setzt insofern ein verändertes Verständnis von Normalität und Vielfalt in einer Gesellschaft voraus und impliziert eine grundsätzlich heterogene Gesellschaftsstruktur, in der sich Menschen in vielfacher Hinsicht in ihren Voraussetzungen voneinander unterscheiden: seien sie geschlechtlich, sozial, ethnisch, vom Alter, der Nationalität oder körperlicher Verfassung und Intelligenz. Um den besonderen Bedürfnissen auch von Kindern mit erhöhtem Entwicklungsrisiko besser gerecht werden zu können, ist es innerhalb einer inklusiven Frühpädagogik daher notwendig,
– die Früherkennung von Entwicklungsproblemen in Einrichtungen zu verbessern,
– der besonderen Situation aller Kinder in der pädagogischen Arbeit Rechnung zu tragen (z. B. soziale Ausgrenzung zu verhindern),
– präventive Programme in Kindertageseinrichtungen zu verankern,
– pädagogische und sonder- bzw. inklusionspädagogische Kompetenzen stärker zu vernetzen (z. B. durch mobile Beratungs- und Unterstützungssysteme) und
– die pädagogische Arbeit mit Institutionen des Gesundheitswesens (Kinder- und Jugendärzte, jugendärztlicher Dienst der Gesundheitsämter, sozialpädiatrische Zentren) unter interdisziplinären Zielsetzungen in die pädagogische Planung mit einzubeziehen.

Insgesamt werden dabei die hohen Ansprüche einer inklusiven Bildung, die an die fachliche Qualität in Kindertageseinrichtungen zu stellen sind, betont: Inklusion braucht Professionalität, die mit einem veränderten Verständnis individueller Förderung und Unterstützung einhergeht. Eine inklusive Frühpädagogik setzt Veränderungsprozesse auf individueller, interaktioneller, institutioneller und gesamtgesellschaftlicher Ebene voraus. Sie fasst die Unterschiedlichkeit und Vielfalt aller Kinder ins Auge, fordert ihre individuelle pädagogische Unterstützung ein und arbeitet auf ein Umfeld hin, in dem der Heterogenität in jeder Gruppe Rechnung getragen werden kann.

Entwicklungsgefährdete Kinder unter Drei
Nach dem Sozialgesetzbuch IX gelten Menschen als behindert, wenn „ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt ist“ (SGB IX, § 2). Behinderung wird bei Kindern dieser Altersgruppe daher nur in seltenen Fällen diagnostiziert, da selbst Schädigungen der Körperfunktionen und -strukturen vielfach noch nicht eindeutig zu diagnostizieren und in ihren Auswirkungen einzuschätzen sind. Ein Beispiel bietet die Diagnose der Cerebralparese, die bei einem schweren Verlauf oft schon nach der Geburt, bei leichteren Formen mitunter aber erst im zweiten Lebensjahr diagnostiziert wird.

Die Zahl der Behinderungen, die auf eindeutige Schädigungen zurückzuführen sind (z. B. Down-Syndrom und Spina bifida), ist zudem kontinuierlich rückläufig. Als Ergänzung des Begriffs „Behinderung“ kennt das deutsche Sozialrecht daher auch die „drohende Behinderung“: Kinder mit dieser Verdachtsdiagnose sind nicht eindeutig behindert, haben aber den Anspruch auf die gleichen Leistungen wie behinderte Kinder.

Eine ausschließliche Orientierung an der Dimension der Körperfunktionen und Körperstrukturen und ihrer Schädigung würde die Erfassung der Zielgruppe ungemein erleichtern. Sie ist aber aus fachlicher Sicht nicht vertretbar, weil sie einen enormen Rückschritt hinter die in der International Classification of Functioning and Disability (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bedeuten würde. Behinderung wird von der WHO als mehrdimensionales Konstrukt verstanden, zu dem neben Körperfunktionen und Strukturen auch die Dimensionen der Aktivität und Partizipation gehören. Alle Dimensionen stehen in Wechselwirkung miteinander sowie mit den personenbezogenen und umweltbezogenen Kontextfaktoren. Behinderung wird nicht als Zustand einer Person, sondern einer Situation verstanden. Dieser starken Betonung des sozialen Charakters von Behinderung würde ein allein an Schädigung orientierter Behinderungsbegriff nicht gerecht. Die Bedeutung des biologischen und sozialen Charakters von Behinderung kommt auch in weiteren internationalen Dokumenten zum Ausdruck: Der Artikel 1 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen bezieht sich auf die Definition der WHO: „Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen (im Original: impairments) haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern“.

In der Frühförderung wird zur Erfassung von behinderten Kindern, von Behinderung bedrohten Kindern und Kindern, die in ihrer Entwicklung besonderen Risiken ausgesetzt sind, der Begriff der Entwicklungsgefährdung als Oberbegriff vorgeschlagen. Dieser Begriff umfasst neben Behinderungen biologische und psychosoziale Entwicklungsrisiken und mit entwicklungspsychologischen Verfahren diagnostizierbare Entwicklungsverzögerungen unterhalb des Schweregrades einer Behinderung. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die Kinder, die heute in Frühförderstellen gefördert werden, sich in Verhalten und Entwicklungsstand gegenüber früheren Generationen verändert haben. Im Vordergrund stehen zunehmend allgemeine Entwicklungsverzögerungen: Kinder, bei denen eine eindeutige und betreuungsbedürftige Entwicklungsauffälligkeit besteht, ohne dass sich zu diesem Zeitpunkt diagnostisch die Ursache für die Auffälligkeit feststellen lässt. Ein so verstandener Begriff Entwicklungsgefährdung ist damit anschlussfähig an den Begriff von Funktionsfähigkeit und Behinderung der WHO und die UN-Konvention. Entwicklungsgefährdung wird – ebenso wie Behinderung und im Unterschied zu den individuumszentrierten Begriffen Entwicklungsauffälligkeit oder Entwicklungsverzögerung – in ihrer Wechselwirkung zwischen Kind und Umwelt verstanden, so dass das Konzept es erlaubt, neben Risikofaktoren für die kindliche Entwicklung auch Schutzfaktoren, wie eine gelungene Eltern-Kind-Bindung oder die kompensatorische Bindungsbeziehung des Kindes zu einer Erzieherin in der Krippe, zu identifizieren.

Entwicklungsgefährdung und Krippe
Die Entwicklung von Kindern verläuft individuell sehr unterschiedlich. Auch in Krippen wird heute ein erheblicher Anteil von Kindern betreut, die in vielfältiger Weise von einer normalen Entwicklung abweichende Muster zeigen und deren spätere gleichberechtigte Teilhabe am Bildungssystem damit zumindest in Frage gestellt ist. Eine qualitativ gute Krippenerziehung gilt in diesem Zusammenhang als entwicklungsförderlich, da Erzieherinnen über Vergleichsmöglichkeiten verfügen, die ihren Blick für Auffälligkeiten in der Entwicklung oder im Verhalten von Kindern schärfen. Auch auf der Basis von Untersuchungsergebnissen ist belegbar, dass das Urteil von Erzieherinnen in dieser Hinsicht oft mit den Resultaten einer Fachdiagnostik übereinstimmt. Hier bietet der Ausbau der Kinderbetreuung für Kinder unter drei Jahre zum einen die Möglichkeit, dass erfahrene Erzieherinnen schon im Krippenalter auf Entwicklungsrückstände aufmerksam werden. Dies setzt allerdings die Fähigkeit zur systematischen Beobachtung und Dokumentation sowie die Verfügbarkeit entsprechender Instrumente, sowie eine kritische und reflektierte Auseinandersetzung mit diesen Methoden voraus.

Als entwicklungsförderlich kann sicherlich auch die Entlastung der Betreuungspersonen, in der Regel die Mütter, betrachtet werden. Dadurch entsteht eine insgesamt günstigere Familiensituation, im Extremfall kann sogar eine frühe Heimunterbringung des Kindes mit Behinderung vermieden werden. Mehrere neuere Studien zur Situation von Familien mit behinderten Kindern haben die Annahme einer generellen Gefährdung des Familiensystems durch die Entwicklungsgefährdung oder Behinderung eines Kindes allerdings widerlegt. So kann gezeigt werden, dass die Diagnose einer Behinderung ein kritisches Lebensereignis ist, zu dessen Bewältigung (Coping) Familien in sehr unterschiedlichem Umfang Strategien entwickeln, die in Zusammenhang mit ihren Ressourcen und ihrer Problemdefinition stehen.

Zu den familiären Ressourcen werden sowohl personale Ressourcen der Familienmitglieder und Merkmale des Familiensystems, ihre soziale Stellung und ihr Netzwerk als auch regionale Angebotsstrukturen gezählt. Zwar existieren derzeit noch keine Studien zur möglichen Entlastung durch die frühe außerfamiliäre Bildung und Betreuung, es gibt allerdings eine Reihe von Hinweisen dafür, dass die Möglichkeit, eigene Lebensperspektiven aufrechtzuerhalten, für Mütter behinderter Kinder von zentraler Bedeutung ist; dies betrifft insbesondere die Verbindung von Beruf und Familie. Zugleich scheint es aber nötig zu sein, in der Tagesbetreuung der Kinder ein qualitativ hochwertiges Angebot bereit zu stellen, da die Förderung der Kinder für ihre Mütter einen weitaus höheren Stellenwert hat als die eigene Entlastung. Dies gilt möglicherweise auch für die Abwägung zwischen der bestmöglichen Förderung der Kinder einschließlich ihres Kontaktes mit Gleichaltrigen und der Umsetzung von Zielen wie die finanzielle Absicherung, Fortsetzung der Ausbildung oder berufliche Tätigkeit. Auch zu dieser Frage liegen allerdings bisher keine Daten vor.

Anforderungen an das pädagogische Fachpersonal
Für die pädagogische Handlungspraxis im Umgang mit Heterogenität bestehen zur Zeit noch deutliche Forschungslücken und Professionalisierungsbedarfe, die sich sowohl auf entwicklungspsychologische Theoriebildung als auch auf konkrete pädagogische Basiskompetenzen im Umgang mit Heterogenität und den damit verbundenen Konsequenzen für die Weiterbildung pädagogischen Fachpersonals in Kindertageseinrichtungen beziehen.

Die Anforderungen an das frühpädagogische Fachpersonal kann exemplarisch anhand einer Analyse der Peerinteraktion in deutschen Kindertageseinrichtungen durch Kreuzer (2008) illustriert werden. Zusammenfassend stellt er für die Grade der Beteiligung der einzelnen Kinder als Einflussfaktoren das Alter und Geschlecht, die Dauer der Zugehörigkeit und der Status in der Gruppe, Verhaltenseigenheiten sowie Basisfähigkeiten zur Initiierung und Erwiderung von Interaktion heraus. Erschwernisse in der Peerinteraktion treten dabei unabhängig von der Diagnose einer Behinderung auf und können ebenso für Kinder mit Deutsch als Zweitsprache, Kinder aus Familien in Problemlagen, Kinder mit ungesteuertem Verhalten und entwicklungsgefährdete Kinder gelten.

Im Umgang mit dem kindlichen Verlangen nach selbstbestimmter Interaktion kommt der pädagogischen Bezugsperson insbesondere bei Kindern, die aufgrund mangelnder sprachlicher Kompetenzen Schwierigkeiten haben, sich Zugang zu einer Spielsituation zu verschaffen, eine sehr anspruchsvolle Aufgabe zu: Das Eingreifen eines Erwachsenen kann sich zwar kurzfristig als eine erfolgreiche Strategie erweisen, wenn aufgrund neuer Rollenzuweisungen neue Spielpartner in die Spielgruppe einbezogen werden können, zeigen Beobachtungen in Freispielphasen jedoch, dass in vielen Fällen eine von außen forcierte Aufnahme eines neuen Gruppenmitglieds zum Zusammenbruch des Spielmotivs und zur Auflösung der ursprünglichen Gruppe führen. Entsprechend wird in diesem Zusammenhang ein zurückhaltendes Erzieherinnenverhalten als hilfreich im Umgang mit der Problematik des Zugangs zu Spielprozessen herausgestellt: Erst wenn deutlich wird, dass Kinder nicht in der Lage sind, untereinander einen Lösungsweg zu finden, greifen Erzieherinnen unterstützend ein. Dabei ermutigen die pädagogischen Fachkräfte zunächst die von der Interaktion ausgeschlossenen Kinder, sich mit der Peergruppe auseinanderzusetzen, um eine Lösung herbeizuführen.

Pädagogische Unterstützung wird dann nötig, wenn Kinder nicht in der Lage sind, aufgrund ihrer Kompetenzen befriedigende Interaktionsprozesse zu etablieren oder aufrecht zu erhalten. Casey (2008) verweist in diesem Kontext auf die Rolle der Erwachsenen als empathische Spielgefährten und Mittler, wenn diese bemerken, dass sich ein Spiel aufzulösen droht oder Prozesse der Exklusion offensichtlich werden. Die Autorin nennt dabei „subtile und effektive Strategien“, um die Kommunikation zwischen den Kindern zu ermöglichen oder zu erleichtern. Durch gezieltes Eingreifen oder durch die Einführung neuer Rollen und Spielobjekte kann die pädagogische Fachkraft beispielsweise die Weiterentwicklung eines Spiels so beeinflussen, dass Kindern die Teilhabe am Spiel ermöglicht wird, die ansonsten vom Spielprozess ausgeschlossen werden würden. Ytterhus (2008) bezeichnet in diesem Zusammenhang „die Membran zwischen inkludierendem und exkludierendem Umgang“ in der Peergroup als sehr dünn, die Instabilität der Struktur im sozialen Umgang der Kinder kann von kompetenten pädagogischen Fachkräften jedoch durchaus „in die gewünschte Richtung justiert werden“.

Familienorientierung
Als Basis für eine kontinuierliche und tragfähige pädagogische Arbeit in der Krippe wird die Zusammenarbeit mit den Eltern gesehen. Dies gilt ebenso für die Frühförderung, die aufgrund der Förderung der Kinder im primären Entwicklungskontext die Familienorientierung als bedeutendes Arbeitsprinzip formuliert. Der Erfolg von individueller Unterstützung und Förderung ist letztlich nicht nur von der Verbesserung funktioneller Fähigkeiten, sondern vor allem auch von den Verständigungsprozessen zwischen Therapeut und Familie abhängig. Übertragen auf die Arbeit in pädagogischen Institutionen weist das Prinzip der Familienorientierung auf die Bedeutung der Erziehungspartnerschaft zwischen Erzieherinnen und Eltern hin. Die Kindertageseinrichtung kann demnach nur zu einem wertvollen Schutzfaktor für die Entwicklung werden, wenn die Eltern als Experten für ihr Kind in die pädagogische Arbeit mit einbezogen werden. Dabei stehen stets die individuellen Fähigkeiten des Kindes als aktiver Bewältiger und Mitgestalter des eigenen Lebens im Mittelpunkt: So kann Resilienz beim Kind unmittelbar und mittelbar über die Erziehungsqualität gefördert werden, denn entscheidend ist, was Kinder den Anforderungen des Alltags entgegensetzen können, wie sie z. B. Konflikte aktiv lösen und Probleme bewältigen.

Ebenso wichtig wie das Gefühl, selbst wirksam sein zu können und eigene Kontrolle über Entscheidungen zu haben, ist die Förderung von Eigenaktivität und Verantwortungsübernahme. Den Eltern und der pädagogischen Fachkraft kommt dabei die gemeinsame Aufgabe zu, das Kind zu ermutigen, seine Gefühle zu benennen und auszudrücken, vorschnelle Hilfe zu vermeiden, soziale Netzwerke auszubauen und mit Belastungen konstruktiv umzugehen. Die Kinder und Familien sollen dabei in Entscheidungsprozesse eingebunden werden, um Verantwortung übernehmen und Selbstwirksamkeit erleben zu können.

Fazit
Auch wenn die Anforderungen an eine integrative Frühpädagogik zunächst hoch erscheinen, kann man davon ausgehen, dass nur eine qualitativ hochwertige Krippe eine gute Einrichtung für alle Kinder ist. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass Formen der Beobachtung und Dokumentation der Fähigkeiten und Bedürfnisse der Kinder als ein Ausgangspunkt für die Formulierung individueller Bildungsziele gesehen werden. In engem Austausch mit der Familie und in Abstimmung mit begleitenden Maßnahmen wie Therapien und Frühförderung kann dies zu mehr Sicherheit im Umgang mit dem behinderten Kind führen und zur Grundlage eines vertrauensvollen Betreuungsverhältnisses werden.

Anhand eines Mehrebenenmodells von Qualifikationsanforderungen an pädagogische Fachkräfte können abschließend folgende Kompetenzbereiche zusammengefasst werden: Auf der subjektiven Ebene: Reflexive Haltung bezüglich der eigenen Einstellung gegenüber Heterogenität und der damit einhergehenden Erziehungs- und Bildungsvorstellung, forschender Habitus, kritische Reflexion und begründeter Einsatz von (normierter/prozessorientierter) Diagnostik und (standardisierten/alltagsintegrierten) Förderprogrammen. Auf der interaktionalen Ebene: Ermöglichung von Interaktion, Kommunikation in der Peergroup, Individualisierung von Bildungsprozessen auf der Grundlage theoriegeleiteter Beobachtung und sozialdidaktischer Analyse der kindlichen Lebenswelt, Kooperation mit den Eltern, Beratung, interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Fachpersonal. Auf der institutionellen Ebene: Abbau von Barrieren, Partizipation von Kindern und Familien ermöglichen, Bereitstellung entwicklungsadäquater Bildungsanlässe und Lernumgebung, Öffnung der Institution im Hinblick auf die Kooperation mit informellen Bildungs- und Lernorten im Stadtteil, die Einbindung von Familien, Organisationsentwicklung, Vernetzung mit Frühen Hilfen.
Auf der gesellschaftlichen Ebene: Positionierung gegenüber ethischen und gesellschaftlichen Fragestellungen, Vermeidung von Stereotypisierungen und Ausgrenzung, Öffentlichkeitsarbeit, Gemeinwesenorientierung.

Dr. Timm Albers ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover. Zurzeit vertritt er die Professur Bildung und Erziehung im Kindesalter, Bildungsbereich Sprache, an der Fachhochschule Bielefeld.

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