30 Jun fK 2/08 Resch Lehmkuhl
Zur Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit: Grundbedürfnisse und Forderungen an die soziale Umwelt
von Franz Resch und Ulrike Lehmkuhl
Auch in dem hochentwickelten Kulturland Deutschland, in dem nahezu jedes Kind ausreichend zu essen hat, in irgendeine Form von Zuhause eingebettet ist und eine basale Schulbildung erhält, finden sich bei genauerem Hinsehen eine Reihe von Mängeln, die die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern negativ beeinflussen können.
Was wir vor sechs Jahren über die Grundbedürfnisse von Kindern an dieser Stelle schrieben und welche Forderungen wir an die soziale Umwelt formulierten, hat unverändert erschreckende und zugleich schreckliche Bedeutung erhalten, wie die nicht abreißende Kette von Nachrichten über vernachlässigte, misshandelte, verhungerte und verdurstete Kinder belegt. Im Dossier der Zeit vom 13. Dezember 2007 weist Sabine Rückert (Seite 19) darauf hin, dass „ein Land, das in seine benachteiligten Kinder investiert, später bei der Kriminalitätsbekämpfung, bei den Kosten für Gefängnisse und Psychiatrien, bei den Sozialeinrichtungen der Nachsorge spare. Aus schwachen Kindern werden schwache Erwachsene, die wieder schwache Kinder haben …“ Die Politiker müssen sich überlegen, in welche Zukunftsziele sie investieren. In Deutschland werden Erzieher(innen) nicht an einer Hochschule ausgebildet mit der Folge, dass Elementarpädagogik als akademische Disziplin ein Schattendasein fristet, anders als in fast allen anderen Ländern Westeuropas. Vor zehn Jahren garantierte die Politik hierzulande allen Drei- bis Sechsjährigen täglich vier Stunden Betreuung im Kindergarten. In der Folge senkten die Einrichtungen die Standards: die Zahl der Kinder pro Gruppe wuchs, geringer qualifiziertes Personal wurde eingestellt, während andere Länder längst in die Qualität der vorschulischen Erziehung investierten: die Ausbildung der Erzieher wurde verbessert, aus Kindergärten wurden Erziehungseinrichtungen.
Nun droht sich das Schema der Anspruchslosigkeit bei den unter Dreijährigen zu wiederholen. Ein- bis Zweijährige – und erst recht Säuglinge – bedürfen einer speziellen Pädagogik. Sie benötigen andere Methoden der Anregung als Fünf- und Sechsjährige: mehr Zuwendung und feste Bezugspersonen, die die Signale von Kindern dieser Altersgruppe genau zu deuten wissen. Erforderlich sind kleinere Gruppen und mehr Raum bei altersgemischten Gruppen. Für Kinder zwischen 0 und 24 Monaten wird ein Betreuungsverhältnis von 1:3, bei Zweijährigen von 1:5 empfohlen. Der Personalschlüssel in heutigen Krippen dürfte doppelt so hoch sein, genaue Zahlen fehlen.
Kinder sind in keinem Alter so aufnahmefähig wie in den ersten drei Jahren. Die Forderung von Wassilos Fthenakis „Je jünger die Kinder, desto besser sollte das Personal geschult sein“ ist bedingungslos zu unterstützen. Was früh falsch gemacht wird, lässt sich später sehr schwer korrigieren. In Deutschland ist nirgends das Ausbildungsniveau so niedrig wie in den Kinderkrippen. Die Lehrpläne sind auf Drei- bis Sechsjährige zugeschnitten. Aber gerade diese Erzieher sollen die neuen Krippenkinder erziehen, von deren emotionalen und kognitiven Bedürfnissen sie bislang wenig wissen.
Kinder profitieren davon, wenn sie neben Mutter und Vater weitere Menschen kennen, denen sie vertrauen. Die Bindung zu den Eltern leidet keinesfalls darunter. Das gilt für Kinder über wie unter drei Jahren, wie internationale Studien zeigen, immer vorausgesetzt, die Qualität der Betreuung stimmt (vgl. die Zeit vom 12.4.2007, Seite 8). Uneingeschränkt gelten die Grundbedürfnisse von Kindern weiter und sollten im Zentrum der Politik und der gesellschaftlichen Diskussion stehen.
In einer Gesellschaft, in der das soziale und emotionale Klima schärfer geworden ist, in der Eltern und Kinder zunehmend zu einer demokratischen Minderheit werden und der Druck der Arbeitswelt im Alltag deutlich spürbar wird, kommt es nicht selten zu einer Beeinträchtigung des emotionalen Klimas in den Familien, die sich in Genervtheit und Ungeduld mangelnder Einfühlung emotionaler Kälte oder sogar Gewalttätigkeit im Umgang mit Kindern ausdrücken kann. Solche Verschlechterungen des Binnenklimas in Familien, die unter psychischem, sozialem oder ökonomischem Druck stehen, sind nicht zu bagatellisieren! Der emotionale Austausch und die feinfühlige Erziehung von Kindern bilden eine wesentliche Grundvoraussetzung für eine positive Persönlichkeitsentwicklung. Brazelton und Greenspan (2002) haben in einer Veröffentlichung sieben Grundbedürfnisse von Kindern zusammengefasst, deren Respektierung der Entwicklung von emotional stabilen, willensstarken, einfühlsamen und sozial verantwortlichen Persönlichkeiten Vorschub leistet.
Das Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen
Das erste der sieben Grundbedürfnisse ist das Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen. Die Entwicklung der kindlichen Seele, die Selbstwerdung des Kindes vollzieht sich also in einer interaktionellen Matrix. Das Werden der kindlichen Persönlichkeit ist ein Weg von außen nach innen, von der Interaktion mit wichtigen Menschen der Umgebung zum inneren Konstrukt dieser Interaktion. Dieser Weg ist aber ebenso ein Weg von innen nach außen, indem das Kind durch seine Temperamentlage, seine Gefühlsregulation und Ausdrucksfähigkeit die soziale Umgebung beeinflussen, für sich einnehmen oder von sich stoßen kann.
Der Mensch bedarf also von Natur aus eines gesicherten sozialen Rahmens für seine Entwicklung. Nur in liebevollen Beziehungen, die von Erwachsenen getragen werden, kann dieser Rahmen stabilisiert werden. Wenn die Überlegenheit des Erwachsenen nicht zur Gestaltung von Handlungsräumen für die Kinder herangezogen wird, sondern als Macht gegenüber den Kindern zur Durchsetzung eigener Ziele dient, dann ist das Band der Beziehung zerrissen, dann wird eine solche Erziehung ihren Zweck verfehlen. Frühe Beziehungen haben einen natürlichen Kern: Papoušek (1994) und Grossmann (2001) beschreiben jene intuitive elterliche Fürsorge, die als angeborene Fähigkeit ermöglicht, kindliche Signale aus Tonus, Haltung und Mimik so zu lesen, dass sie sich gegenüber dem Kind angemessen verhalten können. Instruktive, also das Erlernen und Üben fördernde elterliche Einflüsse sind immer in den Kontext emotionalen Vertrauens eingebunden.
Bindung als eine besondere Art einer gefühlshaft getragenen Beziehung zwischen dem Kind und bevorzugten Bezugspersonen ist nicht nur eine Eigenschaft des Kindes oder des betreffenden Erwachsenen, sondern eine zwischenmenschliche Qualität, die von beiden Interaktionspartnern getragen und ausdifferenziert wird. So erscheint es keineswegs verwunderlich, dass Störungen solcher intuitiver elterlichen Fürsorge, wie sie durch Verzweiflung, Überforderung, psychische Probleme hervorgerufen wird, das Kind in seiner emotionalen Entwicklung nachhaltig beeinflussen. Wird aber die Bezugsperson selbst zum Verursacher von seelischen Traumen für das Kind, wie wir das im Rahmen von Misshandlung oder sexuellem Missbrauch erkennen müssen, dann wird dem Kind die sichere Basis der Vertrauensbeziehung plötzlich entzogen, wodurch nachhaltige Wirkungen auf die Gedächtnisfunktion, die Gefühlssteuerung und die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes erfolgen.
Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und Sicherheit
Das zweite Grundbedürfnis von Kindern ist daher das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit, Sicherung und Regulation. Es liegt in der Verantwortung von elterlichen Personen, die bereits in der Schwangerschaft schädlichen Einflüsse wie Rauchen, Drogen- und Alkoholgenuss einzustellen. Die Ernährung von Kindern sollte auf eine Optimierung der körperlichen Funktionen gerichtet sein, Gewalt gegenüber dem Kind und andere grenzverletzende Verhaltensweisen sollten unterbleiben, weil diese immer mit nachhaltigen Schäden nicht nur für den Körper, sondern auch für die Seele des Kindes verbunden sind.
Die Deutsche Liga für das Kind hat sich seit Jahren für die Ächtung von Gewalt in der Erziehung eingesetzt und wird auch nachhaltig in ihren Programmen und Veranstaltungen die Gefahren von Gewalt in der Erziehung des Kindes hervorheben. Körperliche Bedrohungen, Vergiftungen, Beeinträchtigungen der Sicherheit und Störungen der kindlichen Regulation wirken sich nicht nur seelisch, sondern auch in der Entwicklung des Gehirns aus. Da das Gehirn in seinem grundsätzlichen Bauplan nicht nur nach genetischen Informationen seine Entwicklung vorantreibt, sondern auch Informationen aus der Außenwelt und der Innenwelt des Körpers in die funktionellen Systeme neuronaler Netzwerke integriert, spielt die Gestaltung von Erfahrungsräumen eine fundamentale Rolle. Alle persönlichen Erlebnisse, Eindrücke und Gefühle, ob Freude, Sicherheit und Geborgenheit oder Angst, Kummer und Verlassenheit, sie hinterlassen ihre Spuren im Substrat des Gehirns. Unter dem Begriff der „neuronalen Plastizität“ ist zu verstehen, dass das Gehirn immer wieder neue funktionelle Einheiten kreieren kann. Je häufiger bestimmte neuronale Aktivierungsmuster auftreten, desto dauerhafter wird ihre innere Repräsentation. Jeder Entwicklungseinfluss kann über direkte körperliche Schädigung (z. B. Vergiftungen oder Blutungen als Folge von Gewalteinwirkung) oder aber über wiederholte Stresserfahrungen in neuronalen Netzwerken eine Art Schema festlegen, in denen die Information internalisiert und strukturell verankert wird.
Die Hirnentwicklung zeigt kritische und sensible Phasen. In unterschiedlichen Lebensaltern bestehen unterschiedliche Empfindlichkeiten von Hirnstrukturen: Ein Mangel an notwendigen Erfahrungen während früher Stadien der Entwicklung kann zu schwer reversiblen Fehlbildungen der Entwicklung neurobiologischer Schemata führen. Gerade in den ersten Lebensjahren wirken sich Störungen liebevoller Beziehungen und Störungen der körperlichen Unversehrtheit daher besonders krass aus. Der Einfluss gelebter Erfahrungen auf neurobiologische Strukturen wird auch „biographische Encodierung“ genannt.
Das Bedürfnis nach individuellen Erfahrungen
Das dritte Grundbedürfnis ist das Bedürfnis nach individuellen Erfahrungen. Unter dem Begriff des kindlichen Temperaments werden konstitutionelle individuelle Differenzen der Aktivität, Reaktivität und Selbstregulation betrachtet, die in den Domänen Emotionalität, Motorik und Aufmerksamkeit zum Tragen kommen. Es ist also nicht verwunderlich, dass unterschiedliche Kinder an ihre Eltern und Bezugspersonen ein unterschiedliches Beziehungsangebot machen. Es werden auch Risikomodelle von Temperament beschrieben. Unter dem Begriff Irritabilität wird verstanden, dass manche Kinder stärker zu beeindrucken sind als andere und auch schlechter wieder zur Ruhe zurückfinden. Wenn Kinder eine niedrige Reizschwelle mit hoher Wachsamkeit verbinden, neigen sie zu Gefühlen von Angst und Scham. Dabei wird vor allem ein behaviorales Inhibitionssystem aktiviert, das Flucht- und Rückzugstendenzen fördert. Andere Kinder wiederum sind durch erhöhte Reizbarkeit und schlechte Beruhigbarkeit gekennzeichnet, wobei dort die Irritabilität mit Aufregung und Überaktivität einhergeht. Vor allem bei Einschränkungen des Handlungsspielraums kommt es zu Wut und Dysphorie als vorherrschenden Gefühlen. Es besteht das Risiko von aggressiven Entwicklungen und Grenzüberschreitungen, die nur durch erziehliche Maßnahmen gut kanalisiert werden können.
Bezugspersonen und Kinder müssen also zusammenpassen, um optimale Entwicklungsbedingungen zu gewährleisten. Die Theorie der „Passung“ verbindet ein aktives, selbstmotiviertes und seine Entwicklung vorantreibendes Individuum mit einer ebenso aktiven, fordernden, erfüllenden oder versagenden Umwelt. Passung bedeutet optimale Wechselseitigkeit und Angemessenheit von Aktion und Reaktion von Seiten des Kindes und der Bezugsperson. Ein Mangel an Passung erscheint bedeutsamer als interne oder externe Einzelfaktoren. Auch ohne dass beim Kind oder beim Erwachsenen gravierende Defizite in der Beziehungsgestaltung vorliegen, kann ein Mangel an Passung längerfristig die Entwicklung des Kindes negativ beeinflussen. Die Angemessenheit der Erwachsenen-Reaktionen setzt Respekt vor den individuellen Möglichkeiten des Kindes, die Welt zu erfahren, voraus. Kinder sollen in ihren individuellen Gefühlen bestätigt und gesichert werden, sie sollen hinsichtlich ihrer Talente und Fertigkeiten Förderung erfahren und nicht von Eltern für zu hochgesteckte Entwicklungsziele instrumentalisiert werden.
Nicht selten werden Kinder mit mangelnden intellektuellen Ressourcen qualvoll am elterlichen Förderwillen entlanggeführt. Elterliche Wünsche sind dann die Leitlinien, die zur Entwertung der kindlichen Emotionen und Motive führen. Aber auch das Nichterkennen von Talenten und Begabungen beim Kind kann zu nachhaltigen Entwicklungsbeeinträchtigungen Anlass geben. Viele hochbegabte Kinder scheitern in ihrer Schulkarriere, weil ihre individuellen Fähigkeiten nicht erkannt worden sind und Motivationsprobleme, Konzentrationsprobleme und schließlich Verhaltensprobleme den schulischen Werdegang negativ beeinflussen.
Das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen
Dies führt zum vierten Grundbedürfnis, das als Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen begrifflich erfasst ist. Gemeint ist dabei, dass die Forderungen von Eltern an ihre Kinder im Hinblick auf den Entwicklungsstand angemessen sein sollen. Kinder, die zu früh in erwachsene Verantwortlichkeiten gedrängt werden, können nachhaltigen Schaden nehmen. Kinder sollen nicht zur verantwortlichen Erziehung von Geschwistern missbraucht und zur Versorgung von Erwachsenen herangezogen werden. Dass Zwangsarbeit von Kindern, Prostitution und Kriegsführung durch Kinder weltweit geächtet und unterbunden werden müssen, wird wohl in unserem Umfeld unstrittig sein. Aber auch persönliche Demütigungen durch zu frühes ungeschütztes Einbeziehen in verantwortliche Rollen gehört in die Kategorie der Nichterfüllung kindlicher Bedürfnisse.
Weiterhin ist der Aspekt der Verwöhnung zu nennen. Wenn Kinder nicht im Rahmen von gestalteten Erfahrungsräumen Mängel ausgleichen und Hindernisse überwinden können, haben sie keine Möglichkeiten zum Selbstbeweis am Lebensnotwendigen. Dadurch können sich negative Auswirkungen auf das Selbstkonzept entfalten. Stolpersteine müssen von Kindern in beschützten Rahmenbedingungen selbständig überwunden werden. Wenn wohlmeinende Eltern diese immer wieder aus dem Weg räumen, weil sie die Fähigkeit der Kinder, sie überwinden zu können, unterschätzen, führt dies schließlich zur Demütigung und Selbstunterschätzung beim Kind. So können überpädagogisierendes Training einerseits und mangelnde Unterstützung andererseits das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen beim Kind beeinträchtigen.
Das Bedürfnis des Kindes nach Grenzen und Strukturen
Das fünfte Bedürfnis des Kindes ist jenes nach Grenzen und Strukturen, nach Halt und Erfahrungsraumgestaltung durch die Bezugsperson. Wohlwollende und liebevolle erzieherische Grenzensetzung ist für die Strukturentwicklung des Kindes notwendig. Fehlt eine solche Grenzensetzung, entstehen beim Kind unrealistische Erwartungen von Erfüllbarkeit, werden gefährliche Größenphantasien genährt, die schließlich über das Scheitern an der Wirklichkeit zu Frustration, persönlichem Misserfolg, Enttäuschung und Selbstabwertung führen können. Die liebevolle Grenzensetzung bietet nach außen hin Schutz und Geborgenheit, weil das Kind Halt und Sicherung erlebt. Wenn die Bezugsperson nach außen hin als stark, kompetent und zugleich zugewandt erlebt wird, steht sie für Internalisierungen und Identifikationen zur Verfügung. Die berechenbare, d. h. kontingent gesetzte Grenze, die immer wieder regelhaft anzutreffen ist und bei jedem Versuch einer Überschreitung angemahnt wird, bietet Verlässlichkeit und Struktur. Der Erfahrungsraum kann bis dorthin ausgedehnt erforscht und als gestaltbarer Raum erfahren werden.
Die Grenze selbst bietet aber auch Hindernis und Widerstand und kann, wenn sie nicht Züge der Bedrohung und Gewalt trägt, auch zur Herausforderung werden, dagegen anzukämpfen. Das Kind kann auf diese Weise eigene Willenskundgebungen zur Auseinandersetzung mit Regeln und Rollen in gefahrloser Weise benützen. Mit liebevollen Bezugspersonen wird um die Grenzen gerungen, Argumentieren und Durchsetzen werden geübt. Mit zunehmendem Alter gelingt es dem Kind, sich gegenüber den Eltern Spielräume und Grenzverschiebungen zu erarbeiten. Der durch Grenzen abgesteckte Erfahrungsraum wird überblickbar, bietet Anregung und lässt der Neugier gefahrlos freien Lauf. Reize und Problemstellungen können so dosiert werden, dass sie erfolgsorientierte Aktionen ermöglichen. Neues kann angstfrei erforscht, situative Kontrolle eingeübt werden.
Das Bedürfnis nach stabilen kulturellen Umfeldbedingungen
Kinder haben aber auch darüber hinaus ein Bedürfnis nach stabilen kulturellen Umfeldbedingungen. Dies ist als sechstes Bedürfnis operationalisiert. Ungünstige nachbarschaftliche Verhältnisse, undurchschaubare und negative Auswirkungen von sozialen Einrichtungen wie Tagesstätten, Kindergärten und Schulen entfalten negative Einflüsse auf das Kind. Die Entwicklung von Freundschaften ist eine wichtige Basis für das soziale Lernen. Die sogenannte Peergroup, also die Gruppe der gleichaltrigen Kinder, gewinnt mit zunehmendem Alter immer mehr die dominierende Bedeutung für Persönlichkeitsentwicklung und Selbstwert des Kindes. Soziale Kontakte, Einladungen zu anderen Kindern, Übernachtungen außerhalb des Elternhauses stellen wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung sozialer Fertigkeiten dar. Negative Einflüsse von Seiten der Gleichaltrigengruppe oder wiederholte Verluste von Freundschaften durch Entwurzelungen im Rahmen von wiederholten Übersiedlungen können nachhaltige Wirkungen auf Selbstwert und Identität ausüben.
Wir alle sind aufgerufen, für die Kinder unserer Umgebung faire, durchschaubare und respektvolle nachbarschaftliche Verhältnisse zu schaffen. Wir Erwachsenen müssen dafür sorgen, dass Kinder unter angemessenen Rahmenbedingungen einander begegnen können, miteinander spielen lernen und arbeiten können, Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, um schließlich Gerechtigkeit und Kameradschaftlichkeit zu entfalten. Die wesentlichen Beziehungsmuster der Peergroup lassen sich in den Begriffen Konkurrenz, Kollegialität, Solidarität, Freundschaft und Partnerschaft ausdrücken. Sie alle tragen zur Entwicklung sozialer Verantwortlichkeit bei, die wiederum die Voraussetzung für eigene spätere Elternschaft darstellt.
Das Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft für die Menschheit
Das siebente Grundbedürfnis schließlich ist die Zukunftssicherung. In diesem Zusammenhang tragen weltweite Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft eine bis dato nicht eingelöste Verantwortung. Wir Erwachsenen gestalten die Rahmenbedingungen für die nächste Generation. Wenn wir nur Gewalt, Krieg und soziale Ungerechtigkeiten hinterlassen, geben wir auf zweierlei Weise schlechtes Zeugnis ab. Wir übergeben dann eine chaotische Welt an die nächste Generation und wir sind schlechte identifikatorische Vorlagen für die Entwicklung der Kinder. Ob diese die Welt als gestaltbares Ordnungsgefüge oder unheimliches Chaos erleben, wird nämlich an der Entwicklung ihrer Persönlichkeiten liegen, die wir mit unseren eigenen Persönlichkeiten mitzugestalten geholfen haben!
Prof. Dr. Franz Resch ist Ordinarius für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Heidelberg und Präsident der Deutschen Liga für das Kind.
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Ulrike Lehmkuhl ist Lehrstuhlinhaberin und Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Charité-Universitätsmedizin Berlin, Campus Virchow-Klinikum, und Mitglied im Vorstand der Deutschen Liga für das Kind.
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