23 Jul fK 2/07 Schäfer
„Alle gewinnen, wenn das Lernen den Körper und die Sinne viel mehr einbezieht“
Dr. Jörg Maywald im Gespräch mit Eberhard Schäfer, Diplom-Politologe und Leiter des Projekts „Familienbildung für Väter“ (Väterzentrum) des Vereins Mannege e.V. in Berlin, über geschlechterbewusste Erziehung.
Maywald: Was bedeutet für Sie „geschlechterbewusste Erziehung“?
Schäfer: „Geschlechterbewusste Erziehung“ heißt, dass Väter, Mütter und professionell Erziehende sich Gedanken machen über Geschlechtsrollenstereotype und wie sie diese in der Erziehung ihrer Kinder bedienen oder vermeiden wollen. Und nicht verzweifeln, wenn trotzdem, oder gerade deshalb, Jungen weiter Ritterburg und Mädchen mit Puppen spielen, Mädchen zum Reitunterricht und Jungen Fußball spielen gehen, Mädchen in Gruppen quatschen und kichern und Jungen am PC hängen.
Maywald: Eine Errungenschaft des 20. Jahrhunderts bestand darin, Jungen und Mädchen gemeinsam, das heißt in geschlechtergemischten Gruppen, aufwachsen zu lassen. Müssen wir unter dem Blickwinkel der Geschlechtergerechtigkeit Abstriche von der Koedukation machen?
Schäfer: Ich würde nicht von Abstrichen sprechen, sondern von Weiterentwicklung auf Grund von Erfahrungen und Erkenntnissen. Wenn sich Jungen beispielsweise im gesprächsorientierten Unterricht nicht gut entfalten können, dann müssen sich Lehrerinnen und Lehrer überlegen, ob Themen nicht auch zum Beispiel auf körperlich-kompetitive Weise behandelt werden können. Warum sollte dafür zeitweilig getrennter Unterricht falsch sein? Wenn ein Sportlehrer der ganzen – geschlechtergemischten – Klasse demonstriert, dass Mädchen zum Ballwerfen ungeeignet sind, indem er den Ball mit der linken Hand wirft und erklärt, „so ist das, wenn Mädchen Bälle werfen“, dann ist es für alle Beteiligten besser, wenn die Mädchen eigenen Sportunterricht bekommen.
Maywald: Die 14. Shell Jugendstudie aus dem vergangenen Jahr stellt fest, dass die Mädchen in punkto Schulbildung die Jungen inzwischen überholt haben. Brauchen wir eine neue Bildungsinitiative für Jungen?
Schäfer: Eine der Lehren aus der Diskussion um die Pisa-Studie sollte sein, dass alle Schülerinnen und Schüler besser gefördert werden: In deutschen Schulen werden sowohl die Schwachen als auch die Starken vernachlässigt. Wenn Jungen in manchen Bereichen benachteiligt sind, dann müssen sie besser, und das heißt vor allem jungengerecht gefördert werden. Jungen mit Migrationshintergrund sind die Bildungsverlierer Nummer eins. Für sie brauchen wir in der Tat besondere Förderprogramme, die mehr umfassen als bloßen Nachhilfeunterricht.
Maywald: Wenn die Defizite in der Erziehung von Jungen zunehmend zum Politikum werden, besteht dann die Gefahr, dass erneut die Mädchen aus dem Blick geraten?
Schäfer: Es ist doch wunderbar, dass spätestens jetzt klar im Blick ist, dass Mädchen genauso schlau sind wie Jungen. Bei Mädchen und jungen Frauen kommt der Knick nach dem Schulabschluss. Da sind ihre guten Schulleistungen oft nicht mehr viel wert. Für junge Frauen muss das Augenmerk ganz klar hierhin gelenkt werden, auf ihre Gleichstellung in Ausbildung und beruflicher Entwicklung. Jungen und Mädchen müssen auf geeignete Weise an den jeweils richtigen Stellen gefördert werden; es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein gezieltes Sowohl-als-auch.
Maywald: Ein Grund für die Herausbildung von Geschlechter-Stereotypien wird in dem Mangel an männlichen Vorbildern im Kindergarten gesehen. Wie können Erzieherinnen für dieses Thema sensibilisiert werden und wie kann es gelingen, Männer mehr zu motivieren, sich für den Beruf des Erziehers zu interessieren?
Schäfer: Auch noch so viel Fortbildung in geschlechterbewusster Erziehung wird nicht weiterhelfen. Mädchen und Jungen brauchen reale Männer als Erzieher. Das wird durch die Aufwertung des Erzieherberufs gelingen. Auch das ist ja eine Folgerung aus PISA: Fachhochschulausbildung, viel bessere Bezahlung. Dann werden die Männer kommen, und das ist ja auch gut für die Kolleginnen.
Maywald: Es ist unübersehbar, dass insbesondere Jungen körperliche Auseinandersetzungen geradezu suchen. Was raten Sie Eltern, Erzieherinnen und Erziehern, wie sie hiermit umgehen sollen? Und schließlich: brauchen nicht auch Mädchen mehr als bisher Möglichkeiten, ihre Aggressivität auszudrücken?
Schäfer: Körperliche Auseinandersetzungen unter Jungen sind ja nur deshalb unübersehbar, weil sie der verkopften Erziehungswelt zeigen, dass es noch Körper gibt. Sie stören den „Geist“ der Bildung. Viele Jungen, gerade aus bildungsfernen Schichten und mit Migrationshintergrund, treten aggressiv-körperlich in Erscheinung – eine Art „Rebellion der Verlorenen“? Im Übrigen gibt es Jungen, die vielleicht für zwei oder drei Jahre ihres Lebens körperliche Auseinandersetzungen suchen, und dann genug davon haben. Und es gibt Mädchen, die das ebenso tun. Erstaunlich viele Jungen suchen körperliche Auseinandersetzungen nicht, sondern vermeiden sie.
Das ganze Schul- und Bildungssystem ist vollständig verkopft, entkörperlicht, entsinnlicht. Das beschränkt Jungen genauso wie Mädchen. Alle gewinnen, wenn das Lernen den Körper und die Sinne viel mehr als jetzt einbezieht. Zum Beispiel, wenn Kinder, statt über gesunde Ernährung zu lesen und zu diskutieren, in der Schulküche gesund und gut kochen und sich gutes Essen schmecken lassen. Und dann, in der Pause, gibt es Tai-Chi. Letztes Wort dazu: „Rhythm is it!“
Informationen unter www.mannege.de und www.papa-institut.de
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