fK 2/06 Westhoff

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Krebserkrankung im Kindes- und Jugendalter

Psychische Aspekte einer somatischen Krankheit

von Kerstin Westhoff

Kaum eine andere Situation bedroht eine Familie in ihrem Selbstverständnis so sehr, wie die drohende Gefahr für das Leben des Kindes. Die Krebserkrankung als schwere körperliche Krankheit ist begleitet von tiefen seelischen Veränderungen beim Kind und seiner Familie. Trotz eindrücklicher Fortschritte in Therapie, Diagnostik und Betreuung muss man sich jedoch der Tatsache stellen, dass Kinder mit einer Krebserkrankung leben und auch daran sterben werden.

Können wir heute von einer Überlebenswahrscheinlichkeit von circa 75 Prozent ausgehen, galt in den 1960er Jahren die Krebserkrankung eines Kindes in der Regel noch als ein beinahe sicheres Todesurteil. Zwischen 1973 und 1996 sank die Mortalität um annähernd die Hälfte, in den späten 1990er Jahren nochmals um jährlich circa 2,7 Prozent. In Zahlen bedeutet dies, dass im Jahr 2010 jeder 250. junge Erwachsene zwischen 15 und 45 Jahren ein Überlebender eines im Kindesalter aufgetretenen Malignoms sein wird. Das heißt, die Frage wie sich eine Krebserkrankung und ihre Behandlung auf die somatische und psychosoziale Entwicklung der Kinder und Jugendlichen auswirken wird, und wie dadurch ihre Lebensqualität in all ihren Dimensionen beeinflusst wird, gewinnt zunehmend an Bedeutung.

Belastungen von Familien krebskranker Kinder
Nach einer Krebserkrankung wird die Gesundheit zu einer ganz neuen Erfahrung für Eltern und Kind. Noch viele Jahre nach einer überstandenen Krebserkrankung kann die Verunsicherung über den eigenen Körper das Alltagsleben beeinflussen, sei es in der Berufswahl, in der Partnerbeziehung oder durch die Angst vor einem Rückfall. Überleben heißt für unsere jungen Patienten, über lange Zeiträume hinweg krank zu sein, Therapien und Kontrollen über sich ergehen lassen müssen und vor allem Unsicherheiten angesichts eines möglichen tödlichen Verlaufs oder eventueller Dauerschäden zu ertragen.

Marius
Der sechseinhalb jährige Marius, ein Junge mit aplastischer Anämie, zeichnete folgendes Bild. Marius erscheint in der Zeichnung gleichzeitig als krankes und gesundes Kind. Die Gefahr, der Dämon eines Rückfalls, scheint hier vorerst im durchgestrichenen roten Kreis gebannt. Gleichzeitig thematisiert es Marius als ein in seiner Krankheit gefangenes Kind.

Die Behandlung dauert in der Regel ein bis drei Jahre. Das erkrankte Kind ist die ersten zwei bis sechs Monate somatisch schwer krank. Nachkontrolle und Nachsorge umfassen weitere drei bis sieben Jahre. Die anfängliche Behandlung geschieht im Wechsel zwischen Intensivpflege/Krankenhauspflege und Pflege zu Hause. Selbst bei Kindern, die auf eine Behandlung gut ansprechen und bei denen medizinisch die Zellbildung wieder vollkommen gesund und normal erfolgt, bleibt jedoch bei der Familie die psychische Anspannung und Angst vor dem Rückfall über viele Jahre bestehen. Familien, deren Kinder trotz intensivster Therapien sterben, durchleben – anders als noch vor Jahrzehnten – abwechselnd Zeiten von Hoffnung und Resignation, Zuversicht und Abschied. An Stelle des früheren Leids der Gewissheit über den fatalen Verlauf der Krankheit ist heute die Qual der jahrelangen Ungewissheit über die Prognose getreten. Die relativ hohen Heilungschancen müssen von den betroffenen Kindern und ihren Eltern hart erkauft werden. Die Kinder sind durch verschiedenste akute Nebenwirkungen der Therapie (Übelkeit, Erbrechen, vorübergehender Haarausfall, Entzündungen der Schleimhäute, infektiöse Komplikationen durch Herabsetzung der Immunabwehr), durch dauernde invasive Eingriffe wie Injektionen und Infusionen enormen somatischen und psychischen Belastungen ausgesetzt. Neben den unmittelbar behandlungsbezogenen Auswirkungen ergeben sich weitreichendere und teilweise irreversible Folgen, zu denen unter anderem Wachstumshemmung, Unfruchtbarkeit sowie neurologische Spätfolgen intellektueller, motorischer und sensorischer Art zählen. Mit den körperlichen Folgen eng verbunden sind komplexe psychische und soziale Folgen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen und ihre Angehörigen. Nicht zuletzt leiden betroffene Kinder und ihre Familien nicht selten unter dem Gefühl sozial isoliert zu sein. Der Alltag wird bestimmt durch häufige Krankenhausaufenthalte, Nachkontrollen, unvorhersehbare Komplikationen, welche eine Alltagsplanung oft genug verunmöglichen.

Wie sollten die Rahmenbedingungen gestaltet sein, um Eltern die Konfrontation mit dieser einen unter wenigen Gewissheiten aushalten zu lassen und positive Empfindungen und Beziehungen zu fördern? Was kann Eltern darin unterstützen, um ihr verlorenes perfektes Kind (oder dessen Idee) trauern zu können und ihr nicht perfektes Kind zu lieben, sich seiner nicht schämen zu müssen?

Das altersentsprechende Mitteilen der Diagnose, die drohende Todesproblematik ehrlich miteinander zu besprechen, trotz Leiden und Schmerzen des Kindes die Notwendigkeit eine gewisse Disziplin aufrechtzuerhalten, aggressives Verhalten des Kindes zu verstehen, seine Ängste zu ertragen und Phantasien Raum zu geben, eigene Gefühle nicht abzuwehren oder zu unterdrücken und Vertrauen zu schaffen, all das stellt einen enormen Anspruch an die Eltern-Kind-Beziehung dar. Das Kind spricht selten direkt über seine Ängste und Befürchtungen. Über Spiel, Zeichnungen und Geschichten jedoch kann es sich mitteilen, ohne Verdrängungen ganz aufgeben zu müssen. Von behandelnden Ärzten wird immer wieder berichtet, dass Kinder ihre verzweifelten Eltern schützen und trösten wollen, indem sie weder unbequeme Fragen stellen noch ihre Ängste im Zusammenhang mit Krankheit und Tod äußern.

Das Behandlungsteam
Die strapaziöse Therapie stellt nicht nur für das Kind und seine Familie, sondern auch für die behandelnden Ärzte und Schwestern eine große emotionale Beanspruchung dar. Sie bedeutet eine ständig wiederkehrende Konfrontation mit Leiden, Sterben, trauernden Angehörigen und die Auseinandersetzung mit verschiedensten Formen der Krankheitsverarbeitung, dem Erleben der eigenen Hilflosigkeit und mit ethischen Fragen. Die emotionalen Ansprüche erfordern ein ständiges Anpassen und Sich-Zurechtfinden zwischen Anteilnahme und Distanz.

Die Auseinandersetzung des Kindes mit seiner Krankheit
Die schwere, langdauernde somatische Krankheit mobilisiert bei allen Kindern verschiedenste Ängste und heftige Sorgen über die körperliche Integrität. Die Kinder werden aus einem Alltagsgeschehen gerissen, in welchem sie aktiv waren und gewohnte Quellen der Freude und Befriedigung versiegen im Krankenhaus. Stattdessen erleben sie Eingriffe an ihrem Körper verbunden mit physischen Schmerzen. Wie ein Kind einer solchen Situation des Ausgeliefertseins begegnet, ist u.a. abhängig von seinem Alter, dem Stand seiner Persönlichkeitsentwicklung, der unmittelbaren emotionalen Umgebung, der Art der Krankheit, dem Ausmaß des diagnostischen Prozedere, der allgemeinen Bedeutung des Krankseins für das Kind, seinen spezifischen Ängsten und Phantasien und der Einstellung der Familie zur Krankheit.

Pit
Pit erkrankte in seinem 7. Lebensjahr an einem Medulloblastom. Während Pit´s Krankenhausaufenthalt fiel im Pflegeteam auf, dass seine Mutter praktisch nie zu Besuchen erschien. Die Pflege und Umsorgung des Jungen teilten sich der Vater und ein weiterer männlicher Verwandter. Die Mutter war schwer erkrankt, litt unter Rheuma, Lichtempfindlichkeit und Panikattacken. Sie konnte das Haus nicht verlassen und erhielt später eine Invalidenrente. Der Vater sah sich durch die Erkrankung des Sohnes plötzlich mit der alleinigen Verantwortung konfrontiert, die Familie zu versorgen, den Haushalt weitgehend allein zu führen und emotional stützend zu sein. Er war bald überfordert und wurde innerhalb von drei Jahren arbeitsunfähig. Pit wurde operiert und erhielt anschließend Chemo- und Radiotherapie. Die Behandlung verlief erfolgreich. Die Rückkehr in einen so genannten Alltag gelang jedoch niemals tatsächlich. Pit litt unter Misserfolgen in der Schule. Er fühlte sich ausgestoßen und abgelehnt von Gleichaltrigen, hatte keine Freunde. Schulische Misserfolge und Verhaltensauffälligkeiten von Pit wurden von den Eltern vor dem Hintergrund seiner schweren Erkrankung als weniger bedeutsam abgetan. Eine Auseinandersetzung mit den realen Einschränkungen im Alltag, den Auswirkungen der Krankheit auf die Familie und dem Zusammenbruch von Lebenskonzepten, der invasiven Therapie und mit Pits psychischer Entwicklung wurde als äußerst bedrohlich erlebt und aktiv vermieden. Die Unmöglichkeit dieser Auseinandersetzung hatte letztlich ein Manko in der Bereitstellung möglicher Adaptationsmechanismen, massive Angst, Wut und Hilflosigkeitsgefühle sowie tiefe Enttäuschung gegenüber Autoritätsfiguren, von denen Hilfe erwartet wurde, zur Folge. Diese und ähnliche Affekte wie Ressentiments, Protest und das Empfinden ungerecht behandelt zu werden manifestierten sich schließlich auch in Beziehung zu autoritär erlebten Personen außerhalb des Krankenhaus, z.B. gegenüber Pit´s Lehrern. In der Folge entstand für Pit über lange Zeit hinweg ein Schonraum, als Raum einer Als-ob-Realität, der durch unterschiedlichste Verleugnungsaspekte gekennzeichnet war, wodurch Pit letztlich jedoch adäquate Hilfsangebote versagt blieben. Schließlich wurde Pit abrupt in eine Sonderschule für lernbehinderte Kinder vermittelt. Es folgten mehrere abgebrochene Lehrausbildungen und Anlehren sowie diverse Beziehungsabbrüche. Pits Mutter verstarb, als er 18 Jahre alt wurde, an einem Karzinom. Pit ist heute 19 Jahre alt, Sozialhilfeempfänger und geht keiner geregelten Beschäftigung nach. Er berichtete kürzlich, er halte es nirgends länger als circa zwei Monate aus, alles langweile ihn, er bekomme schnell Kopfweh, sei ständig müde. Zudem trinke und rauche er zu viel. Pit leidet an Depressionen, vermindertem Selbstwertgefühl und dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Er kann heute rückblickend davon berichten, wie er sein plötzliches Anders-Sein als Kind empfand, die Blicke der anderen auf sich gerichtet fühlte, sein verändertes Aussehen ihm bis heute zu schaffen macht. Pit ist sich mit Ausbruch der Krankheit auf eine existentielle Weise fremd geworden.

Während seines Krankenhausaufenthaltes im Alter von acht Jahren zeichnete er folgende zwei Bilder in denen die Angst in ihrer archaischen Qualität der Todesangst deutlich wird. Pit befand sich zu diesem Zeitpunkt in einem kategorial anderen Zustand als seine Mitmenschen einschließlich seiner nächsten Angehörigen. Die Umgebung lebte in Selbstverständlichkeiten, die für ihn zerbrochen waren. Für Pit resultierte daraus das Gefühl des Allein- und Ausgeschlossenseins. Die Mutter ließ Pit zwar körperlich im Krankenhaus allein, stellte jedoch phantasmatisch eine innige Verbindung zu ihm her, indem sie selbst erkrankte. Diese Situation konnte jedoch nie in Sprache gefasst werden, da sie tatsächlich zu unfassbar erschien. Sprachlosigkeit breitete sich aus in einer Situation, die Zuspruch und Begleitung erfordert hätte.

Zu Bild 1 meinte Pit, er hätte eine Bulldogge gezeichnet. Der Totenkopf solle zeigen, wie gefährlich der Hund ist, denn er würde Menschen auffressen. Die zentrale Gestalt auf dem Bild ist der bedrohlich wirkende Hund. Auffallend ist der schwarze breite Rand um den Kopf des Hundes und seine seltsamen Ohren. Sie erscheinen wie Gewächse. Die schmerzende, kranke Region (Pit’s Hirntumor) wird uns Betrachtern des Bildes auf erschütternde Weise fast selbst körperlich fühlbar. Die Sonne ist klein und scheint weit entfernt zu sein. Fünf schwarze Vögel fliegen am Himmel. Das Gefangensein in der Krankheit, die Angst und Unsicherheit, welche Pit erleben musste, scheinen hier thematisiert. Der Junge mobilisierte seine Abwehrkräfte im Kampf gegen den Tumor und versuchte sich von Gefühlen der Ohnmacht und Angst mit Hilfe von Aggressionen, etwas zu distanzieren.

Die Integrationspädagogik ist vor circa 30 Jahren angetreten, die Mythen der Heil- und Sonderpädagogik auszuhebeln und dem karitativen, advokatorischen Modell einen emanzipatorischen, demokratischen Anspruch auf ein uneingeschränktes „Teil-Sein-in-der-Welt“ (Braun 1992) und auf „Eigenwelterweiterung“ (Begemann 1997) entgegenzustellen. Der Forderung, den Behinderungsbegriff gänzlich abzuschaffen ist indes entgegenzuhalten, dass es einen pädagogischen Behinderungsbegriff gerade erst zu konstruieren gilt. Folgende Erkenntnisse liegen der wissenschaftlichen Integrationspädagogik zugrunde:
– Jedes Kind, jeder Mensch ist insofern unendlich lern- und entwicklungsfähig, als Grenzen sich nicht prognostizieren lassen (vgl. Wygotski 1924).
– Entwicklungspsychologische und -physiologische Erkenntnisse haben universelle Bedeutung insofern, als sie prinzipiell und mit individuellen Abweichungen für jeden Menschen gelten.
– Erziehungswissenschaftliche Theorie und auf ihr gründende Praxis gelten unteilbar für jedes Kind.
– Behinderungen sind kein ontologisches Personmerkmal im pädagogischen Sinne, sondern treten in jeder pädagogischen Interaktion auf und wohnen ihr gerade als unentbehrliches und konstitutives Moment inne. Sie erzeugen den Widerstand, der Lernen als dialogisches Meistern von Schwierigkeiten vorantreibt. – Insofern ist der Behinderungsbegriff nicht statisch, sondern unterliegt dynamischen Schwankungen, die ausgewogen werden wollen.
– Infolgedessen ist „Normalität“ erreicht, wenn in der pädagogischen Interaktion immer wieder ein Gleichgewicht hergestellt wird und wenn Irritationen zugelassen werden können, ohne es grundlegend zu gefährden.

In Bild 2 schaut uns ein Kämpfer entgegen. Auf der Stirn trägt er ein Mal, eine Spinne, wie Pit beschreibt. Er steht da, auf kräftigen, stabilen Beinen, mit großen Füssen – aber worauf steht er? Seine Weste ist besetzt mit langen Stacheln und soll ihm Schutz bieten. An seinen Händen sehen wir nur jeweils drei Finger. Sein Gesichtsausdruck zeigt eine etwas unbestimmte Mischung aus Entschlossenheit, Traurigkeit und Nachdenklichkeit. Dieser Helfer gegen den Albtraum Krankheit scheint auf uns zuzugehen und seine ganze Körperhaltung drückt die Bereitschaft zum Kampf aus. Nur da, wo Ansprechpartner auch für Grenzfragen unserer Existenz zur Verfügung stehen, kann es dem Betroffenen gelingen, das untergründig Bedrängende seines Zustandes in Worte zu fassen und so besser zu begreifen. Heute gelingt es Pit zu sagen: „Diese beiden Bilder – das bin ich und ich bin es auch nicht“. Unsere jungen Patienten leben in einem Raum von Bedeutungen als Möglichkeitsraum ihres Daseins. Diese Bedeutungen sind Interpretationen der Welt, d.h. Wertungen von Dingen und Tatsachen, die jede Person als Erlebnisbausteine und Erkenntnisbausteine bisher gesammelt hat, abhängig von Alter, persönlicher Struktur und Ressourcen, dem sozialen Kontext usw. Solche Bausteine konstituieren einen Möglichkeitsraum des Handelns und Verstehens. In diesem Raum besitzen die Dinge subjektive Wertungen, Gerichtetheiten und Sinn vermittelnde Bezüge. Hier gibt es also nicht bloß die dingliche Welt als Abbild und die Welt der Tatsachen. In diesem Raum ist der Patient als einzigartiges Subjekt, mit seiner Geschichte, seiner möglichen Zukunft, in das komplizierte Netzwerk seiner individuellen Verständnisbezüge eingebettet. Handlungsentscheidungen z.B. für oder gegen Therapien, Compliance usw. finden in diesem Lebensraum statt. Für psychoonkologisches Arbeiten bedeutet dies zu erfassen, mit welchen Bedeutungen ein Kind und seine Familie seine Krankheit belegt und wie uns der Einblick in diese ganz subjektive Erfahrungswelt gelingt.

Claudius
Claudius war zum Zeitpunkt der Studie neun Jahre alt. Im Alter von acht Jahren wurde bei ihm die Diagnose eines T-Zell-Lymphoms gestellt. Claudius erhielt neun Monate Chemotherapie, welche zum Zeitpunkt, als er die Zeichnungen anfertigte, gerade beendet wurde.

Claudius meinte zu seinem ersten Bild, dass der Kopf dieser gezeichneten Gestalt so rot sei von einer großen Anstrengung. Er würde versuchen, eine ganze Reihe Bücher (Wissen?) über seinem Kopf hochzuhalten. Dabei ginge es um eine Wette. Die schwarzen Kügelchen am Arm stellten Muskeln dar. Das Bild erschüttert durch den Gesichtsausdruck der Gestalt, durch den aufgerissenen Mund mit vielen fehlenden Zähnen und die Farbgebung. Verbal und auch durch kleine zeichnerische Elemente (Goldzahn, die winzigen Muskeln) versucht sich das Kind mit Ironie von der im Bild ausgedrückten Verzweiflung etwas zu distanzieren. Wird das in all den vielen Büchern enthaltene Wissen beim Kampf gegen die Krankheit zuverlässig helfen können?

Im zweiten Bild, erzählt Claudius, habe er eine große Bakterie gemalt. Sie mache einen krank. Die Bakterie sei zwar stark, aber doch nicht so stark, wie die Bakterienpolizei (die violette Kugel über der Bakterie). Die Auseinandersetzung mit der ungeheuren Gefährlichkeit der Krankheit, ihrer Übermacht und Bedrohlichkeit, der Versuch, die Ursachen zu verstehen, aber auch die Bereitschaft, gegen diese riesige Bakterie zu kämpfen, wurden in dieser Zeichnung eindrücklich dargestellt. Claudius befindet sich in Remission. Ausgelöst durch das Wissen um die Krankheit zeigen schwer kranke Kinder häufig eine starke und oft vorzeitige Beschäftigung mit Vorstellungen und Gefühlen in Bezug auf Krankheit, Leben und Tod.

Leila
Folgendes Bild zeichnete Leila, ein damals fünfjähriges Mädchen. Im Alter von eineinhalb Jahren wurde bei Leila eine akut lymphatische Leukämie (ALL) diagnostiziert. Die Chemotherapie erstreckte sich über einen Zeitraum von drei Jahren und lag zum Zeitpunkt der angefertigten Zeichnungen neun Monate zurück. Das Bild dieses Kindes zeigt die intensive innere Auseinandersetzung mit der äußerst bedrohlichen Krankheit.

Wir sehen einen großen schwarzen, mit Blumen bepflanzten Hügel. Er dominiert das Bild und weckt Assoziationen in Richtung Trauer, Abschied, Grab und Tod. Die bunten Blumen auf diesem Hügel könnten als Zeichen der Bewältigung verstanden werden. In der Bildmitte sehen wir ein Haus. Es ist zart und eher klein gezeichnet. Die Fenster wirken geöffnet. Eine feine Rauchfahne weist daraufhin, dass das Haus bewohnt ist. In Verbindung zu den sehr tief hängenden Wolken scheint die Rauchfahne jedoch eher die Zartheit des Häuschens zu betonen. Strahlend erscheint die Farbe Gelb durch ihren hier sehr positiven Ausdruckswert. Es scheint, als bilde sie einen Gegenpol zu der Schwere des schwarzen Hügels und der Fragilität des Hauses. Gelb erscheint in dreifacher Wiederholung: der Sonne, dem gelben Fenster sowie der Sonnenblume auf dem schwarzen Hügel. Alle drei Bildelemente scheinen dadurch miteinander verbunden.

Melanie
Folgendes Bild stammt aus einer Bilderserie der damals 15-jährigen Melanie. Sie erkrankte an einem Ewing-Sarkom. Nach Resektion des Tumors sowie einer Rippe erhielt das junge Mädchen während eines Jahres Chemo- und Radiotherapie. Vier Monate nach Beendigung der Therapie wurde ein erstes Rezidiv mit Lungenmetastasen festgestellt. Nach Resektion der Metastasen erhielt Melanie wiederum Chemotherapie. Ein halbes Jahr nach dem ersten Rezidiv wurde ein zweites Rezidiv im Herzbeutel sowie der Lunge diagnostiziert. Nochmals unterzog sich Melanie einer Chemotherapie (autologe Stammzellrücktransfusion).

Das Bild zeigt nach Melanie’s Worten Dinge, welche sie sehr gern hat. Wir sehen eine riesige Waffel mit Eiscreme, Ice Tea, einen Hamburger. Das Mädchen selbst liegt im Bett. Wir sehen, dass es keine Haare hat, die Augen geschlossen hält. All diese geliebten Dinge sind zart und schwach gezeichnet, umgeben das junge Mädchen wie in einem Traum. Sie setzt sich nicht im Bett auf, um nach ihnen zu greifen. Hier scheint der beginnende Rückzug des Mädchens von der realen, so schmerzlichen Wirklichkeit thematisiert. Das junge Mädchen verstarb, knapp 17-jährig.

Tim
Folgende Bilderserie zeichnete der neunjährige, an Leukämie erkrankte Tim. Eindrücklich ist das immer wiederkehrende und unterschiedlich gestaltete Fischmotiv. Das erste Bild von Tim´s Zeichnungsserie zeigt ein kleines Schiff. Ein riesiger Wal bringt das Boot fast zum kentern. Eine Figur (der Junge selbst?) wird hoch in die Luft aus dem Boot geschleudert und ruft um Hilfe. Verzweifelt kämpfen zwei Menschen im Boot gegen das Unheil. Der Junge befindet sich in einer akut lebensbedrohenden Situation. Die Diagnose Leukämie riss ihn jäh aus seinem Alltag, aus seiner familiären Geborgenheit, aus seiner Unbeschwertheit, und konfrontierte ihn mit Gefühlen der Einsamkeit, des Getrenntseins von seinen Eltern und Freunden sowie mit enormer Angst.

Im zweiten Bild hebt ein Wal das Schiff hoch hinauf in eine atemberaubend gefährliche Höhe, macht es zu seinem Spielball. Die ganze Angst, die Ungewissheit der Situation kumuliert. Was wird geschehen?

Jedes Bild hat seine ganz eigene Gültigkeit unabhängig vom Verständnis des Betrachters. Bei Goethes Wilhelm Meister heißt es treffend: „… dass die Summe unserer Existenz durch Vernunft dividiert, niemals ganz aufgehe, sondern dass immer ein wunderlicher Bruch übrig bleibe…”

Psychosoziale Auswirkungen im Verlauf Die Bedeutung und die Auswirkung, die ein oder mehrere potenziell traumatisierende Ereignisse auf ein Kind haben, sind außer von deren objektiver „Wucht“ sehr stark von der Entwicklungsstufe abhängig, auf der sich das Kind gerade befindet. Sie bestimmt Auswahl und Einsatz von Bewältigungsstrategien und ist mit entscheidend dafür, ob eine Belastung zu Symptomen führt, die u.U. über lange Zeiträume andauern können. Neben dem Entwicklungsstand ist die spezielle traumatische Situation von zentraler Bedeutung, d.h. die Gesamtkonstellation, in der die belastenden Ereignisse das Kind treffen und von diesem mit einer ganz spezifischen Bedeutung versehen werden. Hier verbinden sich reale oder verzerrte Wahrnehmung mit einer alterstypischen Ausgestaltung in der Phantasie. Dazu gehören z.B. Bestrafungs- und Schuldphantasien in Bezug auf die Krankheit und auf Seiten der Eltern nicht selten Phantasien über versäumte, verspätete oder falsche Interventionen.

Die schwere körperliche Erkrankung eines Kindes mit den daraus resultierenden Krankenhausaufenthalten und invasiven diagnostischen und therapeutischen Prozeduren kann zu einer traumatisierenden Situation werden, weil das Kind und seine Eltern auf vielfältige Weise überfordert werden können: durch die körperliche Symptomatik und die dadurch aktivierten Vorstellungen über die Verursachung, durch die massive Bedrohung des Körperbildes mit Desintegrations- und Verstümmelungsängsten und durch den Einbruch des Glaubens an den Schutz durch mächtige, verlässliche Elternfiguren und an die damit verbundene Illusion körperlicher Unverletzlichkeit, einhergehend mit elementarer Angst und Wut sowie dem zumindest vorübergehenden Einbruch der narzisstischen und libidinösen Besetzung des Körpers und seiner Funktionen.

Angst mobilisiert, entsprechend dem Alter des Kindes und seiner Persönlichkeitsstruktur, seelische Notfallmechanismen, welche der Anpassung und Bewältigung des schlimmen Zustandes dienen sollen. Bürgin (1978) beschreibt folgende altersabhängige Verhaltensveränderungen:
(1) Das Kleinkind (null bis drei Jahre) reagiert häufig mit Passivität, emotionalem Rückzug bis hin zum Kontaktabbruch. Es regrediert in seinem Verhalten und verliert unter Umständen bereits erworbene motorische oder sprachliche Fähigkeiten.
(2) Das Kind im Vorschulalter reagiert auf seinen veränderten Gesundheitszustand mit großer Angst. Seine Frustrationstoleranz verringert sich. Es wird äußerst verletzlich gegenüber Eingriffen und Trennungen und es neigt zu depressiver Gleichgültigkeit oder resignierter Anpassung.
(3) Das Kind in der Latenz, zwischen sieben und elf Jahren mobilisiert aufgrund seiner tiefen Angst seine letzten verfügbaren Abwehren. Bürgin (1978) nennt hier z.B. die Verleugnung der Ernsthaftigkeit der Krankheit, die unbekümmerte Flucht nach vorne in eine spielerische Indifferenz und die affektive Regression, also der Rückgriff auf frühkindliche Verhaltensweisen aber auch forderndes Verhalten, ausgeprägte Reizbarkeit und Aggressionen.

Die Bedrohung der Familie
So wie sich für das Kind ab dem Zeitpunkt der Diagnosestellung alles verändert, verändert sich für die nahen Bezugspersonen von einer Minute auf die andere ebenfalls alles. Wird die Krebserkrankung des Kindes zur Gewissheit, beginnt eine Phase schwerster seelischer Belastung und Bedrückung, ein Gefordertsein im tiefsten menschlichen Wesen, eine Selbst- und Partnererfahrung in Bezug auf bisher vielleicht noch nicht in diesem Ausmaß erprobte Tragfähigkeit und Geduld. Die Familie ist jedoch nicht nur von den existentiellen Sorgen und Nöten des Kindes stark betroffen, sondern sie wird durch den Krankheitsausbruch auch in ihren eigenen Bedürfnissen eingeschränkt. So sind es zum einen die äußeren, konkreten Anforderungen in der Alltagsbewältigung und die durch den Krankenhausaufenthalt bedingten Umstellungen, welche einen breiten Raum einnehmen, aber vor allem natürlich die existentielle Auseinandersetzung mit Krankheit und Tod. Die vier hauptsächlichen Belastungen von Familienmitgliedern sind (1) Zukunftsangst, (2) das Problem, Informationen zu bekommen, (3) die Belastung, das Kind leiden zu sehen und (4) die Belastung, nicht zu wissen, was als nächstes geschehen wird.

Die Familie als Ganzes ist erschüttert und jedes einzelne Familienmitglied ist mit einer komplett veränderten Lebensrealität konfrontiert. Die Beziehung der Eltern untereinander ist davon ebenso betroffen wie die Beziehung zum kranken Kind, zum gesunden Kind, die Geschwisterbeziehung und diejenige zu den eigenen Eltern. Der Kreis der Mitbetroffenen lässt sich ausweiten auf Freunde, Nachbarn, Spielgefährten, Lehrer usw.

Verarbeitungsprozess
Auch wenn der Krankheitsverlauf von Kind zu Kind unterschiedlich ist, gibt es doch typische Phasen im Verarbeitungsprozess der Eltern. Die verschiedenen Stadien von der Diagnoseeröffnung über die Behandlungsphase, der Remissionsphase, bis hin zu einem eventuellen Rezidiv, können zu ganz unterschiedlichen Reaktionen führen und erfordern entsprechend unterschiedliche Verarbeitungsstrategien.

Die Krisentheorien liefern uns mögliche theoretische Konzepte zum Verständnis dieser Situationen. Die Krebserkrankung eines Kindes ist jedoch nicht eine einzelne Krisensituation, sondern eine ganze Krisenserie. Das Andauern einer Belastungssituation über längere Zeit im Sinne eines kumulativen Traumas kann analoge Reaktionen, wie sie nach akuten schweren Traumatisierungen beschrieben werden, bewirken und beschränkt damit auch den Wert einer Krisentheorie. Die erbarmungslose Akkumulation einer Belastungssituation vermindert die Frustrationstoleranz bis zu jenem Zeitpunkt, an welchem auf jeden kleineren Stressreiz so reagiert wird, als wäre es eine ernsthafte Bedrohung. So kann z.B. eine plötzlich notwendig gewordene Änderung der Zimmerbelegung bei einem stationären Aufenthalt zu einem regelrechten Zusammenbruch beim Kind und seiner Familie, bis zur tatsächlichen Behandlungsverweigerung, führen.

Das Leben der ganzen Familie wird aus seinen normalen Zusammenhängen gerissen. Viele Familien beschreiben diese Situation, indem sie von einem Leben vor der Krankheit und einem Leben nach der Krankheit sprechen. Die Eltern werden mit einer neuen Realität konfrontiert, mit neuen Definitionen von sich selbst und von anderen. Schließlich wird auch klar, dass ein langer und schwieriger Kampf angefangen hat. Selbst bei Hoffnung auf einen guten Ausgang und dadurch vielleicht einer schnelleren Rückkehr ins normale Leben, wird dieses nie mehr so sein, wie früher. Auf jeden Fall wird aus einem Kind, das war wie andere, eines, das nicht mehr ist wie andere.

Probleme im Zusammenhang mit der Krankheit
Eltern eines krebskranken Kindes haben folgende Probleme zu bewältigen: (1) sie müssen lernen, was eine Krebserkrankung ist (intellektuelle Aufgabe); (2) sie müssen mit Gefühlen von Schock, Unglauben und Angst umgehen (persönliche Aufgabe); (3) sie müssen dem Partner und anderen Familienangehörigen Unterstützung geben, aber auch selbst Hilfe annehmen können (interpersonelle Aufgabe); (4) sie müssen eine „angemessene” Behandlung unter verschiedenen möglichen identifizieren können (Informationsaufgabe); (5) sie müssen die Diagnose anderen mitteilen (sozialintegrative Aufgabe).

Diese Auflistung stellt nur eine Auswahl der zu bewältigenden Probleme dar, macht aber den Umfang und das Ausmaß der Belastung deutlich. Nach einer Studie von Cook waren die schwerwiegendsten Probleme für Mütter und Väter, die Schmerzen des Kindes zu bewältigen, den Tod des Kindes zu antizipieren, sich Sorgen um die Finanzen zu machen, sich über die Reaktionen anderer Familienmitglieder zu beunruhigen. Für die Mütter waren folgende Probleme signifikant schwieriger als für Väter: Hilflosigkeit, Verlust des Vertrauens in die Fähigkeit, eine gute Mutter zu sein, finanzielle Schwierigkeiten, von anderen gemieden zu werden, sich vom Ehepartner weg zu entwickeln und Angst, den Tod des Kindes nicht bewältigen zu können. Die Väter hatten mit zwei anderen Problemen mehr Schwierigkeiten: Mit dem Gefühl, vom Leben des Kindes ausgeschlossen zu sein und sich Sorgen zu machen, dass der Ehepartner sich zu stark um das Kind kümmert.

Problem Sprachlosigkeit
Während eine umfassende und altersgerecht gestaltete Information des Kindes heute selbstverständlich sein sollte, ist die Sprachlosigkeit zwischen den Eltern und dem vom Tode bedrohten Kind häufig nach wie vor ein erhebliches Problem. So haben die meisten Kinder oft eine sehr klare Wahrnehmung der Belastung der Eltern und haben nicht selten das Gefühl, dass sie diese nicht noch weiter belasten dürfen. Insofern verschonen sie die Eltern gerade in Akutsituationen oder bei bedrohlichen Entwicklungen davor, mit ihnen ihre Ängste, ihre Wut oder Verzweiflung zu teilen. So hängt nicht zuletzt von der Belastbarkeit der Eltern, deren sozialer Unterstützung und der gesamten familiären Situation ab, wie weit sich Kinder in derartigen Extremsituationen an die Eltern wenden können, um bei ihnen Halt und Unterstützung zu erfahren. Daher ist es entscheidend, den Eltern über die gesamte Zeit der Behandlung die Möglichkeit einer umfassenden psychosozialen Unterstützung zur Verfügung zu stellen.

Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.

Kerstin Westhoff ist klinische Psychologin in der kinder- und jugendpsychiatrischen Universitätsklinik Basel und auf der onkologischen Station im Kinderspital Basel tätig.

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