fK 2/06 Schulte-Markwort

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Psychosomatik chronischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter

von Michael Schulte-Markwort und Jan-Gerrit Behrens

Chronische Erkrankungen sind dadurch definiert, dass sie allenfalls zu lindern, aber nicht zu heilen sind. Grundsätzlich ist es sinnvoll, zwischen zwei Formen chronischer Erkrankungen zu differenzieren: eine chronische Krankheit kann ab Geburt bestehen oder aber zu einem späteren Lebenszeitpunkt aufgetreten sein. Alle chronischen Erkrankungen sind neben ihrem Schwere- und Ausprägungsgrad durch das jeweilige Maß der Behinderung zu unterscheiden. Darüber hinaus müssen zwei Formen des Erwerbs der chronischen Erkrankung abgegrenzt werden: erworbene chronische Erkrankungen (z.B. Diabetes mellitus Typ I; Epilepsie) bzw. traumatische chronische Erkrankungen (z.B. nach Infektionen oder Unfällen).

Auch wenn die jeweilige Bandbreite bezüglich der Ausprägung und des Schweregrads des chronischen bzw. chronifizierenden Verlaufs individuell sehr unterschiedlich sein kann, müssen das betroffene Kind bzw. der Jugendliche und seine Familie mit der Erkrankung leben lernen. Wie in der Psychotraumatologie gilt auch hier, dass das objektive Ausmaß einer Beeinträchtigung durch die chronische Erkrankung keinen Rückschluss auf das Ausmaß der subjektiv wahrgenommenen Beeinträchtigung und auf das damit einhergehende Maß an psychischer Beeinträchtigung und Störung erlaubt.

Die Bandbreite der Anpassungsleistungen von Kindern und Jugendlichen als Reaktion auf eine chronische körperliche Krankheit ist sehr breit. Immer wieder fallen chronisch kranke Kinder durch extrem ausgeprägte Adaptationsprozesse auf, die es ihnen ermöglichen, über lange Jahre schmerzvolle Symptome und medizinische Prozeduren sowie ständige Unterbrechungen ihrer Sozialkontakte beispielsweise durch Krankenhausaufenthalte zu tolerieren. Anderseits ist gut belegt, dass schwere chronische Erkrankungen zu psychischen Störungen führen bzw. die emotionale Entwicklung der betroffenen Kinder beeinträchtigen können.

Häufigkeit
Für Deutschland ist von knapp einer Million chronisch kranker Kinder auszugehen. Durch den beständigen Fortschritt der medizinischen Diagnostik und Behandlung ist davon auszugehen, dass die Häufigkeit chronischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter langsam, aber kontinuierlich zunimmt. Das atopische Ekzem ist die häufigste chronische Erkrankung im Kindesalter. Aktuelle Angaben für Deutschland gehen von einer Prävalenz von zwölf bis 15 Prozent aus. 40 Prozent der Säuglinge mit einer atopischen Dermatitis leiden an einer Nahrungsmittelallergie.

Die Prävalenz für die juvenile rheumatoide Arthritis liegt bei etwa 100 bis 200 Betroffene auf 100.000 Kinder, wobei Häufigkeitsschätzungen für Australien bei 400 auf 100.000 liegen. Für Deutschland geht man von einer Inzidenz von zehn bis 20 und einer Prävalenz von 50 bis 150 pro 100.000 Kindern und Jugendlichen vor dem 16. Lebensjahr aus.

Die zystische Fibrose ist die häufigste autosomal rezessive Erkrankung des Kindesalters. In Deutschland sind jährlich 300 bis 400 Neugeborene mit zystischer Fibrose zu erwarten, zurzeit sind rund 6.000 Patienten erfasst.

Bei 35 Prozent der bösartigen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter handelt es sich um Leukämien. Pro Jahr treten in Deutschland etwa 800 Neuerkrankungen auf.

Die chronisch entzündlichen Darmerkrankungen werden in Mittel- und Nordeuropa sowie in Nordamerika bei etwa 25 bis 35 pro eine Million Einwohner für den Morbus Crohn und bei circa zehn bis 25 pro eine Million Einwohner für die Colitis ulcerosa diagnostiziert.

Krankheitsspezifische Risikofaktoren
Unter krankheitsspezifischen Risikofaktoren sind in diesem Kontext Charakteristika einer chronischen Erkrankung zu verstehen, die das Risiko für betroffene Kinder, eine psychische Störung zu entwickeln, erhöhen. Zusätzliche belastende Faktoren, die auch körperlich gesunde Kinder einem entsprechenden Risiko aussetzen, sind hiervon abzugrenzen. Darüber hinaus sind krankheitsspezifische Schutzfaktoren zu berücksichtigen. Hier ist in erster Linie an eine besonders umfassende medizinische Versorgung zu denken, aber auch an besonders geschützte Positionen und Rücksicht im sozialen Umfeld oder auch an materielle Vergünstigungen.

Eine chronische Erkrankung muss sich nicht immer pathogen oder entwicklungshemmend auswirken, im Gegenteil kann es sein, dass ein Kind unter entsprechenden Umständen einen Entwicklungsschub vollzieht, indem es die krankheitsbedingten Einschränkungen nutzt, um mit einem aktiven Coping auch in anderen psychosozialen Bereichen seines Lebens voran zu kommen. Allerdings können eine extrem überangepasste Reaktion, die nicht mit einem aktiven Coping verwechselt werden darf, ebenso wie pathologische Reaktionen zu einer Behandlungsindikation führen.

Bedeutung der Ätiologie
Je schicksalhafter eine Erkrankung ein Kind und seine Familie trifft, desto größer die Chance, damit angemessen umgehen zu können. Je mehr Elemente dazukommen, die auf eine Verantwortlichkeit der Eltern verweisen, desto höher das Risiko, dass sich auf der Basis von Schuldgefühlen psychopathologische Reaktionsmuster auf das Kind oder den Jugendlichen übertragen. Hierbei spielt es unter Umständen eine nachgeordnete Rolle, wie rational die Annahmen über das Verhinderungspotential tatsächlich sind. So kann zum Beispiel ein Elternteil, der – wie sich nach der Geburt des ersten Kindes herausstellt – ein Merkmalsträger für die kindliche Erkrankung war, ohne dass er das wissen konnte, sich schwere Vorwürfe darüber machen, nichts davon gewusst zu haben. Je deutlicher wird, dass ein Kind tatsächlich auf Grund mangelhafter Fürsorge seiner Eltern chronisch erkrankt ist (z.B. auf Grund nicht erfolgter Impfung), desto größer der Risikofaktor für die Entstehung psychischer Störungen sowohl beim Kind als auch bei den Eltern. Zur Einschätzung dieses Risikofaktors ist es immer von großer Bedeutung, die individuellen Krankheitskonzepte der einzelnen Familienmitglieder zu erfassen. Religiöse Überzeugungen gehören ebenso dazu wie spirituelle oder paramedizinische Annahmen.

Bedeutung des Krankheitsbeginns
Je früher im Leben eines Kindes eine chronische Krankheit beginnt, desto größer die Fähigkeit, sich damit zu arrangieren und alle mit der Erkrankung verbundenen Einschränkungen und medizinische Prozeduren ohne wesentliche Beeinträchtigung über sich ergehen zu lassen. Viel bedeutsamer in diesem Kontext ist die Reaktion der Familie, insbesondere der Mutter. Ist sie psychisch besonders betroffen und/oder reagiert sie mit bewussten oder unbewussten Schuldgefühlen, so muss das Kind den Eindruck haben, etwas sehr Schlimmes sei geschehen. In der Kindergartenzeit kann es allerdings sein, dass der Beginn einer Erkrankung in eine vulnerable Phase eines Kindes fällt, z.B. im Rahmen einer Schwellensituation, und dann weniger gut verarbeitet werden kann. Insbesondere im Rahmen magischer Denkweisen kann ein Kindergarten- oder Schulkind davon ausgehen, dass die Krankheit eine Strafe für schlechtes Benehmen in der Vergangenheit ist.

Besonders anfällig für psychische Reaktionen im Kontext einer chronischen Erkrankung sind Jugendliche. Da sie sowieso sehr anfällig sind für Kränkungen und sich ihres Selbstwertes einschließlich eines sicheren und positiven Körperbildes nicht immer gleichmäßig sicher sind, kann die Erkrankung wie eine massive Beschädigung des Selbst erlebt werden.

Bedeutung der Diagnose
Je früher sich ein Kind und eine Familie mit einer endgültigen Diagnose auseinander setzen kann, desto größer die Chance, dass adäquat reagiert werden kann. Lange Phasen diagnostischer Unsicherheit oder – von wem auch immer verursachte – Phasen des Abwartens verringern die Coping-Kapazitäten der betroffenen Familie.

Analog zur peritraumatischen Reaktion führt auch die erste Konfrontation mit der Diagnose einer chronischen, unheilbaren Erkrankung zu einer Abfolge von psychischen Reaktionen, die von Betroffenheit und Trauer, dem nachfolgenden psychischen Widerstand („das kann nicht sein!“) und schließlich der akzeptierenden Verarbeitung gekennzeichnet ist. Dabei hängt naturgemäß viel von den psychosozialen Konsequenzen für das Kind und seine Familie, verbunden mit den Zukunftsperspektiven in Abhängigkeit der bis dahin vorhandenen Lebensentwürfe und -pläne ab.

Eine besondere Bedeutung im Umgang mit der Diagnose kommt dem jeweiligen Diagnostiker zu. Ist er unsicher im Umgang mit der Mitteilung schwieriger Diagnosen bzw. Prognosen, wird er immer wieder dafür sorgen, dass die unsicheren psychischen Prozesse in der Familie sich zu einem Risikofaktor ausweiten. Die rechtzeitige Kontaktanbahnung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. -psychosomatik dient der Minimierung dieser der medizinischen Prozedur immanenten Risikofaktoren.

Bedeutung von körperlicher Behinderung und Entstellung
Je mehr eine chronische Krankheit mit körperlicher Behinderung einher geht bzw. körperliche Entstellungen im Sinne von Deformitäten hinzu kommen, desto größer der jeweilige krankheitsspezifische Risikofaktor. Von besonderer Bedeutung in diesem Kontext ist der Zeitpunkt des Auftretens der Behinderung. Je länger das Kind einen unversehrten Körper erlebt hat, desto größer wird der psychische Einbruch sein, wenn es sich plötzlich auf ein Leben mit Behinderung einstellen muss.

Eine weitere wichtige Bedeutung kommt einer etwaigen Progredienz der Entstellung zu. Nimmt diese beständig zu oder wird sie immanent durch die somatische Behandlung immer wieder verstärkt, so erhöht sich der krankheitsbedingte Risikofaktor. Erfahrungen mit gleichgestellten Kindern, etwa in einer Körperbehindertenschule, können das Risiko abmildern. Die Notwendigkeit integrativer Maßnahmen muss in jedem Einzelfall eingeschätzt werden. Dabei ist es wichtig zu wissen, dass nicht jedem Kind mit einer Behinderung zum Beispiel eine Beschulung in einer Integrationsklasse gut tut, weil die tägliche Konfrontation mit den eigenen Defiziten, dem eigenen Unvermögen sowie dem Angewiesensein auf Unterstützung nicht immer hilfreich ist. Auch, wenn der Umgang mit behinderten Klassenkameraden den nicht behinderten Kindern hilft, soziale Verhaltensweisen wie Rücksicht und Fürsorge zu erlernen, darf dies nicht zu einem pädagogischen Missbrauch behinderter Kinder führen.

Bedeutung von Schweregrad und Prognose
Die individuellen und familiären Krankheitskonzepte bzw. das konkrete Wissen um die reale Prognose haben einen erheblichen Einfluss auf die Adaptationsprozesse. Eine Familie, die getragen ist von der Idee, dass es eines Tages eine wirksame Behandlung geben wird, oder die nicht aufgibt, medizinische Experten in aller Welt zu konsultieren, kann, gestützt auf das Gefühl der Hoffnung, unter Umständen besser mit der chronischen Erkrankung ihres Kindes leben als eine, die allen Optimismus aufgegeben hat. Es gehört sehr viel Erfahrung und Fingerspitzengefühl dazu, jede Familie mit der adäquaten Copingstrategie zu unterstützen. Bildet sich allerdings ein Damokles-Syndrom aus, in dessen Verlauf sich die Familie bzw. das Kind beständig übermäßig bedroht und verunsichert fühlt, wird es darum gehen, ihnen Strategien an die Hand zu geben, die Befürchtungen zu minimieren oder an der Realität gemessen geringer zu halten.

Bedeutung des Geschlechts
Ohne Zweifel gibt es geschlechtsspezifische Risiko- und Schutzfaktoren, die auch im Kontext einer chronischen Erkrankung wirksam sind. So ist zum Beispiel eine Erkrankung, die einen Jungen an sportlichen Aktivitäten hindert, für ihn in der Regel beeinträchtigender als für ein Mädchen. Andererseits sind möglicherweise entstellende Stigmata für Mädchen schwerer zu kompensieren als für Jungen, denen es leichter fällt, sich zum Beispiel auf eine kognitive Kompensation zu stützen. Auch wenn es hierzu bislang keinerlei Untersuchungen gibt, sollte jeder Behandler geschlechtsspezifische Faktoren berücksichtigen.

Bedeutung von Coping und Empowerment
Auch wenn grundsätzlich gilt, dass aktive Copingstile mit den entsprechenden Kontrollüberzeugungen hilfreich sind, um mit einer chronischen Erkrankung fertig zu werden, so ist auch zu beachten, dass die Bandbreite der von Kindern und ihren Familien angewandten Copingstile sehr variabel ist, so dass immer nur im Einzelfall darüber entschieden werden kann und sollte, wann ein spezifischer Copingstil dysfunktional ist. Nicht immer sind dann die psychohygienischen Vorstellungen eines Psychotherapeuten, der sich an der Normalität orientiert, hilfreich.

Nicht zu unterschätzen sind in diesem Zusammenhang auch die psychischen Mechanismen, die zu einer – unter Umständen vorzeitigen – Verselbständigung des betroffenen Kindes oder Jugendlichen führen. Ein solches Verhalten vorschnell als Überanpassung zu markieren, verkennt das gelungene Coping eines Kindes und seiner Familie. Chronische Erkrankungen aktivieren immer wieder Akzelerationsprozesse, die keineswegs dysfunktional sein müssen.

Bedeutung des kulturellen Kontextes
Die Bedeutung und Zuordnung chronischer Erkrankungen ist kulturabhängig. So kann es zum Beispiel sein, dass eine Familie die Erkrankung ihres Kindes als Gottesstrafe, als Fluch oder auch als Schande wahrnimmt. Dies hat erhebliche Konsequenzen für den Umgang sowohl mit der Krankheit als auch mit dem Kind. Dabei darf nicht unterschätzt werden, dass die Tatsache, in einer westlichen Industrienation zu leben, nichts aussagt über das Ausmaß der Integration, Assimilation oder die Wirksamkeit religiöser oder kulturspezifischer Annahmen. Dies gilt nicht nur für subjektive Hypothesen zur Ätiologie, sondern auch für den Umgang und die Bedeutungszuschreibung medikamentöser Behandlungsansätze. Im Zweifelsfall sollten solche vermuteten Zusammenhänge konkret abgefragt und vor allem immer mit einem professionellen Dolmetscher angegangen werden.

Kindliche Krankheitskonzepte
Die Entwicklung der kindlichen Krankheitskonzepte verläuft parallel zu der kognitiven Entwicklung. Mit zunehmendem Alter und differenzierender Entwicklung sind die Kinder mehr und mehr in der Lage, zu abstrahieren, sich selbst von anderen getrennt zu betrachten und innere Zustände anderer empathisch wahrzunehmen. Dennoch können Kinder erheblichen Fehlannahmen unterliegen, die eine medizinische Untersuchung beziehungsweise Behandlung erheblich erschweren können. Irrationale und überängstliche Reaktionen von Kindern können auf zum Beispiel magischen Annahmen beruhen und werden sich erst dann nachhaltig auflösen lassen, wenn man sie als Untersucher erfragt. Dabei existiert keine ausreichende Korrelation zwischen der globalen Intelligenz beziehungsweise kognitiven Entwicklung eines Kindes und seinen Krankheitskonzepten. Auch der Fähigkeit, allgemeine Kausalität zu erkennen und zu verstehen, hinkt das Verständnis für die Krankheitsentstehung in der Regel hinterher.

Für die psychosomatische bzw. psychotherapeutische Behandlung von besonderer Bedeutung sind kindliche Phantasien von Schuld und Strafe. So kann nicht nur ein Unfall sondern der Beginn einer chronischen Erkrankung – bewusst oder unbewusst – als Bestrafung für ein nicht regelkonformes Verhalten aufgefasst werden und kann zum Beispiel als Non-Compliance im Sinne einer Selbstbestrafung seine Fortsetzung finden. Hierbei dürfen elterliche Annahmen in ihrer Irrationalität und Bedeutung nicht unterschätzt werden. Ebenso darf nicht unterschätzt werden, in welchem Ausmaß Kinder unter Umständen Symptome schwerer Erkrankungen nicht nennen, weil sie sich zum Beispiel schämen.

Speziell im Kontext kinder- und jugendpsychiatrischer Erkrankungen, die in der Regel nur sekundär mit somatischen Symptomen einhergehen, können implizite oder explizite Krankheitskonzepte der Patienten von großer Bedeutung für die Behandlung sein. So hielten sich in einer eigenen Untersuchung Kinder und Jugendliche im Alter zwischen elf und 18 Jahren erst vier Wochen nach der stationären Aufnahme selber für signifikant krank, während sie zum Zeitpunkt der Aufnahme davon ausgingen, das Pflegepersonal sei psychisch kränker als sie selbst. Besonders bei chronisch kranken Kindern, die sich von Zeit zu Zeit entwicklungsabhängig verweigern, ist es sinnvoll, die Eltern so aufzuklären, dass sie die jeweiligen Krankheitskonzepte ihres Kindes adäquat einschätzen und entsprechend darauf reagieren können.

Informierte Zustimmung (Informed Consent)
Aus juristischer Sicht sind minderjährige Patienten nicht beziehungsweise erst ab dem 16. Lebensjahr begrenzt in der Lage, ein wirksames Einverständnis in eine Behandlung zu geben. Dazu müssen sie in der Lage sein, die Art und Weise einer geplanten Behandlung allumfänglich zu verstehen, Vorteile, Risiken und Nebenwirkungen in einen abwägenden Prozess einzubeziehen und Alternativen zu benennen. Aus moralischer Sicht jedoch sind Kinder jedes Alters so in den Entscheidungsprozess einzubeziehen, dass ein entwicklungsadäquater „informed consent“ entsteht.

Wiederholte Hospitalisationen
Wiederholte Hospitalisationen im Kontext einer chronischen Erkrankung haben einen negativen Einfluss auf die nachfolgende Adaptation, allerdings dürften veränderte medizinische Behandlungsregimes, die kindgerechter sind, diese Forschungslage verändert haben. Im Prinzip gelten für die Auswirkungen wiederholter Hospitalisationen ähnliche Zusammenhänge wie für die chronischen Erkrankungen überhaupt. Zu berücksichtigen sind: die Art der Erkrankung, die Qualität früherer und aktueller Krankenhauserfahrungen, der soziokulturelle Kontext der Hospitalisation, die adaptativen Fähigkeiten der Eltern und des Kindes sowie die Fähigkeit der Eltern, die Erkrankung ihres Kindes angemessen zu bewältigen. Auch wenn ein Elternteil übermäßig ängstlich auf den Krankenhausaufenthalt reagiert und dies unübersehbar einen entsprechenden Einfluss auf das Verhalten und die Erfahrung des Kindes hat, macht es – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in der Regel wenig Sinn, die Eltern auszuschließen. Viel mehr wird die Frage einer psychotherapeutischen Intervention bei dem betroffenen Elternteil abzuwägen sein.

Hospitalisationen in den ersten sechs Lebensmonaten haben dann keinen negativen Effekt, wenn die Beziehungsanbahnung beziehungsweise deren Bindungsaufbau einigermaßen ungestört ablaufen kann. Auch wenn ein möglichst umfassender altersentsprechender Einbezug von Kindern in medizinische Prozeduren in der Regel hilfreich und notwendig ist, darf man sich von einem einseitig rational orientierten Zugang zum Kind nicht zu viel versprechen. Erst wenn auch potentielle magische – oder im Jugendalter irrationale – Annahmen und Befürchtungen abgefragt beziehungsweise aufgegriffen werden, kann das Kind in die Untersuchung bzw. Behandlung einbezogen werden. Dabei wird man immer dafür Sorge tragen müssen, dass die begleitenden Eltern in der Lage sind und bleiben, einen ausreichend sicheren emotionalen Rahmen für das Kind zu gewährleisten.

Bei jugendlichen chronisch kranken Patienten darf nicht unterschätzt werden, was es unter Umständen für eine Kränkung bedeutet, in einer Kinderklinik behandelt werden zu müssen. Nicht selten sind diese jugendlichen Patienten aufgrund der Dauer ihrer Erkrankung emotional sehr an eine bestimmte Kinderklinik und deren Behandlungsteam gebunden und sie finden aus dieser Ambivalenz keine gute Lösung für sich. Hier ist es hilfreich, diese widerstreitenden emotionalen Impulse aufzugreifen, zu thematisieren und insbesondere mit dem Pflegeteam dafür Sorge zu tragen, dass die Jugendlichen entsprechend respektiert und von den kleineren Patienten fern gehalten werden.

In Notfallsituationen, in denen Eltern zu dekompensieren drohen, ist es notwendig, eine entsprechende psychosomatisch-psychotherapeutische Kriseninterventionsmöglichkeit bereit zu halten. Bei langen Krankenhausaufenthalten wird es bei kleineren Kindern primär darum gehen, die Eltern zu entlasten, zum Beispiel dadurch, dass auf der Grundlage einer sozialpädagogischen Unterstützung Entlastung für zuhause organisiert wird oder dadurch, dass einem belasteten Ehepaar eine entsprechende stützende Paartherapie angeboten wird. Bei älteren Kindern beziehungsweise Jugendlichen wird man dafür Sorge tragen, dass ein ausreichendes schulisches Angebot vorgehalten wird, das einen engen Kontakt zur Heimatschule hält und hilft, schulische und kognitive Defizite zu minimieren. Ein guter Kontakt zur alten Klasse sowie zu Freunden ist ein stabiler Prädiktor für ein angemessenes Coping.

Grundprinzipien psychosomatischer Behandlung
Eine wesentliche Grundlage der psychosomatischen Behandlung chronischer Erkrankungen im Kindes- und Jugendalters stellt die enge und gleichberechtigte Kooperation mit dem somatischen Behandler, meistens dem Pädiater, dar. Wenn die psychiatrisch-psychotherapeutische Kompetenz immer erst dann abgerufen wird, wenn sich psychopathologische Phänomene chronifiziert haben oder die Hinzuziehung als „letzter Versuch“ kommuniziert wird, wird dem Patienten und seiner Familie die Behandlung der psychischen Seite implizit als minderwertig vermittelt und hat entsprechend schlechtere Chancen, angenommen zu werden und zu wirken. Umgekehrt wird jede psychosomatische Behandlung im Kindes- und Jugendalter eine umfassende somatische Diagnostik und Behandlung immer rechtzeitig mit einzubeziehen haben.

Grundsätzlich geht es in jeder Behandlung eines chronisch kranken Kindes darum, ein gemeinsames Krankheitskonzept mit dem Kind und seiner Familie zu erarbeiten. Neben der alters- und entwicklungsadäquaten Aufklärung geht es vor allem darum, intrafamiliäre dysfunktionale Konzepte aufzugreifen und zu korrigieren. Das Vorbesprechen medizinischer Prozeduren in einer praxisorientierten und kindgerechten Art gehört dann ebenso dazu wie das Durchspielen im Rollenspiel. In Kombination mit Entspannungsverfahren kann so die Angst und die Compliance beim Kind verbessert werden. Dabei sollte nicht unterschätzt werden, dass Jugendliche oft längst nicht so souverän sind, wie sie vordergründig vorgeben. Häufig wird die Bedeutung einer umfassenden Aufklärung beziehungsweise eines umfassenden Wissens bei Kindern und Jugendlichen über die eigene Erkrankung überschätzt. In vielen Studien konnte gezeigt werden, dass gute Kenntnisse über die eigene Erkrankung keine Vorhersage über die Qualität der Verarbeitung erlauben.

Der Beitrag ist die gekürzte und bearbeitete Fassung eines gleichnamigen Artikels, erschienen in: Herpetz-Dahlmann B., Leitfaden für den Kinder- und Jugendarzt. München: Marseille Verlag; 2006. S. 39-54. Wir danken dem Hans Marseille Verlag für die Genehmigung.

Prof. Dr. Michael Schulte-Markwort ist ärztlicher Leiter der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychosomatik am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

Dr. Jan-Gerrit Behrens ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Psychosomatischen Abteilung des Altonaer Kinderkrankenhauses in Hamburg.

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