fK 2/03 Erler

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Schütteln Sie nie eine Baby!

Gefahren für Säuglinge werden häufig unterschätzt

von Thomas Erler

Wie hatte sich das junge Paar über die Schwangerschaft und den damit angekündigten Nachwuchs gefreut! Die Begeisterung und Vorfreude wuchs täglich. Endlich würden sie eine richtige Familie sein. Und dann der große Moment der Geburt: ein kleinen hilfloses Wesen, der Mama wie aus dem Gesicht geschnitten. Der Moment als alle drei nach Hause kamen war unbeschreiblich!

Nach etwa sechs Wochen waren die schönen Momente nur noch selten: kaum war Marie trocken gelegt, spuckte sie wieder eine gehörige Portion Milch über sich und das Sofa – wieder neu anziehen. Die Mama bewältigte die Wäscheberge nicht mehr, Einkaufen und Saubermachen fielen schon seit längerem aus, Erholung war ein Fremdwort.

„Die ersten Nächte saßen wir noch gemeinsam am Bett der Kleinen und versuchten sie in den Schlaf zu wiegen. Die Nachbarn klopften regelmäßig an die Wand, wenn Marie ihr nächtliches „Konzert“ anstimmte. Wir waren nur noch müde, lustlos, unausgeglichen, die Wohnung sah chaotisch aus, die unbewältigten Aktenberge am Arbeitsplatz wuchsen ständig, der Chef war bereits nicht mehr ansprechbar.

Irgendwann hatten wir den Eindruck, Marie brüllte immer genau dann, wenn wir gerade einschlafen wollten. Und war die Flasche dann nicht sofort bereit, schrie unsere Tochter, als müsse sie verhungern. Letzte Nacht habe ich die Nerven verloren und sie solange geschüttelt, bis sie begriffen hatte, dass Schreien die Milch auch nicht schneller wärmt.“

So oder ähnlich könnte nicht selten bei Eltern der Alltag mit einem Säugling aussehen. Die anfängliche Freude und Euphorie tritt durch den alltäglichen Stress (Kind, Haushalt, kaum Schlaf, völlig veränderter Tagesrhythmus) immer mehr in den Hintergrund. Möglicherweise bringt dann irgendwann das nächtliche Schreien des Kindes das Fass zum Überlaufen. Die Eltern hoffen, ihr Kind durch kräftiges Schütteln zur Ruhe zu bekommen, und meinen gleichzeitig, ihm dadurch nicht weh zu tun. Ein fataler Irrtum. Seit den Veröffentlichungen von Caffey und Guthkelch sind die pathogenetischen Verletzungsvorgänge beim Schütteln eines Säuglings bekannt. Das „whiplash shaken infant syndrome“ (oder auch: „shaken baby syndrome“) wird durch kräftiges Schütteln der meist an Brustkorb, Schultern oder oberen Extremitäten gehaltenen Kindern verursacht. Dabei kommt es zu peitschenschlagähnlichen Bewegungen des Kopfes entlang der transversalen Achse und zu Rotationsbewegungen. Aufgrund der Massenträgheit bleibt das kindliche Gehirn relativ zu diesen Bewegungen zurück, der Abriss von Brückenvenen und Berstungsrupturen von Gefäßen der weichen Hirnhäute mit nachfolgenden Hämatomen sind die zwangsläufige Folge.

Prävention

Der wichtigste Aspekt beim Schütteltrauma im Säuglingsalter ist die Aufklärung über die besondere Gefährlichkeit dieser nur vermeintlich harmlosen Schädigungsform. Es ist erschreckend und erstaunlich zugleich, dass selbst Fachpersonen die Gefährlichkeit des Schüttelns von Säuglingen und Kleinkindern nicht bekannt ist, während Schläge auf den Kopf und Stürze als besonders dramatisch dargestellt werden.

Diesen Aufklärungsaspekt fokussiert die Schweizerische Stiftung Kinder und Gewalt, indem sie ein Faltblatt und ein Lehrvideo produziert hat.

Das Faltblatt „Hilfe! mein Baby hört nicht auf zu schreien“ zeigt jungen Eltern Möglichkeiten auf, mit dem Schreien ihres Säuglings umzugehen; dabei wird auch auf die Gefährlichkeit des Schüttelns hingewiesen. Das Lehrvideo „Schütteln Sie nie ein Baby!“ zielt in die gleiche Richtung.

Noch wichtiger ist die Prävention auf der emotional-verhaltensmäßigen Ebene, schreibt Ulrich Lips, Leitender Arzt der Medizinischen Klinik in Zürich. Beim Täter kommen in der Regel Belastungsfaktoren aus verschiedenen Bereichen zusammen und führen zur Überforderung, die bei mangelnder Impulskontrolle zur körperlichen Misshandlung führen kann. Hier sollte denn auch diese Art der Prävention ansetzen, die eine gesellschaftspolitische Aufgabe größter Dimension ist und primär in den Bereich der Erwachsenenbildung gehört. Dabei ginge es darum, heranwachsenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen vor ihrer Elternschaft Verhaltensalternativen zu aggressiven Reaktionsmustern beim Vorliegen von Überforderungssituationen zu vermitteln. Diese Art von Prävention ist in Deutschland kaum bekannt.

Wichtig erscheint auch eine kontinuierliche Aufklärung der Öffentlichkeit über die Gefährlichkeit des Schüttelns eines jungen Säuglings ganz allgemein.

Nur wirksame Prävention vermag letztlich das große Leid der Opfer und ihrer Angehörigen zu verhindern. Ihr gebührt deshalb erste Priorität.

Dr. med. habil. Thomas Erler ist Oberarzt an der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin im Carl-Thiem-Klinikum Cottbus

Schütteln Sie nie eine Baby!
Unter dem Titel „Schütteln Sie nie eine Baby!“ hat die Schweizerische Stiftung Kinder und Gewalt ein Lehrvideo für Eltern und Fachkräfte produziert. Dazu wird ein Faltblatt verteilt, in dem Eltern Tipps bekommen, was sie tun können, wenn ihr Baby nicht aufhört zu schreien.
Informationen und Bestellungen:

Schweizerische Stiftung Kinder und Gewalt
Eigermatte 46, Postfach 1235, CH – 3110 Münsingen
Tel.: ++41-317-215 073, Fax: ++41-317-215 024

E-Mail: info@kinderundgewalt.ch
www.kinderundgewalt.ch

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