17 Aug fK 2/02 Viernickel
Die soziale Kinderwelt der Zweijährigen
von Susanne Viernickel
In der Diskussion um die institutionelle Gruppenbetreuung von Kindern unter drei Jahren wird der Fokus fast ausschließlich auf deren mögliche emotionale Belastung durch die zeitweilige Trennung von der Hauptbezugsperson gelegt sowie auf etwaige negative Entwicklungsergebnisse durch das notwendige Teilen der Erzieherin mit einer Reihe anderer Kinder. Seltener wird Tagesbetreuung unter dem Blickwinkel betrachtet, welche Möglichkeiten und Chancen das regelmäßige Zusammensein mit anderen Kindern auch für Kinder unter drei Jahren bietet. Dabei wird hier ausschließlich auf soziales Geschehen zwischen Kindern unter drei Jahren Bezug genommen; die Diskussion von Vor- und Nachteilen altersgemischter Betreuungskonzepte bleibt weiteren Beiträgen vorbehalten.
Die Gleichaltrigengruppe als wichtige Sozialisationsinstanz
In der Früh- und Vorschulpädagogik gilt die Kindertagesstätte seit den Reformbemühungen Anfang der 1970er Jahre als Ort sozialen Lernens, wo Interaktionskompetenzen wie Kommunikations- und Konfliktfähigkeit, Toleranz – heute auch z.B. interkulturelle Kompetenz – durch Erfahrungen in der Gruppe Gleichaltriger erworben und eingeübt werden. Mit den Erfahrungen, die Kinder unter ihresgleichen machen, sind – wie mittlerweile vielfältige Studien belegen können – eigenständige Entwicklungsprozesse verbunden, und Ablehnung von Seiten der Peer-Gruppe ist assoziiert mit negativen Entwicklungsergebnissen wie schulischem Versagen oder psychischen Problemen. Ein Merkmal, das Peer-Beziehungen charakterisiert und das zum Verständnis der speziellen Entwicklungsanregungen, die diese bieten, von Entwicklungstheoretikern wie Jean Piaget oder James Youniss als besonders bedeutsam hervorgehoben wird, ist die Gleichartigkeit oder zumindest Ähnlichkeit der Interaktionspartner, was Vorwissen, Status, die Verfügung über Macht über den anderen etc. angeht. Beziehungen zwischen Peers sind symmetrisch, im Gegensatz zu Beziehungen zwischen Kind und Erwachsenem, die immer von einem grundsätzlichen und wahrscheinlich unüberwindbaren Ungleichgewicht an Erfahrung, Wissen und Macht gekennzeichnet sind. Solche symmetrischen Beziehungs- und Interaktionskontexte bieten die große Chance, unterschiedliche Sichtweisen auf ein Problem – sei es nun intellektueller Natur, wie eine Mathematikaufgabe oder sozialer Art, wie z.B. eine Spielregel, über die keine Einigkeit herrscht – in einem ko-konstruktiven Prozess auszuhandeln, bei dem keiner aufgrund seiner Autorität oder seiner intellektuellen Überlegenheit dem anderen die Lösung quasi „serviert“. Vielmehr sind beide Interaktionspartner gefordert, die eigenen Gedanken und Überlegungen dem anderen plausibel darzulegen, die Argumente des Gegenübers zu prüfen und eine beiderseits akzeptierte Sichtweise zu entwickeln.
Während Peers also für Kinder im Kindergartenalter, spätestens jedoch für Schulkinder als wichtige Sozialpartner anerkannt sind, ist dies für Kleinkinder weit weniger der Fall, und in der pädagogischen Diskussion um mögliche Auswirkungen institutioneller Gruppenbetreuung auf Kinder im Alter von unter drei Jahren werden Entwicklungsanreize und Risiken (besonders im Hinblick auf die frühe Trennung von den Hauptbezugspersonen) gegeneinander abgewogen. Auch die konkrete Frage, ob Kinder unter drei Jahren vom Umgang miteinander überhaupt profitieren, wird in der wissenschaftlichen Diskussion durchaus unterschiedlich beantwortet. Wer jedoch die Teilnahme an sozialer Interaktion und die daraus resultierenden Erfahrungen als eine unumgängliche Basis für die Aneignung der Umwelt und für die Entwicklung eines Bewusstseins von sich selbst versteht, kommt nicht umhin, auch die Peer-Sozialwelt junger Kinder daraufhin zu befragen, welcher speziellen Art die Erfahrungen sind, die Kleinkinder unter ihresgleichen machen, welche Kompetenzen sie dabei erwerben und inwieweit sich auf diese Erfahrungen erste Beziehungen gründen können. Die entwicklungspsychologische und frühpädagogische Forschung hat auf diese Fragen eine Reihe von interessanten Antworten gegeben.
Kleinkinder haben Interesse aneinander
Bereits sehr junge Kinder nehmen einander als Ziele ihrer sozialen Signale wahr und zeigen Gleichaltrigen gegenüber ein deutlich anderes Verhalten als gegenüber materiellen Objekten. Babys unter einem Jahr versuchen, Gleichaltrige anzulächeln, Laute zu äußern, sich anzunähern und zu berühren. Solche „sozial gerichteten Verhaltensweisen“ sind allerdings noch keine Interaktionen; erst, wenn der Partner wiederum eine soziale Reaktion zeigt – wobei auch Abwehr oder ein gegen den anderen gerichtetes Verhalten in diesem Sinne „sozial“, nämlich auf den Sozialpartner gerichtet ist – ist ein sozialer Austausch, eine Interaktion, entstanden. Im letzten Viertel des ersten Lebensjahres können solche Interaktionen, u.a. der Austausch von Spielobjekten, gegenseitige Nachahmung und erste einfache Spiele – wie einen Ball hin- und herrollen – bereits regelmäßig beobachtet werden. Gleichzeitig beginnen die Kleinkinder, um Spielzeug zu streiten, und auch aggressives Verhalten tritt auf.
Das zweite Lebensjahr ist eine Periode, in der sich im Verhalten gegenüber Gleichaltrigen rasante Entwicklungen vollziehen. Auch wenn Erwachsene, und dabei vor allem vertraute Bezugspersonen nach wie vor wichtige Interaktionspartner bleiben, treten Kleinkinder, wenn sie Gelegenheit dazu haben, zunehmend öfter in den Kontakt und sozialen Austausch mit anderen Kindern ein. In Kindertageseinrichtungen oder anderen Gruppenbetreuungs-Arrangements verschiebt sich das Verhältnis, in dem Kinder den Kontakt zum Erwachsenen oder zu anderen Kindern suchen, kontinuierlich zugunsten der Peers. Die soziale Formation, in der dies geschieht, ist in den ersten drei Lebensjahren zumeist die Dyade; fast alle Interaktionen finden in dieser Altersgruppe zwischen lediglich zwei Kindern statt. Die komplexe Situation, wo mehrere Kinder in einem Gruppenprozess ein Spiel initiieren, ihre Rollen darin finden und das Spiel flexibel abwandeln und weiter entwickeln, übersteigt sowohl die kognitiven als auch die sozialen Fähigkeiten sehr junger Kinder. Mit einem einzelnen Interaktionspartner sind Kinder im zweiten Lebensjahr jedoch in ihrem sozialen Austausch und der Abstimmung ihrer Handlungen erstaunlich kompetent, wie die folgenden Abschnitte zeigen werden.
Kleinkinder finden Wege der Verständigung
Es stellt sich zunächst einmal die Frage, welche Mittel Kleinkindern zur Kommunikation miteinander zur Verfügung stehen. Obwohl in der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahres viele sozial gerichtete Verhaltensweisen von Lautäußerungen begleitet werden, spielt der sprachliche Austausch ja noch eine untergeordnete Rolle. Die Kinder finden und nutzen jedoch andere Wege der Verständigung: Mimik, Gestik und Körperhaltung sind hier wichtige Elemente. Eine zentrale Rolle spielt die Imitation bzw. Nachahmung des Verhaltens anderer Kinder. Die überwiegende Mehrzahl aller Interaktionen zwischen Kleinkindern enthält imitative Elemente, und vor allem über das Nachahmen des Verhaltens des Partners sind sie in der Lage, auch längere Interaktionssequenzen aufrecht zu erhalten. Sie erleben sich in diesen Situationen nicht nur als kompetent und effektiv im sozialen Austausch, sondern demonstrieren einander Gleichartigkeit und Verbundenheit. Nicht ohne Grund wird die gegenseitige Imitation gelegentlich als die „Sprache“ von Kleinkind-Freundschaften bezeichnet. Die Imitation von Verhaltensweisen und Spielsequenzen anderer Kinder ist auch beim parallelen Spielen, einer wichtigen Spielform der ersten drei Lebensjahre, anzutreffen. Allerdings kommt es beim Parallelspiel zu keinem direkten Austausch zwischen den Kindern. Sie sind sich zwar der Nähe und Aktivität des anderen bewusst und spielen mit den gleichen oder zusammengehörigen Spielmaterialien; jedoch sind ihre Aktivitäten nicht aufeinander bezogen, es kommt zu keiner weitergehenden Gemeinsamkeit. Wir sprechen dennoch davon, dass das Parallelspiel eine Brückenfunktion für die Entwicklung von nicht sozialem zu sozialem Spiel und sozialer Interaktion innehat.
Wenn es darum geht, ein anderes Kind auf eine als aufregend oder lustig wahrgenommene Situation oder auf einen interessanten Spielgegenstand aufmerksam zu machen, verständigen sich Kleinkinder häufig über den mimischen oder motorischen Ausdruck ihrer Emotionen, wie z.B. durch übertriebenes Lachen, überraschte Schreie oder Händeklatschen. Eine weitere häufig zu beobachtende Strategie zur Kontaktaufnahme ist das Anbieten bzw. Überreichen eines Spielobjekts. Wenn der Partner das Angebot annimmt, gehen die Kinder zumeist gleich wieder auseinander und beide wirken zufrieden; als sei dieses kurze, aber freundliche Aufeinander-Eingehen – also der gelungene Sozialkontakt selbst und nicht das übergebene Spielobjekt – das eigentliche Thema der Interaktion. Auch soziale Spiele werden bereits erfolgreich initiiert, insbesondere, indem die Kinder eine Handlung ausführen, die Teil eines bekannten, konventionalisierten Spiels ist, oder aber, indem sie gerade das Gegenteil tun, nämlich etwas, was außerhalb eines Spielkontexts keine festgelegte Bedeutung hat (wie z.B. an die Heizung zu klopfen oder schrille Laute auszustoßen).
Spielmaterial und Objekte vermitteln sozialen Austausch
Spielzeuge oder, allgemeiner gesagt, Gegenstände spielen im sozialen Austausch zwischen Kleinkindern eine wichtige Rolle. Während die Verfügbarkeit von Spielzeug bei Kindern vor Vollendung des ersten Lebensjahres noch häufig dazu führt, dass das Interesse an anderen Kindern nachlässt, werden Spielmaterialien für Kinder im zweiten Lebensjahr geradezu zu „Mittlern“ sozialer Kontakte. Das Überreichen eines Spielobjekts wird, wie bereits weiter oben angesprochen, eine wichtige Strategie der Kontaktaufnahme, die sowohl gegenüber Erwachsenen als auch gegenüber Gleichaltrigen Erfolg verspricht und oft Anwendung findet. Zwar wird diese Strategie im Verlauf der Vorschulzeit zugunsten der sprachlichen Kommunikation von Kontakt- und Spielwünschen aufgegeben; dennoch bleibt der soziale Austausch von Kleinkindern überwiegend objekt-zentriert. Besitzkonflikte sind dabei, vor allem im zweiten und dritten Lebensjahr, häufig. Sie betreffen meist eher kleinere, transportable Spielmaterialien wie Matchbox-Autos, Rollenspiel- oder Baumaterial. Große und von ihrer Beschaffenheit her einfache Materialien – wie stabile Verpackungskartons – animieren Kleinkinder dagegen zu vielfältigen und ausgiebigen gemeinsamen Spielaktivitäten. Solch ein Material erfordert im Gegensatz zu kleinformatigem Spielzeug eine gemeinsame Anstrengung, wenn es bewegt werden soll; es regt an, sich den Explorationsideen anderer Kinder – Hineinkrabbeln, Hinausschauen, sich darin oder dahinter verstecken, Hinaufklettern und Herunterspringen – anzuschließen und diese weiter zu entwickeln; und es bietet zahlreiche Kommunikationsanlässe, weil Verständigung darüber hergestellt werden muss, wie weiter gespielt werden soll.
Peer-Interaktionen bieten besondere Erfahrungs- und Lernchancen
Auch für Kleinkinder gilt, dass Interaktionen mit Gleichaltrigen andere Verhaltensweisen und Kompetenzen herausfordern als Interaktionen mit Erwachsenen. So richten Kleinkinder z.B. bestimmte soziale Verhaltensweisen wie Gesten oder Berührungen eher an ihre Peers; mit Erwachsenen vokalisieren die Kinder dagegen häufiger, und diese werden auch häufiger angelächelt. Besitzkonflikte treten fast ausschließlich zwischen Kindern auf. Und ein jeder, der dies einmal beobachten konnte, wird sich an seine Verwunderung über den Spaß erinnern können, den Kleinkinder miteinander haben, während sie sich imitieren, unverständliche Laute und groteske Bewegungen machen und ein besonders erfolgreiches Detail ihrer Darbietungen unermüdlich wiederholen. Erwachsene haben Schwierigkeiten, in solchem Austausch einen Sinn, eine „richtige“ Thematik entdecken zu können; und letztendlich sind sie wenig motiviert, sich entsprechend den Erfordernissen eines solchen Spiels zu verhalten. Zusammengefasst erscheint der Austausch zwischen den Kindern eher symmetrisch angelegt, mit ähnlichen Handlungsbeiträgen und gleichwertiger Rollenverteilung. In Interaktionen zwischen Erwachsenen und Kindern geht es dagegen oft um eher pflegerische Handlungen wie Nase putzen oder Schuhe anziehen, oder der Erwachsene gibt Anweisungen, die das Kind dann ausführt (oder auch nicht). Hier finden wir also häufig Themen wieder, denen eine asymmetrische Interaktionsform zu Grunde liegt und die wahrscheinlich auch die eher ungleichgewichtige Beziehung spiegeln. In den beiden Kontexten erhalten Kleinkinder demnach sehr verschiedene Antworten bzw. Reaktionen auf ihre eigenen Handlungen, und sie erwerben unterschiedliche Strategien, um soziale Kontakte aufzunehmen und aufrecht zu erhalten. Letzteres stellt in Interaktionen zwischen Kleinkindern bereits eine anspruchsvolle Entwicklungsaufgabe dar. Die Kinder müssen lernen, die Aufmerksamkeit des Partners zu erlangen; ihre Absicht in angemessener Form zu kommunizieren; dem Rhythmus von Aktion und Reaktion zu folgen; sowie Störungen und Unterbrechungen aufzufangen. Anders als im Austausch zwischen Erwachsenem und Kind steht kein kompetenterer Partner zu Verfügung, der missverständliche Signale richtig deuten und Störungen integrieren könnte. So sind die Kinder aufgefordert, eigene Fähigkeiten auszubilden, um Interaktionen weiter zu führen und eigene Spielideen gemeinsam mit einem anderen Kind zu verfolgen.
Spiel, Auseinandersetzung und Gemeinsamkeit als Themen der Kleinkinder
Meine eigenen Beobachtungsstudien an Krippenkindern im zweiten Lebensjahr zeigen, dass sich die Peer-Interaktionen dieser Kinder, wie sie typischerweise in der Freispielsituation auftreten, zu drei großen Themenkomplexen zusammenfassen lassen. Der erste Themenkomplex ist das Spiel. Spiele sind dadurch charakterisiert, dass die Handlungen des Kindes von dem Wunsch, ein gemeinsames Spielthema zu entwickeln oder aufrecht zu erhalten, geleitet werden. Häufige Spielthemen sind motorische oder sprachliche Nachahmungen, einfache Bau- oder Puzzlespiele, bei denen sich die Kinder abwechseln oder die Arbeit „teilen“, Phantasiespiele mit Puppen, Kochutensilien oder kleinen Fahrzeugen, sowie spielerisches Raufen, Quatsch machen und sich gegenseitig bei lustigen oder waghalsigen Aktionen zusehen. Das zweite Grundthema ist die Auseinandersetzung, zumeist um die Benutzung oder Inbesitznahme eines Spielzeugs, seltener als Konflikt um Raum oder um die Zuwendung der Betreuerin. Gelegentlich, insgesamt jedoch relativ selten treten isolierte Aggressionen gegenüber Peers auf. In diesen Interaktionen wird das andere Kind als ein potentielles Hindernis beim Erreichen der eigenen Ziele gesehen, und die Handlungen der Kinder sind eher gegen einander als auf ein gemeinsames Ziel hin gerichtet. Das dritte beobachtete Grundthema kann durch den Oberbegriff Gemeinsamkeit oder Geselligkeit beschrieben werden; ich habe dafür den englischen Begriff des Socializing eingeführt. Es sind Interaktionen, in denen dem anderen Kind freundlich begegnet wird, wo jedoch kein Spiel intendiert wird oder zu Stande kommt. Einfache Kontaktaufnahmen wie Anlächeln, seine Zuneigung durch Streicheln, Umarmen etc. zeigen, ein anderes Kind trösten oder ihm helfen, der bereits weiter oben erwähnte Austausch von Objekten und das an ein anderes Kind gerichtete Vokalisieren gehören dazu.
Es fällt nicht schwer, die alltägliche Bewältigung dieser Interaktionssituationen als Beitrag zu wesentlichen Entwicklungsaufgaben zu betrachten: als ko-konstruktive Aneignung der Umwelt im Spiel; als Bemühen um Beziehung und Verbundenheit in den Socializing-Interaktionen, und als Abgrenzung und Differenzierung des Ichs von der Umwelt, die in den Auseinandersetzungen ihren Ausdruck findet. Kleinkinder sind in der Lage, diese Themen regelmäßig miteinander zu teilen, das heißt, sich dem Gegenüber mit ihren Anliegen und Zielen verständlich zu machen. Die individuelle Varianz, mit der Kleinkinder in Interaktionen mit diesen drei Themen involviert sind, ist hoch; mehrere Studien belegen aber, dass sich positiv-freundliche und konflikthafte Interaktionen in Kleinkindgruppen im Mittel die Waage halten.
Wesentlich interessanter und für unser Verständnis von sozialem Lernen im Kontext solcher Kontakte bedeutsamer ist die Erkenntnis, dass diese drei Themen häufig innerhalb einer längeren Interaktionssequenz auftreten und sich zu Interaktionsmustern gruppieren. Besonders häufig sind Muster, wo gemeinsam begonnenes Spiel in einen Konflikt umschlägt oder wo sich umgekehrt aus einer konflikthaften Interaktion eine gemeinsame Handlung entwickelt. Am treffendsten lassen sich solche Interaktionen als Aushandlungsprozesse beschreiben, bei denen die Durchsetzung der eigenen Ziele und Ideen und die Erfahrung von Differenz und Abgrenzung, wenn das andere Kind seine eigenen Ziele verfolgt, gegen den Spaß am gemeinsamen Handeln abgewogen und ausbalanciert werden müssen. Die basale Erfahrung, die Kinder hier miteinander machen ist, dass der Kontakt zu einem anderen Menschen nicht nur zu verschiedenen Gelegenheiten unterschiedliche Formen haben kann, sondern auch bei ein und derselben Gelegenheit wechseln kann – und dass ich als Beteiligter an der Form des Kontakts aktiven Anteil habe. Konflikte und damit die Chance ihrer Lösung gehören somit zum sozialen Spiel und machen einen Teil ihres Lern- und Anregungswertes aus.
Vertrautheit fördert und erleichtert den sozialen Austausch
Je vertrauter Kleinkinder miteinander werden, desto mehr Interesse zeigen sie aneinander und desto besser gelingt es ihnen, auch in komplexeren und längeren sozialen Austausch einzutreten. Einander wohl vertraute Kinder im zweiten und dritten Lebensjahr interagieren im Rahmen einer stabilen Gruppenbetreuung auf einer höheren Komplexitätsstufe miteinander als gleichaltrige Kinder, die sich weniger gut kennen. Sie spielen früher Spiele, bei denen abwechselnd unterschiedliche Rollen eingenommen werden (z.B. gegenseitiges Nachjagen, beim Puzzeln abwechselnd ein Teil einsetzen) und sind früher und besser in der Lage, miteinander zu kooperieren. Kurz gesagt: Sie zeigen ein kompetenteres Sozialverhalten und ein umfangreicheres und flexibleres Repertoire sozialer Verhaltensweisen im Kontakt mit einander. Man nimmt an, dass die vorsymbolischen Kommunikationsformen der Kleinkinder eine stabile Umgebung erfordern, um erfolgreiche Interaktionen zu gewährleisten. Kleinkinder sind noch stark auf das Einüben und Wiederholen von ganz spezifischen Situationen und (Spiel-)Ritualen angewiesen, um deren Bedeutung zu erlernen, wieder zu erkennen und adäquate Handlungsbeiträge zu leisten. Miteinander vertraute Kleinkinder mögen das Wissen darüber teilen, was in ihrer Gruppe mit bestimmten Materialien gespielt wird, welche Kinder bestimmte Spiele ablehnen oder aber besonders einfallsreich spielen oder wie die Erzieherin auf einzelne, oft wieder kehrende Situationen reagiert. Dadurch wird ihnen eine „Rollenübernahme im Handeln“ möglich, selbst wenn sie kognitiv noch nicht fähig sind, die Perspektive eines Gegenüber einzunehmen. Gemeinsames Handeln und kooperatives Spiel kann somit eher entstehen.
Kleinkinder entwickeln enge Beziehungen zueinander
Offensichtlich formieren Kleinkinder, sobald sie regelmäßig in einem vertrauten Kontext aufeinander treffen, auch erste Beziehungsmuster. Schon Babys unter einem Jahr verteilen ihre Aufmerksamkeit unterschiedlich auf die anwesenden Peers; meist erhalten eher ältere und damit in ihrem Verhalten kompetentere Kinder mehr Blicke und Kontaktangebote als andere Kinder. Bald kommt es in stabilen Gruppen zu einer nachweisbaren Bevorzugung bestimmter Interaktionspartner. Die meisten Kinder präferieren ein oder zwei andere Kinder der Gruppe und treten mit diesen verstärkt in einen sozialen Austausch, während zu anderen wenig oder kein Kontakt entsteht. Diese Tendenz verstärkt sich im Verlauf der ersten Lebensjahre. Auch die Qualität der Interaktionen variiert in Abhängigkeit vom Partner. Es entstehen dyadische Beziehungen, die sich dadurch auszeichnen, dass die aneinander gerichteten Kontaktinitiativen meist erfolgreich sind, ihre Interaktionen mit positiven Gefühlsäußerungen einhergehen und in Länge und Komplexität die Interaktionen anderer Kind-Kind-Dyaden übertreffen. Auch wenn wir vorsichtig damit sein sollten, bei Kindern in einem Alter, in dem sie zur Selbstauskunft noch nicht fähig sind, dezidiert von Freundschaften zu sprechen, gibt uns die empirische Forschung doch Hinweise darauf, dass schon Kleinkinder zwischen mehreren Interaktionspartnern differenzierte Wahlen treffen und im Kontakt mit ihnen unterschiedliches Verhalten realisieren. Einige der Verhaltensdimensionen, wie sie in Freundschaftsbeziehungen älterer Kinder nachgewiesen wurden, konnten auch schon zwischen Kleinkind-Dyaden beobachtet werden, z.B. sich gegenseitig Helfen, Intimität suchen bzw. sich von anderen Kindern abgrenzen, Loyalität und Gleichartigkeit demonstrieren und Besitz mit dem Partner teilen.
Schlussfolgerungen für die pädagogische Praxis
Kinder unter drei Jahren machen im Kontext institutionalisierter Gruppenbetreuung regelmäßige Interaktionserfahrungen mit Peers. Diese Erfahrungen sind vielfältig und differenziert. Sie kommen nicht nur sporadisch, mit einzelnen zufälligen Partnern zu Stande; vielmehr bauen die Kinder mit verschiedenen Interaktionspartner wiederholte und wiederholbare Kontakte auf. Damit wird es den Kindern möglich, Wissen über die erlebte soziale Situation und über den eigenen Beitrag, den sie in dieser Situation leisten, zu generieren. Jede nachfolgende ähnliche Erfahrung wird dieses Wissen bestätigen und es verfestigen; jede unerwartete und widersprüchliche Erfahrung wird neue Aspekte hinzufügen, vielleicht zu neuem Ausprobieren anregen und zur Integration der unterschiedlichen Erkenntnisse anspornen. In vielen dieser Interaktionen gelingt es den Kindern, der Situation die gleiche Bedeutung zu unterlegen, ein gemeinsames Thema zu finden. Dies bringt die Erfahrung einer Verständigung mit dem anderen mit sich, die Erfahrung, dass man seine Bedürfnisse und Anliegen erfolgreich kommunizieren kann, dass gemeinsames Handeln möglich wird. Für Kleinkinder, die erst ansatzweise zu sprachlich-symbolischer Kommunikation fähig sind, liegt hierin jedoch auch eine große Herausforderung, zu deren erfolgreicher Bewältigung diverse soziale und sozial-kognitive Kompetenzen benötigt sind und gleichzeitig erweitert und trainiert werden.
Damit die Entwicklungsanregungen, die Kleinkinder füreinander bereit stellen, wirksam werden können, sollten einige grundlegende Aspekte in der Gruppenbetreuung für Kinder unter drei Jahren Beachtung finden. Wesentlich für jegliche entwicklungsanregenden Impulse in einem familienergänzenden Betreuungssetting ist der Aufbau einer zumindest bindungsähnlichen Beziehung zur Betreuerin, welcher erleichtert wird u.a. durch deren feinfühliges und kindorientiertes Verhalten, durch eine langsame Eingewöhnung, und durch die Gewährleistung einer stabilen Betreuungssituation (keine Wechsel der Betreuungsperson). Auch die Kindergruppe sollte in ihrer Gesamt-Zusammensetzung möglichst stabil sein, damit die Kinder Gelegenheit haben, die anderen Kinder als Sozialpartner in ihren Reaktionsweisen und Spielvorlieben kennen zu lernen und ein geteiltes Wissen über Interaktionsmuster und -rituale zu erwerben. Die Chance, dass sich aus Spielkontakten individuelle soziale Beziehungen zwischen Kleinkindern entwickeln, bietet sich ebenfalls nur auf der Basis regelmäßig gemeinsam verbrachter Zeit in vertrauter Umgebung.
Räumlichkeiten, die so gestaltet sind, dass sie ungestörte Spielabläufe ermöglichen, die Rückzugsmöglichkeiten für zwei oder drei Kinder sowie Platz zum Rennen, Ballspielen, Verstecken und Jagen bieten; in denen Tische mit einer Decke zu Höhlen, Stühle hintereinander gestellt zu Eisenbahnen werden können, unterstützen Peer-Kontakte ebenso wie eine sinnvolle Spielzeugauswahl. Kleinere, attraktive Materialien, auch Bewegungsspielzeuge sollten mehrfach vorhanden sein; besonders hervorzuheben ist jedoch die Vorliebe für Alltagsmaterialien, insbesondere große, stabile Elemente wie Verpackungskartons, Plastikwannen, große Papprollen usw. – sie werden in der Kleinkindgruppe zu wahren „Kommunikationsförderern“ mit hohem Spiel- und Anregungswert.
Um Kind-Kind-Interaktionen und -Beziehungen nachhaltig zu unterstützen, ist aber vor allem eine veränderte Haltung notwendig, die Kontakte zwischen Kleinkindern nicht als mehr oder weniger zufällig entstehende Ereignisse ohne weitergehende Bedeutung gering schätzt, sondern als Chancen wahrnimmt, bei denen Kleinkinder das Spektrum ihrer Erfahrungen in sozialen Situationen und das Repertoire ihrer sozialen Kompetenzen erweitern können. Wenn eine Erzieherin eine solche Haltung einnimmt, wird sie den sozialen Kontakten zwischen Kleinkindern Aufmerksamkeit und Interesse entgegenbringen und ohne „Schere im Kopf“, sondern beobachtend-neugierig versuchen zu verstehen, was zwischen den Kindern geschieht. Aus dieser respektvollen Haltung heraus wird es auch gelingen, die Kinder im Kontakt miteinander zu unterstützen, ohne über deren Köpfe hinweg zu agieren, Aushandlungsprozesse vorschnell zu unterbrechen und Konfliktlösungen vorweg zu nehmen.
Dr. Susanne Viernickel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin mit den Schwerpunkten frühkindliche Entwicklung und Qualität der Tagesbetreuung im Arbeitsbereich Kleinkindpädagogik der Freien Universität Berlin.
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