28 Aug fK 2/00 Heine
Alternative Ernährung bei Säuglingen und Kleinkindern?
von W. Heine
Warum ernähren sich Menschen alternativ?
Ernährungsbewusst lebende Menschen entscheiden sich mit zunehmender Häufigkeit für alternative Ernährungsformen. Man versteht darunter Dauerkostformen, die von der üblichen Ernährungsform abweichen.
Umfragen in Baden-Württemberg haben ergeben, dass ein Fünftel der Bevölkerung nach solchen Prinzipien lebt bzw. bereits Erfahrungen mit solchen Kostformen gesammelt hat.
Die Gründe, warum Menschen zu alternativen Ernährungsformen übergehen, sind vielfältiger Natur: Lebensmittelskandale, Misstrauen gegen die zunehmende Überschwemmung des Marktes mit Fast-Food-Produkten und hochgradig prozessierten Lebensmitteln, Tierquälerei in der Massentierhaltung, Nährstoffverschwendung bei der Erzeugung tierischer Produkte aus pflanzlichen Nahrungsmitteln. Neben esoterischen, religiösen und ökologischen Betrachtungsweisen, modischen Strömungen und familiär geprägten Überzeugungen werden alternative Ernährungsformen häufig mit der Wunschvorstellung gewählt, übermäßiges Körpergewicht abzubauen und chronische Krankheiten zu heilen (Abb. 1). In der Konsequenz werden pflanzliche Nahrungsmittel aus ökologischem Landbau und heimischer Produktion in der Lebensmittelauswahl bevorzugt. Produkte, die von toten Tieren stammen, werden gemieden, Produkte von lebenden Tieren (Milch und Milchprodukte) in laktovegetabilen Kostformen, Eier und Milch in ovolaktovegetabilen Kostformen für die Ernährung genutzt (Abb. 2).
Vorteile alternativer Kostformen für die Gesundheit
Alternative Dauerkostformen wie die ovolaktovegetabile und laktovegetabile Ernährung sind aus ernährungsphysiologischer Sicht nicht nur unbedenklich, sondern bieten – wie die Erfahrung lehrt – mit ihrer vorbeugenden Wirkung gegen Zivilisationskrankheiten sogar erhebliche gesundheitliche Vorteile. Nicht zuletzt aus diesem Grunde empfiehlt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung für die gesunde Ernährung eine überwiegend auf pflanzlicher Basis basierende, ballaststoffreiche Kost, in der Fleisch und tierische Fette, verglichen mit den aktuellen Verzehrgewohnheiten unserer Bevölkerung, in erheblich geringeren Mengen enthalten sind. Hinzu kommt, dass bewusst lebende Menschen, die sich alternativ ernähren, auch generell gesundheitsschädigende Genuss- und Suchtmittel wie Alkohol, Nikotin, Drogen und eine übermäßige Einnahme von Medikamenten meiden und so von den gesundheitsschädigenden Wirkungen dieser Stoffe verschont bleiben.
Die besondere Situation des Säuglings und Kindes
Ernährungsphysiologisch anders einzuschätzen sind insbesondere für Säuglinge, Kinder, Schwangere und stillende Mütter die Folgen einer streng pflanzlichen (veganen) Ernährung auf die Gesundheit. Hier sind Unterversorgungen mit unverzichtbaren (essentiellen) Nährstoffen wie Kalzium, Jod, Eisen, Vitamin D und Vitamin B12 zu erwarten.
Während beim gesunden Erwachsenen durch Sparschaltungen des Stoffwechsels Mangelerscheinungen unter einer rein pflanzlichen Dauerkost die Ausnahme sind, kommt es infolge des wachstumsbedingten Mehrbedarfs im Säuglings- und Kindesalter unter der Ernährung mit veganen Kostformen schneller zu Defiziten an lebenswichtigen Nährstoffen, die zu schweren Schädigungen des zentralen Nervensystems und anderer Organe führen können. Dies trifft insbesondere auch für gestillte Säuglinge streng vegetarisch lebender Mütter zu, ohne dass bei der Mutter klinisch manifestierte Mangelerscheinungen nachweisbar bestehen müssen. Die Muttermilch vegan lebender Mütter verarmt mit zunehmender Zahl der Schwangerschaften an lebenswichtigen Spurenelementen und Vitaminen, weil deren Reserven im Körper der Mutter durch die defizitäre Zufuhr mit der Nahrung aufgebraucht sind. Unter Ernährung mit industriell produzierten Säuglingsmilchnahrungen wäre die Versorgung mit Kalzium, Jod, Eisen, Vitamin B12 und D dagegen weitgehend gesichert, da diese Nährstoffe bedarfsdeckend in den Formelnahrungen enthalten sind.
Streng vegetarisch lebende Mütter stillen ihre Kinder erfahrungsgemäß fast ohne Ausnahme, sind sich aber der potentiellen Gefahren nicht bewusst, die damit für die Gesundheit des Kindes drohen.
Ähnliches gilt auch für die Ablehnung industriell gefertigter Gläschenkost. Die Verabreichung fleischhaltiger Breie im 5. Lebensmonat, wie sie im Ernährungsplan des gesunden Säuglings vorgesehen ist, sichert eine ausreichende Zufuhr von gut resorbierbarem Eisen und wirkt so der zunehmenden Eisenverarmung und Blutarmut, entgegen, die in den ersten vier Monaten nach dem Verbrauch der kindlichen Eisenreserven auftritt. Die Eisenresorption aus pflanzlichen Nahrungsmitteln kann den Bedarf nicht decken und führt folgerichtig zum Eisenmangel.
Die Selbstherstellung von Breien im Haushalt bietet die Vorteile einer bedarfs-deckenden Nährstoffzufuhr nicht in vergleichbarem Maße wie die der industriell produzierten Beikost. Die Verwendung von Obst und Gemüse aus biologischem Landbau zur Herstellung von Beikost bietet generell den Vorteil der geringeren Schadstoffbelastung (Tab. 1). Bei Getreideprodukten, Milch und Fleisch unterscheidet sich die Schadstoffbelastung mit Pestiziden, polychlorierten Biphenylen (PCBs), Schwermetallen und Nitraten dahingegen derzeit nicht.
Welche Folgen hat der Mangel an kritischen Nährstoffen bei veganer Ernährung?
Jodmangel. Pflanzliche Nahrungsmittel sind vergleichsweise arm an Jod. Deutschland ist ein Jodmangelgebiet. Selbst bei der üblichen Mischkost-ernährung ist die Jodversorgung nur unzureichend. Sie wird im wesentlichen durch den Verzehr von Seefischen gedeckt, die nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung mindestens einmal pro Woche gegessen werden sollten, bei vegetarischer Ernährung aber fehlen. Die Anreicherung von Brot und anderen Lebensmitteln mit Jodsalz hat die Jodmangelsituation zwar deutlich verbessert, aber noch immer haben bis zu 25% aller Frauen im gebärfähigen Alter und bis zu 20% aller Neugeborenen eine Jodmangelstruma.
Widersinnigerweise dürfen bei uns Produkte aus biologischem Landbau nicht mit Jodsalzen angereichert werden. Dies trägt insbesondere bei Vegetariern weiter zur Unterversorgung mit Jod bei. In der Schwangerschaft ist der Jodbedarf um 15% erhöht. Jodmangel in der Schwangerschaft kann zu schweren irreversiblen geistigen und körperlichen Entwicklungsstörungen des Kindes führen.
Eisenmangel. Der Eisenbedarf steigt in der Schwangerschaft auf das Doppelte an. Eine durch streng vegetarische Ernährung bedingte Eisenmangelanämie kann die Sauerstoffversorgung des Föten beeinträchtigen. Dies muss sich besonders negativ auswirken, wenn zusätzliche Störungen der plazentaren Blutversorgung bestehen. Während der ersten drei Lebensmonate sind die beim Neugeborenen angelegten Eisenspeicher aufgebraucht. Dies äußert sich in einer Verringerung der Zahl der roten Blutkörperchen und ihres Gehaltes an rotem Blutfarbstoff (Eisenmangelanämie). Deshalb sind industriell gefertigte Säuglingsmilchnahrungen mit Eisen angereichert, um der Blutarmut entgegen zu wirken. Das gleiche Ziel wird mit der Verabreichung des ersten Breis bei Beginn der Beikosternährung im 5. Monat verfolgt. Der erste Brei soll nach den Ernährungsempfehlungen püriertes Fleisch enthalten. Aus dem Myoglobin wird Eisen, im Gegensatz zu Eisen aus pflanzlichen Quellen und zu Eisensalzen, besonders gut resorbiert.
Unter streng vegetarischer Ernährung kann es bei Kindern, Schwangeren und Stillenden infolge des erhöhten Eisenbedarfs zu erheblichen Mangelerscheinungen kommen. Leichte Ermüdbarkeit, vermindertes körperliches Leistungsvermögen und Lernschwierigkeiten sind typische Symptome der chronischen Unterversorgung mit Eisen.
Bei streng vegetarischer Ernährung entfällt auch die wesentliche Quelle der Kalziumzufuhr, insbesondere wenn bei milchfreier Ernährung keine Vitamin-D-Prophylaxe erfolgt.
Gestillte Säuglinge vegetarisch lebender Mütter sind gegen die Kalzium-verarmung in gewissem Umfang geschützt, da Kalzium wie alle anderen Mineralien und Spurenelemente in hohem Maße aus der Muttermilch bioverfügbar ist. In der milchfreien Kleinkindernährung ist die Mineralisierung des Skelettes jedoch gefährdet, wenn nicht systematisch andere Kalziumquellen ins Ernährungsprogramm eingebaut werden, beispielsweise mit Kalzium angereicherte Fruchtsäfte, Kalziumtabletten, kalziumhaltiges Mineralwasser.
Der mit Abstand kritischste Nährstoff ist bei veganer Ernährung jedoch das Vitamin B12. Bei mangelnder Zufuhr drohen insbesondere gestillten Säuglingen vegan lebender Mütter schwere und bleibende Schäden des Nervensystems als Folge degenerativer Schäden der Hinter- und Seitenstränge des Rückenmarks und eines verringerten Hirnwachstums. Vitamin B12 ist ausschließlich in Lebensmitteln tierischer Herkunft enthalten. Die vollständige Verarmung des mütterlichen Organismus an Vitamin B12 korreliert mit der Dauer der veganen Ernährung und der Anzahl der Schwangerschaften sowie Stillperioden. In der Folge sinkt der Vitamin-B12-Gehalt der Muttermilch auf nicht messbare Werte ab. Rückbildungen der neurologischen Schäden sind nur in Frühstadien des Vitamin-B12-Mangels möglich.
Vegetarische Kostformen, die Mütter, Säuglinge und Kleinkinder gefährden
Unter den streng vegetarischen Kostformen, die eine Gefahr für Mutter und Kind darstellen, ist in erster Linie die Makrobiotik zu nennen. Die Bezeichnung verspricht ein „langes Leben“. In der Begründung für diese Kostform wird u. a. behauptet, der Körper könne chemische Elemente ineinander überführen und Vitamin C selbst synthetisieren. Es ist mehr als erstaunlich, wie viele Eltern auch mit hohem Bildungsstand ihren Kindern eine solche Mangelernährung aus Reis, Hülsenfrüchten, Nüssen, Obstkernen, Sauerkraut und Tang unter Ausschluss von Fleisch, Milch, Milchprodukten und Vitamin-D-Supplementierung zumuten. Eine holländische Studie aus den zurückliegenden Jahren hat allein 243 Kinder mit erheblichen Wachstumsstörungen als Folge einer streng vegetarischen Dauerkost erfasst.
In die Kategorie der gesundheitlich höchst bedenklichen Ernährungsformen für Säuglinge und Kleinkinder muss auch die Frischkornmilch (Bruker) eingeordnet werden, die aus einer 2/3 Frischmilch-Wasser-Mischung besteht, der fein gemahlenes, nicht gekochtes Vollkorngetreide hinzugefügt wird. Ernährungsversuche mit dieser Milch führten zu schweren Dystrophien, Rachitis und anderen Mangelerscheinungen. Angesichts der heute erreichten Perfektionierung industriell gefertigter Säuglingsnahrungen sind solche Experimente nicht nachvollziehbar.
Schlussfolgerungen für die Ernährungsberatung
Eltern, die sich zu alternativen Ernährungsformen entschieden haben, sollten von Ärzten und Ernährungsberatern auf die fatalen Folgen hingewiesen werden, die Säuglingen und Kleinkindern, Schwangeren und stillenden Müttern durch solche Dauerkostformen drohen. Meist stößt der Ernährungsberater dabei auf ein ausgesprochenes Beharrungsvermögen, geprägt von einer Desillusionierung über das Leistungsvermögen medizinischer Maßnahmen und eine kritische Einstellung zum „Establishment“.
Die Tatsache, dass zu keiner Zeit mehr Sicherheit durch die konventionelle Säuglings- und Kleinkinderernährung geboten wurde als heute, wird wider besseres Wissen oft negiert.
Wenn solche Barrieren in den Konsultationsgesprächen nicht überwindbar sind, sollte wenigstens eine medikamentöse Substitution von Vitamin B12, Jod, Eisen und Kalzium als Kompromiss zur Aufgabe exzentrischer Ernährungsformen erreicht werden, um die Kinder vor den schlimmsten Schädigungen zu bewahren.
Prof. Dr. med. Willi Heine ist Kinderarzt und war Leiter der Abteilung für Pädiatrie, Gastroenterologie und Ernährung der Kinder- Jugendklinik der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock
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