18 Jun fK 1/11 Datler
Wenn Tränen versiegen, doch Kummer bleibt
Über Kriterien gelungener Eingewöhnung in die Kinderkrippe
von Maria Fürstaller, Antonia Funder und Wilfried Datler
Der Eintritt eines Kleinkindes in eine Kindertagesstätte ist sowohl für Eltern als auch für Kinder emotional hoch belastend. Vor allem Kinder leiden unter der Trennung von ihren primären Bezugspersonen und bringen diesen Kummer häufig durch Weinen zum Ausdruck. Das Versiegen der kindlichen Tränen wird zumeist als Zeichen gelungener Eingewöhnung wahrgenommen, da damit auch der Kummer über die Trennung von den Eltern überwunden zu sein scheint. Doch kann das „Versiegen der Tränen“ hinlänglich darüber Aufschluss geben, ob die Eingewöhnung des Kindes in die Kindertagestätte geglückt ist oder nicht? Dieser Frage wird im Folgenden nachgegangen.
Eintritt und Eingewöhnung von Kindern in die Kindertagesstätte: Ein aufregender und emotional belastender Prozess
Der Besuch einer Kinderkrippe oder eines altersgemischten Kindergartens gehört schon seit einiger Zeit zur Normalbiographie von Kindern unter drei Jahren. Dies spiegelt sich nicht zuletzt darin wieder, dass von Seiten der Politik, aber auch von Seiten vieler Eltern gefordert wird, die Betreuungsplätze für Kinder dieser Altersgruppe auszubauen. Dieser Wunsch ist zum einen mit dem Anliegen verbunden, die Vereinbarkeit von elterlicher – insbesondere mütterlicher – Berufstätigkeit und Familie zu fördern. Zum anderen wird in diversen Fachpublikationen, aber auch in öffentlichen Diskussionen immer wieder behauptet, dass mit dem Besuch einer qualitativ hochwertigen Kindertagesstätte ein bedeutsamer früher Beitrag für eine erfolgreich verlaufende Bildungsbiographie gelegt werden könnte.
Es ist anzunehmen, dass der oft zitierte Wunsch nach „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ sowie die Absicht, dem eigenen Kind schon von Beginn an bestmögliche Bildungschancen zu eröffnen, zur elterlichen Entscheidung beitragen, ihre Kleinkinder in die Obhut einer Kindertagesstätte zu geben. Es ist aber auch bekannt, dass diese Entscheidung in hohem Maße von ambivalenten Gefühlen und inneren Konflikten seitens der Eltern geprägt ist. Beiträge von Eltern in Internetforen zum Thema „Frühe außerfamiliäre Betreuung“ oder „Eingewöhnung“, aber auch Gespräche mit Eltern und Erzieher(inne)n machen dies deutlich: So bringen Eltern auf der einen Seite zum Ausdruck, dass sie ihren Kindern die besten Bildungschancen ermöglichen möchten, dass sie auch stolz sind, nun „Kindergarteneltern“ zu sein, äußern aber auf der anderen Seite große Sorgen und Bedenken, ob sich ihre Kinder in der Kinderkrippe oder im Kindergarten auch wohl fühlen und sich zurecht finden werden.
Viele Eltern wünschen sich, dass der Besuch der Kindertagesstätte zur weiteren Entwicklung der sozialen Fähigkeiten ihrer Kinder beitragen wird, sind aber im Zweifel darüber, ob sich ihre Kinder gut mit ihren Altersgenossen verstehen werden, ob sie sich in die Kindergruppe integrieren können und ob sie von den Erzieher(inne)n ausreichend gut versorgt werden. Diese Ambivalenzen werden weiters durch die Angst verschärft, möglicherweise als „Rabeneltern“ zu gelten, die ihr Bedürfnis nach beruflicher Verwirklichung befriedigen und sich nicht mehr im selben Ausmaß wie bisher mit ihren Kindern befassen möchten. Gleichzeitig sprechen viele Eltern auch davon, dass sie sich aus beruflichen Gründen gezwungen fühlen, ihr Kleinkind in die Kindertagesstätte zu bringen, dass sie dies auch als Entlastung erleben, dass sie zugleich aber auch große Schwierigkeiten hätten, sich von ihrem Kind und dem bisherigen Lebensrhythmus zu verabschieden.
Aus der Perspektive der Transitionsforschung sind diese inneren Konflikte und Ambivalenzen von Eltern Ausdruck und Folge eines gravierenden Wandlungsprozesses, der mit dem Eintritt des Kindes in die Kindertagesstätte einhergeht. Diese Veränderungsprozesse im Schnittfeld von Familie, Beruf und Kindertagesstätte betreffen im Regelfall den gesamten Tages- und Wochenrhythmus von Familien und gehen – so Griebel und Niesel (2009) – mit Gefühlen der Desorganisation, der Unordnung, des Kontrollverlusts, aber auch mit Verlustängsten einher.
Diese emotionalen Belastungen äußern sich in unterschiedlicher Weise, wobei über weite Strecken sowohl von Eltern als auch von Erzieher(inne)n davon ausgegangen wird, dass Kleinkinder grundsätzlich durch Weinen den Schmerz zum Ausdruck bringen, den sie empfinden, wenn sich die Eltern von den Kindern verabschieden und diese ohne vertraute Bezugspersonen in der Krippe bleiben müssen. In Verbindung damit wird weithin die Auffassung geteilt, dass die so genannte „Eingewöhnung“ so lange dauern soll, bis das Kind in der Lage ist, die Erfahrung der Trennung und des Getrenntseins von den vertrauten Bezugspersonen ohne Weinen zu ertragen. Solange Tränen fließen und solange Kinder vielleicht auch verbal oder durch Anklammern an Mutter oder Vater zum Ausdruck bringen, dass sie nicht alleine in der Krippe bleiben möchten, sollten „Eingewöhnungskinder“ in besonderer Weise Aufmerksamkeit und Unterstützung erfahren, während es aus der Sicht vieler Einrichtungen gar nicht nötig ist, Kinder, die ihre Eltern ohne Weinen gehen lassen, „einzugewöhnen“. In solchen Fällen, so wird mitunter berichtet, entfalle die „Eingewöhnung“, weil es dem Kind von Beginn an gut gegangen sei und daher auch kein Bedarf nach Eingewöhnung bestanden hätte.
Weinen – ein Indikator für gelungene Eingewöhnung?
Diese Auffassung von „Eingewöhnung“ ist aus bildungswissenschaftlicher Sicht aus zwei Gründen nicht befriedigend.
(1) Das eben skizzierte Verständnis von „Eingewöhnung“ verleitet zur Annahme, dass das kindliche Weinen den entscheidenden Indikator für das Verspüren von belastenden Gefühlen darstellt und dass nicht-weinende Kinder demnach die Trennung und das Getrenntsein von ihren vertrauten Bezugspersonen auch nicht schmerzlich erleben. Entwicklungspsychologischen sowie psychoanalytisch orientierten Fachbeiträgen ist indessen zu entnehmen, dass diese Annahme als problematisch anzusehen ist. So hat etwa Lieselotte Ahnert mit ihrem Forschungsteam physiologische Parameter des kindlichen Belastungserlebens erhoben, die darauf hindeuten, dass der Eintritt in eine Kindertagesstätte von vielen Kindern als belastend erlebt wird, dies aber nicht durch Weinen zum Ausdruck gebracht wird (Ahnert et al. 2004). Damit kompatibel sind jene Beiträge der Bindungsforschung, die zeigen, dass manche Kinder eine unsicher-vermeidende Bindung zu ihren Bezugspersonen entwickelt haben und deshalb keine offenkundig erkennbaren negativen Reaktionen auf die Trennung von ihren Bezugspersonen zum Ausdruck bringen, obgleich sie innerlich mit massiven Gefühlen der Verunsicherung, des Schmerzes und der Angst zu kämpfen haben dürften (Grossmann, Grossmann 1998). Und eine ähnliche Stoßrichtung verfolgen mache psychoanalytisch orientierten Beiträge, die darauf aufmerksam machen, dass es manchen Kindern aufgrund komplexer innerpsychischer Prozesse der Hemmung und der Abwehr kaum möglich ist, unangenehme Gefühle, die sie zu Beginn des Krippenbesuchs verspüren, in einer eindeutig erkennbaren Weise zum Ausdruck zu bringen (Bailey 2008; Weizsäcker 2010; Datler, Datler, Fürstaller, Funder 2011). Dies dürfte damit zusammenhängen, dass die engsten Bezugspersonen dieser Kinder bislang in wenig hilfreicher Weise reagierten, wenn ihre Kinder negative Gefühle zeigten, weshalb sich diese Kinder nun vor dem wiederholten Erleben von unangenehmen Situationen zu schützen versuchen.
(2) Unbeschadet dieser Hinweise lässt das oben skizzierte Verständnis von Eingewöhnung aus bildungswissenschaftlicher Sicht offen, in welchem Verhältnis die Gestaltung von Eingewöhnung zum Bildungsauftrag der Kinderkrippe steht. Könnte es sein, dass die Aufgabe, Kleinkinder in die Kinderkrippe einzugewöhnen, eng mit der Aufgabe verschränkt ist, frühkindliche Bildungsprozesse anzuregen und zu unterstützen? Und wäre es denkbar, dass sich auch aus dieser Perspektive die Aufgabe, Kinder in die Kinderkrippe „einzugewöhnen“, als komplexer darstellt, als gemeinhin angenommen wird?
Die intensive Auseinandersetzung mit diesen Themen und Fragestellungen hat im Rahmen der Wiener Krippenstudie zur Entwicklung eines bildungswissenschaftlichen Verständnisses von „Eingewöhnung“ geführt, das dem Aspekt des Weinens von Kindern Rechnung trägt, darüber hinaus aber die Aufgabe der „Eingewöhnung von Kleinkindern in die Kinderkrippe“ differenzierter fasst, als dies gängigen Vorstellungen von Eingewöhnung zu entnehmen ist. Den Kern dieses Verständnisses von Eingewöhnung bilden drei Kriterien von gelungener Eingewöhnung, die zugleich auf drei zentrale Aufgaben von Eingewöhnung verweisen. Bevor wir darauf zu sprechen kommen und im Anschluss daran einige Bemerkungen zur Frage der Aus- und Weiterbildung von Erzieher(inne)n machen, werden wir allerdings in knapper Form einige allgemeine Anmerkungen zur Wiener Krippenstudie machen, die vom österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) finanziert und am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien unter der Leitung von Wilfried Datler in Kooperation mit Lieselotte Ahnert vom Institut für Entwicklungspsychologie der Universität Wien in der Zeit zwischen 2007 und 2012 durchgeführt wird.
Die Wiener Kinderkrippenstudie
Im Rahmen der Wiener Kinderkrippenstudie (WiKi-Studie) werden die Eingewöhnungsverläufe von 104 Kindern untersucht, die im Alter zwischen eineinhalb und zweieinhalb Jahren mit dem Besuch einer Kinderkrippe oder einer altersgemischten Kindergartengruppe beginnen, wobei im Folgenden aus Gründen der Einfachheit bloß von Kinderkrippen gesprochen wird. Von zentralem Interesse sind hierbei folgende Fragen:
– Wie erleben Kleinkinder den Eintritt in die Kinderkrippen, und wie gestalten sich ihre Eingewöhnungsverläufe während der ersten sechs Monate?
– Welche Faktoren sind für ihre Eingewöhnungsprozesse förderlich und welche hemmend?
– Welche Konsequenzen sind aus den Ergebnissen der Studie im Hinblick auf die Aus- und Weiterbildung von Erzieher(inne)n zu ziehen?
von den untersuchten Kindern der Wiener Kinderkrippenstudie besucht werden, Eingewöhnung in unterschiedlicher Weise gehandhabt. Alle diese Einrichtungen machten es aber möglich, dass zur Untersuchung der Eingewöhnungsverläufe auf der Basis eines multiperspektivischen Untersuchungsdesigns mit einem Bündel unterschiedlicher empirisch-qualitativer und empirisch-quantitativer Forschungsmethoden gearbeitet werden konnte. So wurden etwa elf der über einhundert Kinder über sechs Monate hinweg wöchentlich mittels der psychoanalytischen Methode der Young Child Observation nach dem Tavistock-Konzept beobachtet. Zu drei Zeitpunkten wurden von den Kindern außerdem Videoaufnahmen gemacht, sowie mittels weiterer Verfahren Daten erhoben, welche beispielsweise das Bindungsverhalten der Kinder oder das Verhalten der Erzieher(innen) betreffen. Weiters wurden Speichelproben der Kinder gesammelt, um die Cortisolausschüttung der Kinder als physiologische Parameter des kindlichen Stresserlebens bestimmen zu können, und allgemeine Qualitätsmerkmale der Einrichtungen erhoben.
Im Folgenden wird der Fokus allerdings nicht auf eine vollständige Auflistung aller eingesetzter Erhebungsmethoden gerichtet (siehe dazu Datler u. a. 2011; Ahnert u. a. 2011), sondern die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass Aussagen über Faktoren, die sich im Eingewöhnungsprozess als hilfreich oder hemmend erweisen, nur dann gewonnen werden können, wenn zugleich bestimmt wird, was unter gelungener Eingewöhnung zu verstehen ist.
Kriterien gelungener Eingewöhnung in die Kinderkrippe
In der Wiener Krippenstudie wird davon ausgegangen, dass sich gelingende Bildungsprozesse unter anderem durch eine gelingende Loslösung aus frühen Bindungen auszeichnen. Nun sprechen aber nicht nur viele Alltagserfahrungen, sondern auch zahlreiche Befunde aus der Entwicklungspsychologie, Bindungsforschung und Psychoanalyse dafür, dass es für Kleinkinder belastend ist, wenn ihnen abverlangt wird, ohne vertraute Bezugspersonen regelmäßig Zeit an einem fremden Ort mit Menschen zu verbringen, die ihnen zunächst gänzlich unvertraut sind. Kinderkrippen stehen demnach als Bildungseinrichtungen vor der Aufgabe, Kinder insbesondere im Eingewöhnungsprozess dabei zu unterstützen, die regelmäßig einsetzende Erfahrung der Trennung und des Getrenntseins von ihren primären Bezugspersonen zusehends als weniger belastend zu erleben.
Demzufolge wären Kleinkinder in der Eingewöhnungsphase so zu unterstützen und zu begleiten, dass die Kinder zunehmend in der Lage sind, Situationen in der Einrichtung als angenehm zu erleben. Zumal davon ausgegangen werden kann, dass die meisten Kleinkinder, die mit dem Krippenbesuch beginnen, zuvor noch keine vergleichbar intensiven und somit einschneidenden Erfahrungen des Getrenntseins von ihren vertrauten Bezugspersonen gesammelt haben, und folglich davon ausgegangen werden kann, dass die Erfahrungen, die Kleinkinder mit dem Eintritt in die Kinderkrippe machen, in allgemeiner Weise darauf Einfluss nehmen, welche Bedeutung die Begegnung mit Neuem und Unbekanntem außerhalb des familiären Lebensraumes für das Kleinkind erhält. In diesem Sinn kann ein erstes Kriterium gelungener Eingewöhnung genannt werden:
Eingewöhnung in die Kinderkrippe kann als gelungen angesehen werden, wenn Kleinkinder in den Situationen der Trennung und des Getrenntseins von ihren primären Bezugspersonen nur mehr in geringem Ausmaß mit negativen Gefühlen zu kämpfen haben und wenn es ihnen zugleich gelingt, den neuen Erfahrungsraum Kinderkrippe als angenehm oder gar lustvoll zu erleben.
Zu berücksichtigen ist dabei, dass Kleinkinder negative Gefühle nicht nur durch Weinen zum Ausdruck bringen, sondern auch durch stille Traurigkeit, durch zielloses Herumwandern, durch stereotype Bewegungen, durch Hyperaktivität, durch Rückzug und andere Verhaltensweisen, die in der Fachliteratur zusehends als typische Verhaltensweisen „still leidender Kinder“ bezeichnet werden (Grossmann und Grossmann 1998).
Zweitens ist davon auszugehen, dass die meisten Kleinkinder zu Beginn des Krippenbesuchs primär mit dem Verlangen nach dem Zusammensein mit ihren primären Bezugspersonen und den damit verbundenen Gefühlen beschäftigt sind, so dass sie all dem Fremden, das sie in der Krippe vorfinden, zunächst nur geringes Interesse entgegenbringen. Versteht sich die Kindertagesstätte als Bildungseinrichtung, so ist es allerdings von Bedeutung, dass die Kinder in der Krippe eine Umwelt vorfinden, die sich in vielfältiger Weise von ihrer familiären Lebenswelt unterscheidet und somit Anregungspotentiale bereitstellt, die Kinder in dieser Form in ihren Familien nicht vorfinden. Sollen Kleinkinder dabei unterstützt werden, diese Potentiale zu nutzen, so ist es Kinderkrippen aufgegeben, das Interesse der Kinder an den Menschen und Gegenständen zu wecken, die sie in der Einrichtung vorfinden. Damit kann ein zweites Kriterium von gelungener Eingewöhnung genannt werden:
Eingewöhnung kann als gelungen angesehen werden, wenn die Kinder den Menschen und Gegenständen, die sie in der Einrichtung vorfinden, Interesse entgegenbringen und damit befasst sind, das, was sie in der Krippe vorfinden, konzentriert wahrzunehmen, mitzuverfolgen, zu verstehen und explorierend zu erkunden.
Drittens ist zu bedenken, dass sich die Kinderkrippe in einem weiteren markanten Punkt von der Familie unterscheidet: Kleinkinder teilen in der Kinderkrippe das Zusammensein mit anderen Kindern und Erwachsenen in Gruppensituationen, von denen sie nicht zuletzt dann profitieren können, wenn es ihnen gelingt, in diesen Gruppensituationen mit anderen Kindern und Erwachsenen in dynamische soziale Austauschprozesse zu treten. Gemeint sind damit solche Austauschprozesse, die durch ein interaktives Wechselspiel und folglich dadurch charakterisiert sind, dass sich die Interaktionspartner ständig aufeinander abstimmen und ihr interaktives Zusammenspiel in diesem Sinn kontinuierlich miteinander aushandeln müssen. Folgt man der Annahme, dass das Erleben von Trennung und Getrenntsein von vertrauten Bezugspersonen vorerst etwas Belastendes darstellt, so ist davon auszugehen, dass Kleinkinder zunächst kaum von sich aus in der Lage sind, in der Krippe mit Erzieher(inne)n oder auch anderen Kindern in solche Formen der Interaktion und Kommunikation einzutreten oder solche Formen der Interaktion und Kommunikation herzustellen. Teilt man vor dem Hintergrund dieser Überlegungen die Auffassung, dass es zu den Aufgabe der Kinderkrippe zählt, Kinder während der Eingewöhnung im Hinblick auf die Entwicklung ihrer Fähigkeit zu unterstützen, mit Kindern und Erzieher(inne)n in der skizzierten Weise zu interagieren und zu kommunizieren, so kann ein drittes Kriterium gelungener Eingewöhnung angegeben werden:
Eingewöhnung kann dann als gelungen angesehen werden, wenn es Kleinkindern gelingt, mit anderen Kindern und Erwachsenen in dynamische soziale Austauschprozesses zu treten.
Erste Ergebnisse der Wiener Krippenstudie und Konsequenzen für die Aus- und Weiterbildung von Erzieher(inne)n
Hält man sich die eben skizzierten Kriterien von gelungener Eingewöhnung vor Augen, so wird deutlich, dass es – aus der Perspektive der Wiener Krippenstudie – in der Anfangszeit der außerfamiliären Betreuung nicht bloß um die Gewöhnung des Kleinkindes an die Situation der Trennung und das Getrenntsein von den primären Bezugspersonen geht – auch wenn der Begriff Eingewöhnung dies suggeriert und mit der Hoffnung assoziiert ist, dass für die Kinder das Getrenntsein von den primären Bezugspersonen zur Gewohnheit wird und die damit verbundenen emotionalen Belastungen gleichsam verschwinden würden. Kinderkrippen ist es vielmehr aufgegeben, Kinder in ihrer Auseinandersetzung mit der Erfahrung der Trennung und des Getrenntseins von ihren primären Bezugspersonen in professioneller Weise so zu unterstützen, dass es ihnen zusehends möglich wird, (1) Situationen in der Kinderkrippe in angenehmer oder gar lustvoller Weise zu erleben, (2) sich dem in der Einrichtung Gegebenem und Angebotenem interessiert zuzuwenden und (3) an Prozessen des dynamischen sozialen Austauschs mit anderen aktiv zu partizipieren.
Erste Ergebnisse aus der ratingbezogenen Videoanalyse der Wiener Kinderkrippenstudie deuten darauf hin, dass die Eingewöhnungsprozesse der untersuchten Kinder so unterschiedlich verlaufen, dass es kaum möglich ist, im Sinn einer Typenbildung verschiedene Gruppen von Kindern zu identifizieren, bei denen die Eingewöhnung ähnlich verläuft. Dies legt die Forderung nahe, dass sich Erzieher(innen) in einem besonders hohen Ausmaß darum zu bemühen haben, den Eingewöhnungsprozess eines jeden Kleinkindes im Hinblick auf die formulierten Kriterien von gelungener Eingewöhnung differenziert zu erfassen, um die einzelnen Förderbemühungen auf die individuell verlaufenden Eingewöhnungsprozesse der Kinder möglichst präzise abstimmen zu können.
Den Ergebnissen der ratingbezogenen Videoanalyse als auch aus den Einzelfallstudien der Wiener Kinderkrippenstudie kann weiters entnommen werden, dass die Eingewöhnungsprozesse von Kleinkindern in eine Kindertagesstätte nicht innerhalb einiger Tage abgeschlossen sind. Viele Kinder leiden insbesondere in Belastungssituationen auch noch mehrere Monate nach dem Krippeneintritt unter der Trennung und dem Getrenntsein von ihren Eltern. Dies könnte damit zusammenhängen, dass nur in wenigen Kinderkrippen nach einem Eingewöhnungskonzept gearbeitet wird, mit Hilfe dessen Kleinkinder (a) gezielt in den Bereichen unterstützt werden, die in der Wiener Krippenstudie untersucht werden, und das zugleich (b) den Standards entspricht, die etwa Laewen, Andres und Hédervári (2000a,b) mit dem Berliner Eingewöhnungsmodell vorgelegt haben. Aber gerade auch dann, wenn nach solch einem Konzept vorgegangen würde, wäre gefordert, dass die Unterstützung der Kinder individuell auf den Verlauf und somit auch auf die Dauer ihres Eingewöhnungsprozesses abgestimmt wird.
Beide Konsequenzen können freilich nur dann gezogen werden, wenn Erzieher(innen) in differenzierter Weise in der Lage sind, Kleinkinder zu beobachten und in Verbindung damit zu verstehen, was in ihnen vorgeht; zumal manche Kinder – und darauf sei nochmals verwiesen – dazu neigen, ihren Kummer bloß still und somit in einer nur schwer erkennbaren Weise zum Ausdruck zu bringen. Diese Kinder fallen oft kaum auf oder erwecken den Eindruck, sie wären schon eingewöhnt, was häufig zur Folge hat, dass diese Kinder von den Erzieher(inne)n als weitgehend unproblematisch wahrgenommen werden und kaum jene Form von Unterstützung erhalten, die sie benötigen.
Wie schwierig es freilich ist, in professioneller Weise Zugang zur „inneren Welt“ von Kindern zu finden, wurde nicht zuletzt im Kontext eines Weiterbildungsprojektes deutlich, das im Anschluss an die Wiener Kinderkrippenstudie mit pädagogischen Teams ausgewählter Wiener Kindertagesstätten durchgeführt wurde. Die Erfahrung, die in diesem „Wiener Projekt zur Entwicklung von standortbezogenen Konzepten der Eingewöhnung von Kleinkindern in Kinderkrippen und Kindergärten (WiKo)“ gesammelt wurden, legen zumindest vier Schlussfolgerungen nahe, welche die Aus- und Weiterbildung von Erzieher(inne)n betreffen, die Kleinkinder während der Eingewöhnung in die Kinderkrippe begleiten:
(1) Damit Eingewöhnung im hier skizzierten Sinn gelingen kann, ist es nötig, Erzieher(innen) bei der Ausbildung spezifischer Kompetenzen zu unterstützen, die sie benötigen, um Kinder im Eingewöhnungsprozess unter Berücksichtigung der erwähnten Kriterien von erfolgreich verlaufender Eingewöhnung professionell begleiten zu können. In diesem Zusammenhang bedarf es unter Einbeziehung von Fallbesprechungen der Entwicklung der Fähigkeit, differenziert zu verstehen, was es für Kleinkinder bedeutet, wenn ihnen abverlangt wird, sich regelmäßig von ihren engsten Bezugspersonen zu trennen und für Stunden von ihnen getrennt zu sein.
(2) In Verbindung damit bedürfen Erzieher(innen) der Möglichkeit, verstehen zu lernen, welche Bedeutung ihr Handeln in der Phase der Eingewöhnung für einzelne Kinder und deren Eltern hat; denn nur dann, wenn diese Fähigkeit hoch entwickelt ist, sind Erzieher(innen) in der Lage, ihre berufliche Tätigkeit auf die Besonderheit des jeweils gegebenen Einzelfalles abzustimmen.
(3) Die Begleitung von Eingewöhnungsprozessen ist auch auf Seiten der Erzieher(innen) immer wieder von intensiven und oft auch belastenden Gefühlen begleitet. Soll vermieden werden, dass diese Gefühle das Handeln der Erzieher(innen) in allzu starkem Ausmaß unkontrolliert beeinflussen, und soll die Auseinandersetzung mit diesen Gefühlen darüber hinaus sogar helfen, die emotionale Situation der Kinder und ihrer Eltern differenziert zu verstehen, so bedürfen Erzieher(innen) der Fähigkeit, solche Gefühle bei sich bewusst wahrnehmen, ihre Bedeutung zu erfassen und deren Einfluss auf ihr pädagogisches Handeln – zumindest innerhalb bestimmter Spielräume – steuern zu können. Soll diese Fähigkeit zum Tragen kommen, benötigen Erzieher(innen) nicht nur regelmäßig Supervision, sondern zunächst auch die Möglichkeit, diese Fähigkeit überhaupt erst entwickeln zu können. Eine solche Möglichkeit stellt etwa jene Form der Fall- und Praxisreflexion dar, die in Work-Discussion-Seminaren praktiziert wird (Datler 2003; Steinhardt und Reiter 2009; Datler, Hover-Reisner und Steinhardt 2010).
(4) Schließlich gilt es im Kontext von Aus- und Weiterbildung zu erarbeiten, welche Strukturen Erzieher(innen) im Sinn von konzeptionellen Vorgaben und institutionellen Gegebenheiten benötigen, damit professionelles Nachdenken und Verstehen im hier skizzierten Sinn möglich wird und in die Gestaltung von Eingewöhnungsprozessen Eingang findet.
Gerade weil die Begegnung mit Trennung und Getrenntsein meist mit belastenden Gefühlen einher geht (Scheerer 2008), die oft nur schwer erkannt und verstanden werden können, bedarf es solcher Strukturen; zumal nicht nur Einzelne, sondern auch Gruppen und Institutionen dazu neigen, die Auseinandersetzung mit solchen Gefühlen zu meiden. Wie solche Strukturen nicht zuletzt im Überschneidungsbereich von Weiterbildung und Organisationsentwicklung an einzelnen Standorten zu entwickeln und zu etablieren sind, darf den zentralen Aufgaben künftiger Forschungsbemühungen zugerechnet werden.
WiKi – Die Wiener Kinderkrippenstudie: www.bildungswissenschaft.univie.ac.at/psychoanalyse/forschung
WiKo – Ein Wiener Projekt zur Entwicklung von standortbezogenen Konzepten der Eingewöhnung von Kleinkindern in die Kinderkrippe und den Kindergarten: www.bildungswissenschaft.univie.ac.at/psychoanalyse/forschung
Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.
Ao Univ.-Prof. Dr. Wilfried Datler ist Leiter des Arbeitsbereichs Psychoanalytische Pädagogik am Institut für Bildungswissenschaft an der Universität Wien. Er leitet die Wiener Kinderkrippenstudie und das „WiKo“-Projekt.
Mag. Antonia Funder ist Assistentin am Institut für Bildungswissenschaft des Arbeitsbereichs Psychoanalytische Pädagogik der Universität Wien, Mitarbeiterin der Wiener Kinderkrippenstudie und Koordinatorin des „WiKo“-Projekts.
Mag. Maria Fürstaller ist Assistentin am Institut für Bildungswissenschaft des Arbeitsbereichs Psychoanalytische Pädagogik der Universität Wien sowie Mitarbeiterin der Wiener Kinderkrippenstudie und des „WiKo“-Projekts.
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