24 Jun fK 1/10 Poets
Der Umgang mit dem Thema Frühgeburt für die betroffenen Familien
Wie kann die Lebensqualität von Eltern und Kind während der Zeit auf der Intensivstation gesteigert werden?
von Christian F. Poets
Die Fortschritte der Frühgeborenenmedizin in den letzten Jahrzehnten ließen die Chancen auf ein intaktes Überleben selbst extrem kleiner (< 1000 g) Kinder deutlich steigen. Damit erweitert sich das Behandlungsziel vom Überleben zur Sicherstellung einer langfristigen Lebensqualität, die der Reifgeborener vergleichbar ist. Dies umfasst sowohl das Ermöglichen einer ungestörten Hirnentwicklung als auch Hilfe für die Eltern, trotz des Traumas der zu frühen Geburt und ihrer Ängste gerade während der ersten Wochen, ihre Elternrolle kompetent zu übernehmen. Was können wir in der Klinik tun, um dieses Ziel zu erreichen?
Lebensqualität der Eltern während der neonatologischen Behandlung ihres Kindes
Das Befinden der Eltern ist durch die Kontaktmöglichkeit zu ihrem Kind und die Bedingungen der Neugeborenenintensivstation (NICU = Neonatal Intensive Care Unit) stark beeinflussbar. Aufgrund der Bedeutung der Familiensituation für die Lebensqualität Frühgeborener ist es Aufgabe der Neonatologie, negative Folgen der Früh- und Risikogeburt auf die Eltern-Kind-Beziehung zu minimieren. Hierbei kann auf einige Aspekte gezielt geachtet werden.
(1) Transparente Darstellung der Stationsregeln und -abläufe
Diese ist wichtig, damit sich die Eltern in die für sie ungewohnten Stationsabläufe einfinden. In der Klinik des Autors besuchen Schwestern der Intensivstation Mütter mit absehbarer Frühgeburt zusätzlich zum ärztlichen Aufklärungsgespräch bereits vor Geburt, um sie auf die Situation auf der NICU vorzubereiten. Alle Patienteneltern erhalten zudem ein Infoheft, in dem die Abläufe und Regeln auf der Station vorgestellt werden.
(2) Berücksichtigung der Umstände, Rahmenbedingungen und Bedürfnisse der Familie
Das „Ankommen“ beim Kind auf der Intensivstation hängt stark von den individuellen Umständen der Familie ab. Muss zunächst die Unterbringung weiterer Kinder geklärt werden, verfügen die Eltern über die Mittel, trotz teilweise großer Entfernung ausreichend oft zu ihrem Kind zu kommen, ist die Mutter – oft unausgesprochenen – Vorwürfen ausgesetzt, „nur“ ein Frühgeborenes oder gar behindertes Kind zur Welt gebracht zu haben? Diese und andere Aspekte können Bindungsaufbau und Übernahme elterlicher Kompetenz behindern, werden aber im Rahmen der eher krankheitsorientierten Abläufe auf der Station meist zu wenig beachtet. Gespräche mit speziell geschulten Mitarbeitern, in denen die oben genannten Aspekte gezielt angesprochen und gegebenenfalls gelöst werden, sind daher wichtig, um den Familien frühzeitig einen ungestörten Bindungsaufbau zu ermöglichen.
(3) Bemühen um gelungene Kommunikation zwischen Behandelnden und Eltern
Gerade nach den ersten Tagen auf Station, wenn der Stress durch die zu frühe Geburt abnimmt, die Umgebung vertrauter wird und den Behandlern mehr Informationen zum Kind verfügbar sind, besteht für die Eltern großer Gesprächsbedarf. Hier hat sich die so genannte Bezugspflege bewährt. Dem Kind werden ein Arzt und eine Schwester aus dem Team zugeordnet, die auch für regelmäßige Statusgespräche mit den Eltern zuständig sind. So werden Informationsverluste, die durch den Schichtdienst einer Intensivstation sonst unvermeidlich sind, minimiert. Den Eltern erlaubt es, feste Ansprechpartner zu haben und zu diesen Vertrauen aufzubauen. Im Idealfall bleiben diese Ansprechpartner auch noch verfügbar, wenn das Kind die Intensivstation verlassen hat. Diese Regelung bringt auch den Mitarbeitern Vorteile, wirkt sich doch der Bindungsaufbau, zu dem es sonst im Schichtdienst nur selten kommen kann, auch auf diese motivierend aus. Eine weitere wesentliche Voraussetzung gelungener Kommunikation ist die stets ehrliche, aber nicht schonungslose Weitergabe aller ihr Kind betreffenden Informationen an die Eltern. Dies ist zur Vertrauensbildung unabdingbar.
(4) Psychosoziale Unterstützung der Eltern bzw. Familie
Alle Eltern Neugeborener brauchen Unterstützung durch ihr soziales Umfeld. Kommen zusätzliche Belastungen hinzu, wie z. B. Heimmonitorüberwachung, häufige Arzt- oder Physiotherapietermine, Ernährungsschwierigkeiten oder auch nur häufiges Schreien des Kindes, oder haben die Eltern am Wohnort (noch) kein funktionierendes soziales Netz, kann professionelle Unterstützung notwendig werden. Um Art und Ausmaß dieser Unterstützung einschätzen zu können, hat sich die psychosoziale Nachsorge nach dem Modell des Augsburger „Bunten Kreises“ bewährt; sie ist jetzt im § 43 SGB V auch gesetzlich verankert. Die strukturierte Bedarfsabschätzung und anschließende Hilfe beim Organisieren des ermittelten Bedarfs noch während des stationären Aufenthalts ist ein zentrales Element zur langfristigen Sicherung der Lebensqualität der Familien Frühgeborener.
Lebensqualität der Kinder während der neonatologischen Behandlung
Im letzten Jahrzehnt werden zunehmend Pflege- und Behandlungskonzepte diskutiert, die auf die Lebensqualität der Kinder in der NICU fokussieren. Beispielhaft soll auf Aspekte eingegangen werden, die sich in den „Leitsätzen der entwicklungsfördernden Pflege in der Neonatologie” des Bundesverbandes „Das frühgeborene Kind” e.V. finden. Grundlage ist der Gedanke, dass Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung von Früh- und Risikogeborenen eine adäquate sensorische Stimulation und die Möglichkeit zum engen Elternkontakt ist.
Hintergrund hierfür ist, dass ein wesentlicher Teil der Hirnreifung bei Frühgeborenen auf der neonatologischen Intensivstation stattfindet, in einer Phase großer Plastizität des Gehirns. Die Hirnentwicklung Frühgeborener wird durch Art und Stärke der frühen sensorischen Stimulation beeinflusst. Im Hinblick auf die Lebensqualität (im Sinne von größtmöglichem Wohlbefinden und reifeadaptierter Entwicklungsförderung) des Kindes auf der Station lassen sich folgendes Prioritäten festhalten:
– Adäquate, an den individuellen Bedürfnissen des Kindes ausgerichtete Stimulation; Unterstützung der Selbstregulation;
– Vermeidung störender sensorischer Reize;
– Vermeidung von Stress und Schmerzen (Schmerzprävention)
– Ermöglichen größtmöglicher zeitlicher Präsenz der Eltern auf der Station
– Einsatz primär nicht-invasiver Techniken, Reduktion intensivmedizinischer Handlungen auf das Notwendigste, Koordination dieser Maßnahmen.
Kontakt zwischen Eltern und Kind
Die Bedeutung des Eltern-Kind-Kontaktes zeigt sich daran, dass langfristig psychosoziale Faktoren für die Entwicklung Frühgeborener wesentlicher sind als biologische Ausgangsbedingungen. Hier bietet vor allem die Känguruh-Pflege Gelegenheit zur intensiven Kontaktaufnahme; ihre Effekte auf die geistige und motorische Entwicklung sind gut belegt. Der Aufbau der Eltern-Kind-Beziehung ist dennoch gefährdet: Das Kind ist krank und muss mit den Bedingungen der Station zurecht kommen. Technik, Lärm, die Vielzahl handelnder Personen und fehlende Rückzugsmöglichkeiten für die Familie wirken belastend. Die Arbeit mit den Eltern mit dem Ziel eines erfolgreichen Bindungsaufbaus unter diesen Bedingungen erfordert eine qualifizierte Betreuung der Mütter und Väter, gegebenenfalls der ganzen Familie durch eine/n psychosozialen Mitarbeiter(in). Ferner gehören dazu:
– Kontinuität der Versorgung von Mutter und Kind in Perinatalzentren, enge Zusammenarbeit mit Pränatal-/Perinatalmedizin und Geburtshilfe;
– Förderung und Unterstützung des Kontakts zwischen Kind und Familie (z. B. durch Angebote zur Unterbringung der Eltern in Nähe zur Station);
– Ermöglichen und Unterstützen von Stillen und Känguruhpflege;
– Frühestmögliche Einbeziehung der Eltern in die Pflege ihres Kindes.
Fazit
Eine der Herausforderungen der Neonatologie besteht in der weiteren Verbesserung des Behandlungsergebnisses und damit der langfristigen Lebensqualität. Allgemein erhält diese während der Behandlung zu wenig Beachtung, dabei existieren hier innovative Pflege- und Behandlungsansätze, deren individuelle Bedeutung aber noch weiterer Evaluation bedarf.
Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.
Prof. Dr. med. Christian F. Poets ist Ärztlicher Direktor der Abteilung für Neonatologie der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendmedizin an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.
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