30 Jun fK 1/08 Przyrembel
„Heute zweifelt wohl niemand mehr ernstlich an der Überlegenheit des Stillens“
Dr. Jörg Maywald im Gespräch mit Prof. Dr. Hildegard Przyrembel, Kinderärztin und von 2001 bis 2007 Geschäftsführerin der Nationalen Stillkommission im Bundesinstitut für Risikobewertung, nach ihrer Pensionierung weiterhin aktiv als Expertin für die Europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde in Parma (Italien)
Maywald: Wenn Sie die vergangenen 30 Jahre einmal Revue passieren lassen. Wie haben sich die Einstellungen zum Stillen in unserer Gesellschaft seitdem verändert?
Przyrembel: Mein Eindruck ist, dass Stillen und die Ernährung mit Muttermilch sehr viel mehr präsent sind als damals, dass beides nicht mehr nur die jeweils stillenden Frauen angeht, sondern dass es ein Thema in der Gesellschaft geworden ist, worüber geschrieben und gesprochen wird, und dass es Eingang in die Gesundheitspolitik gefunden hat. Heute zweifelt wohl niemand mehr ernstlich an der Überlegenheit des Stillens im Vergleich zu anderen Ernährungsformen des jungen Säuglings.
Maywald: Nicht immer führen veränderte Haltungen auch zu Änderungen des Verhaltens. In welcher Weise haben sich Häufigkeit und Dauer des Stillens in diesem Zeitraum entwickelt?
Przyrembel: Leider haben wir über das Stillverhalten vor 30 Jahren keine repräsentativen sondern nur regionale Zahlen, und die letzte einigermaßen repräsentative Studie – „Stillen und Säuglingsernährung“ des Forschungsinstituts für Kinderernährung in Dortmund – mit über den Zeitraum von einem Jahr erhobenen Daten liegt auch schon wieder zehn Jahre zurück. Damals stillten knapp 90 Prozent der Mütter bei Entlassung aus der Entbindungsklinik, nach zwei Monaten noch knapp 70 Prozent, nach vier Monaten noch 60 Prozent, nach sechs Monaten noch 48 Prozent, nach neun Monaten 26 Prozent und nach einem Jahr 13 Prozent. Allerdings war der Anteil der, wie empfohlen, ausschließlich stillenden Mütter niedriger: 73 Prozent bei Entlassung, 42 Prozent nach zwei Monaten, 33 Prozent nach vier Monaten und 10 Prozent nach sechs Monaten. Eine Befragung von über 3.000 Müttern im Jahre 2005 in Bayern ergab etwas höhere Stillraten: im zweiten Lebensmonat stillten zwei Drittel der Mütter ausschließlich oder voll, im sechsten Monat 60 Prozent, davon 21 Prozent ausschließlich. Ähnliche Zahlen hat eine Befragung in Berlin aus demselben Zeitraum ergeben. Im Rahmen des bundesweit 2003 bis 2005 durchgeführten Kinder- und Jugendgesundheitsurveys KiGGS wurden die Eltern von über 17.000 Kindern und Jugendlichen zwischen null und 17 Jahren auch gefragt, ob ihr Kind jemals gestillt wurde und wenn ja, wie lange und wie lange ausschließlich. Über alle Jahrgänge ergab sich eine Stillquote von 77 Prozent, mit einem Anstieg zwischen 1986 und 2005 von 74 Prozent auf 81 Prozent. Die durchschnittliche Stilldauer wurde mit knapp sieben Monaten und die Dauer des Vollstillens mit viereinhalb Monaten angegeben. Es versteht sich, dass diese rückwärts erhobenen Daten weniger verlässlich sind, insbesondere was die Stillkategorien angeht: ausschließlich, voll bzw. teilweise. Trotzdem kann insgesamt gesagt werden, dass sowohl die Stillquote als auch die Dauer des Stillens in Deutschland in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat.
Maywald: Unbestritten ist Muttermilch die beste Ernährung für den Säugling. Worin bestehen die Hindernisse, die viele Mütter davon abhalten, ihr Kind entsprechend den Empfehlungen in den ersten sechs Monaten ausschließlich zu stillen?
Przyrembel: Auffällig ist in allen Untersuchungen zum Stillverhalten, dass sehr junge Mütter mit wenig Schulbildung oder ohne Beruf, insbesondere wenn sie alleinerziehend sind, weniger oder kürzer oder überhaupt nicht stillen. Dasselbe gilt für Raucherinnen.
Es scheint also auf der einen Seite ein Mangel an Information und daher Motivation vorzuliegen, aber sicher auch eine Hilflosigkeit im Umgang mit dem Kind und die Unfähigkeit, Hilfe zu finden und in Anspruch zu nehmen. Eine Rolle mag auch spielen, dass bei Rückkehr in die Berufstätigkeit sich praktische Schwierigkeiten ergeben. Und natürlich spielen Stillschwierigkeiten, wie Milchstau oder Mastitis oder andere, für die aktuell keine Hilfe gefunden wird, eine große Rolle. Die Angst, nicht genug Milch zu haben, besonders wenn das Kind in bestimmten Phasen, die mit rascherem Wachstum einhergehen, häufiger gestillt werden will, verleitet viele Mütter, unnötig Muttermilchersatz zuzufüttern, statt die Milchmenge durch häufigeres Anlegen zu vergrößern.
Die Empfehlung, sechs Monate ausschließlich zu stillen, wird von manchen Müttern – und auch von Betreuerinnen – sehr strikt verstanden und kann unsichere Mütter davon abhalten, überhaupt mit dem Stillen zu beginnen. Es sollte nicht vergessen werden, dass es sich um eine an die Bevölkerung gerichtete Empfehlung handelt, die sozusagen das große Ziel darstellt, die aber jeder Mutter die Möglichkeit offenhält, davon entsprechend ihren persönlichen Umständen abzuweichen. Kurz und mit Vergnügen zu stillen ist immer noch besser, als gar nicht zu stillen
Maywald: Sind Aussagen darüber möglich, inwieweit die Väter in Deutschland dem Stillen gegenüber positiv eingestellt sind?
Przyrembel: In der genannten Dortmunder Stillstudie war eine negative Einstellung des Vaters zum Stillen einer der hauptsächlichen Einflussfaktoren, gar nicht oder kürzer als vier Monate zu stillen. Allerdings ist dazu anzumerken, dass die Mütter befragt wurden und darum nicht auszuschließen ist, dass sie sozusagen die Schuld auf die Väter abwälzen wollten, wenn auch unbewusst. In jüngeren Stillbefragungen hat sich dieser negative Einfluss einer ablehnenden Haltung der Väter nicht bestätigt. Entweder haben sich die Väter nun besser informiert und stehen dem Stillen positiv gegenüber, wofür durchaus Hinweise bestehen, oder die Frauen sind selbstbewusster in ihrer Entscheidung zum Stillen geworden.
Maywald: Welche Aktionen halten Sie für wünschenswert, um das Bewusstsein für die Bedeutung des Stillens zu stärken?
Przyrembel: Entscheidend ist die Kontinuität der Stillinformation und Stillunterstützung, das heißt, man kann sich nicht nach einer Aktion zur Ruhe setzen, sondern muss dauerhafte Strukturen schaffen. Erst wenn es absolut für jedermann selbstverständlich ist, dass die erste Nahrung des Säuglings Muttermilch ist und diese Ansicht nicht mehr verteidigt werden muss, kann man zufrieden sein. Also muss die gesamte Bevölkerung in Informationskampagnen einbezogen werden, von den Kleinkindern bis zu Senioren. Warum sollte im Biologieunterricht der Schulen nicht über Stillen und Muttermilch gesprochen werden? Warum hört man immer noch von Müttern, die weil sie außerhalb ihrer Wohnung stillten, hässlich behandelt werden?
Maywald: Was könnte der Gesetzgeber tun, um das Stillen besser zu fördern?
Przyrembel: Der Gesetzgeber hat bereits eine Menge getan, um das Stillen zu fördern. Das Mutterschutzgesetz ist ein gutes und hilfreiches Gesetz – wie alle Gesetze muss es aber auch angewendet werden. Das heißt zum Beispiel, einer stillenden Mutter sollte nicht ein schlechtes Gewissen gemacht werden, wenn sie die ihr zustehenden Stillpausen bei der Arbeit in Anspruch nimmt. Sehr gespannt bin ich, ob sich die Möglichkeit des Elternjahres positiv auf die Stillraten und die Stilldauer auswirkt. Ich bin dagegen, Stillen zu „verordnen“, aber ich bin für ein sanftes nachdrückliches Einwirken aller Institutionen in dieselbe Richtung.
Maywald: Der „Internationale Kodex für die Vermarktung von Muttermilchersatzprodukten“ sieht vor, dass in der allgemeinen Öffentlichkeit keine Werbung oder andere Formen der Absatzförderung von Muttermilchersatzprodukten erfolgen soll. Welche Probleme bestehen bei der Umsetzung dieses Kodex in Deutschland?
Przyrembel: Persönlich halte ich den Kodex für unwirksam, wenn nicht die Überzeugung vorherrscht, dass Stillen die beste Wahl ist und jeder an jedem Ort und jederzeit dieses auch sagt und danach handelt. Die Betonung des Positiven erachte ich für wirksamer als alle Verbote. Trotzdem bin ich für Werbeverbote, um die Hersteller wegen der in Europa bestehenden Harmonisierung der Zusammensetzungskriterien für Muttermilchersatz davon abzuhalten, mit unsinnigen oder gar unrichtigen Angaben zu werben. Auch in diesem Zusammenhang kommt es darauf an, dass die bestehenden Einschränkungen des Werbens auch angewandt und bei Nicht-Beachtung angemahnt oder bestraft werden.
Maywald: Wie steht Deutschland in punkto Stillen international da und welche Initiativen gibt es auf europäischer Ebene?
Przyrembel: Im europäischen Vergleich steht Deutschland nicht schlecht dar, auch wenn wir skandinavische Zustände noch nicht erreicht haben. Immerhin fangen hierzulande 90 Prozent und mehr aller Mütter an zu stillen, aber viele füttern schon bald meist unnötigerweise zu oder hören ganz auf, was man damit erklären könnte, dass sie vor Schwierigkeiten kapitulieren, weil sie nicht zum richtigen Zeitpunkt die notwendige Hilfe und Unterstützung erfahren haben.
Nachdem 2004 als Ergebnis des von der EU geförderten Projekts „Förderung des Stillens in Europa“ zwar ein gemeinsamer Aktionsplan – „Blueprint of Action“ – verabschiedet und den Politikern aller europäischen Länder zugänglich gemacht wurde, hat es in einzelnen Bundesländern Initiativen zur Stillförderung gegeben. Hier ist zum Beispiel Bayern zu nennen mit seiner bereits erwähnten Erhebung von Stilldaten, der Interventionen zur Stillförderung und Stillunterstützung folgen sollen.
Maywald: Es gibt unterschiedliche Gründe dafür, weshalb ein Teil der Mütter auf das Stillen ganz verzichtet. Müssen sich diese Eltern Sorgen um die gesunde Entwicklung ihres Kindes machen?
Przyrembel: Sorgen müssen sie sich nicht machen, aber sie sollten sich darüber im Klaren sein, dass sie auf einen möglichen Vorteil für ihr Kind verzichten, was sie jedoch später durch angepasste Lebens- und Ernährungsweisen teilweise ausgleichen können. Stillen bietet die optimalen Voraussetzungen für eine Entwicklung des Kindes entsprechend seinen Anlagen, aber keine Garantie für immerwährende Gesundheit im späteren Leben.
Maywald: Wenn eine junge Schwangere Sie heute fragt, warum sie ihr Kind nach der Geburt stillen soll, was würden Sie ihr antworten?
Przyrembel: Zunächst einmal würde ich ihr sagen, wie großartig es ist, dass sie selbst auch nach der Entbindung in der Lage ist, ihr Kind sicher und ausreichend und ganz allein zu ernähren. Dass dies außerordentlich praktisch und kostengünstig ist und ihr eine Unabhängigkeit verschafft, die ihr mehr Zeit lässt, ihr neues Kind richtig kennenzulernen und zu beobachten, ohne sich darüber Gedanken machen zu müssen, welche Nahrung sie wann in welcher Menge füttern soll und wie sie diese richtig zubereitet. Dann würde ich natürlich sagen, dass Muttermilch die am besten auf die Bedürfnisse ihres Kindes abgestimmte Nahrung ist, die zudem noch am besten verdaut und aufgenommen wird. Wenn das nicht genügt, würde ich ihr die gesundheitlichen Vorteile schildern, die Muttermilchernährung für die Mutter bietet: schnellere Gebärmutterrückbildung, Abnahme des Risikos für Brustkrebs, langsamer aber kontinuierlicher Gewichtsverlust. Und ich würde die Vorteile für das Kind nennen: geringere Infektionsanfälligkeit, geringeres Risiko für Übergewicht und Autoimmunkrankheiten im späteren Leben, sowie, bei familiärer Allergiebelastung, für Allergien. Ich würde auch betonen, dass die Zeit des Stillens nach Bedarf unter Umständen eine anstrengende Zeit sein kann, dass es aber für fast alles Lösungen gibt und Personen, die man um Rat fragen kann und dass es sich ja schließlich um eine zeitlich begrenzte Periode handelt.
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