04 Aug. fK 1/05 Wulff
Wichtig ist alles, was mit Bewegung, Betonung, Gesten, Gebärden zu tun hat
Sprachförderung im Alltag von Waldorfkindergärten
Jörg Maywald im Gespräch mit Giselher Wulff
Maywald:Dem Erlernen der Sprache kommt eine Schlüsselrolle für die gesamte weitere kindliche Entwicklung zu. Welche Bedeutung hat die Spracherziehung im Konzept des Waldorfkindergartens?
Wulff: Sie gehört zu den zentralen Aufgaben, wobei gesehen werden muss, dass es sich um Spracherziehung allein nicht handeln kann. Bei Kindern im Alter zwischen drei und sechs Jahren wird immer zu beobachten sein, dass auf der einen Seite Spracherwerbsstil und -fortschritt individuell verlaufen, dass diese sich bei Kindern aber am besten auf dem Fundament eigener Beweglichkeit entfalten. Deshalb kommt allem, was mit Bewegung, Betonung, Gesten, Gebärden zu tun hat, eine wichtige Rolle zu. Wer kennt sie nicht, die Finger- und Schoßspiele! Sitzt ein Kind auf dem Schoß des Erziehers, so wird dieser darauf achten, dass seine Bewegungen, seine Betonung sprachlich zum Fingerspiel passen, und er wird darauf bedacht sein, gut zu artikulieren. Das Kind wird sofort nach Wiederholung verlangen. Und in der Wiederholung liegt die Kraft der Weiterentwicklung, denn sie hilft dem dritten Element auf, dem Gedächtnis. Hat das Kind das Fingerspiel, das Sprüchlein oft genug erlebt, werden die eigenen Sprechorgane nicht nur zum Mittun angeregt. Hier wird gleichzeitig gedächtnisbildende Erinnerung möglich. Zwar ist diese noch nicht emanzipiert, aber sie vermag sich anhand von sprachlicher Betonung, Rhythmus und Bewegung schrittweise zu entfalten.
Hat es der Erzieher gleichzeitig mit einer ganzen Gruppe zu tun, bieten sich reigenartige Sprachspiele an, welche im Kreis stattfinden und mit ihrer Erzählung, ihren Reimen, Bewegungen und Gebärden zum Mittun anregen. Wer dies täglich in den Tagesplan seiner Kindergartengruppe einfügt, wird nach einigen Tagen beobachten, dass einzelne Kinder nun von sich aus den ganzen Reigen nachahmen. Fasse ich also zusammen: Bewegung – Sprache – Gedächtnis: alle drei gehören zusammen. Die Sprache nimmt eine Mittelposition ein. Sie entfaltet sich am besten mit Hilfe von sinnvoller Bewegung, Betonung und Gebärde. Und in der Freude am Wiederholen des sprachlichen Klangs bildet sich Gedächtnis.
Maywald: Beim Singen werden insbesondere Rhythmus und Melodie der Sprache besonders geübt. In welcher Weise verbinden Sie musikalische Elemente mit Sprachbildung?
Wulff: Wenn ich eben ausführte, dass Sprache und Bewegung in der Methodik des Waldorfkindergartens zusammen gesehen werden, so gilt dies auch für das musikalische Element. Singen und Bewegen gleichzeitig passen für dieses bewegungsfreudige Alter einfach zusammen. Bewährt haben sich vor allem pentatonische Lieder, die ja noch nicht dur- oder mollartige Grundtönigkeit enthalten. Ihr einfacher Melodiecharakter in Ganztonschritten hilft wiederum der Gedächtnisbildung. Allerdings regt das Gesangliche stärker das vokalische Element der Sprache an, während man die Pflege des Konsonantischen am besten durch Sprechreime, Puppentheater und dergleichen erzielt. Dabei sollte der Erwachsene nicht versäumen, den Rhythmus der Reime sicher zu greifen, dazu schön und nicht zu schnell artikulieren. Gesten und Gebärden sollten natürlich und nicht übertrieben werden. Regelmäßig findet auch in Waldorfkindergartengruppen Puppentheater statt. Einfachste Mittel dienen auf einer kleinen dekorierten und offenen Bühne dazu, der Phantasie der Kinder Raum zu geben: Ast- oder Rindenstücke, farbige Tücher, Steine, schlichte Figuren aus Holz oder Stoff! In einer so angedeuteten Landschaft treten nun die Marionetten, Stehpuppen oder -tiere auf, welche der dahinter stehende Erzieher führt, während er möglichst frei erzählt. Die Kindergruppe, welche zuschaut, beginnt sich in eine Bilderwelt einzuleben, welche sie mehr und mehr verstehen will. Wenn dann die Wiederholung des gleichen Puppentheaters am nächsten Tag folgt, beginnt sie neu zu hören, neu zu erleben und fühlt sich gleichzeitig immer sicherer und sicherer in die Redewendungen und Erlebnisbilder ein, die nach und nach zu inneren Vorstellungsbildern werden. Deshalb sollte auch das Puppentheater oder das erzählte Märchen nicht nur einmal wiederholt werden, sondern an vielen Tagen hintereinander. Genauso wichtig ist dabei eine wortwörtliche Wiederholung, die der Erzählende am feinsinnigsten gestalten kann, wenn er sie auswendig beherrscht. Erst dann entfalten sich die Kräfte wohlgeformter Konsonanten und Vokale. Der Einsatz lohnt sich, denn vergessen wir nicht: das Kind steht erst am Beginn, sich eine innere Vorstellungswelt und ein Gespür für Sprachformen aufzubauen. Und auch hier werden Kinder nach zwei bis vier Wochen Wiederholung das Puppentheater, das Märchen in genauen Redewendungen auswendig können und selbst nachspielen.
Maywald: Nach Schätzungen hat etwa jedes fünfte Kind eine Sprachentwicklungsstörung. Werden solche Fehlentwicklungen in Ihren Einrichtungen erkannt und wie wird darauf eingegangen?
Wulff: Das Waldorfkindergartenseminar Berlin führt in diesem Jahr in Zusammenarbeit mit Ärzten und Therapeuten eine Fortbildungsreihe für Waldorferzieher der Region Berlin-Brandenburg zu dem Thema „Diagnostische und therapeutische Hilfestellung im Kindergartenalltag“ durch, denn Eltern sollten durch Erzieher beizeiten auf mögliche Störungen aufmerksam gemacht werden, und dazu müssen wir diese befähigen. Darüber hinaus ist im letzten Jahr eine Beratungsstelle für Eltern eingerichtet worden, um ihnen bei weiteren Schritten behilflich zu sein.
Maywald: Kinder mit Migrationshintergrund zeigen überdurchschnittlich häufig Probleme beim Erwerb der Mutter- und der Zweitsprache. Gibt es in Ihren Einrichtungen Möglichkeiten der Unterstützung für diese Kinder?
Wulff: Bisher nicht! Anscheinend gibt es in Waldorfeinrichtungen weniger Migrationskinder, wenngleich zweisprachige Familien auch hier zunehmen.
Maywald: Was halten Sie von dem Vorschlag, dass Kinder bereits im Kindergarten eine zweite Sprache erlernen?
Wulff: Zur Zeit befindet sich vieles im Umbruch. An Waldorfschulen ist es seit Jahrzehnten üblich, dass bereits im ersten Schuljahr mindestens eine Fremdsprache unterrichtet wird. Nun wird gerade das Einschulungsalter vorverlegt, was zur Folge hat, dass Kindergärten Fünf- bis Sechsjährige an die Schulen abgeben. Eine zweite Sprache im Waldorfkindergarten gibt es zur Zeit nicht überall, aber wo sie angeboten wird, heißt es in der Praxis, Singen und Spielen in jener Sprache, aber nicht schulisches Lernen. Es ist ein Sich-Verbinden mit anderem Klang, anderem Rhythmus, anderer Melodik.
Maywald: Inwiefern werden Erzieherinnen und Erzieher in Ihrer Ausbildung mit den Konzepten der Sprachförderung vertraut gemacht? Was müsste hier eventuell verändert werden?
Wulff: Auch bei uns wird das Konzept einer altersgemäßen Sprachförderung zu überdenken sein. Da das Kind im Kindergartenalter ausgeprägte Veranlagungen zur Imitation hat, sollte aber genauso auf gute Artikulationsfähigkeit und Sprachbetonung des Erziehers geachtet werden, um nicht negatives Vorbild zu sein. Deshalb haben wir an unserem Seminar das Fach „Sprachgestaltung“ in den Lehrplan integriert, um sprachliche Ausdrucksfähigkeiten der Erzieher(innen) zu fördern. Letzteres ist kein theoretisch orientiertes Fach, sondern schließt ständiges praktisches Üben und die Korrektur durch den Dozenten ein.
Giselher Wulff ist Geschäftsführer am Waldorfkindergartenseminar in Berlin
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