fK 1/02 Schäfer

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Bildung beginnt mit der Geburt

von Gerd E. Schäfer

Frühkindliche Bildung ist Selbst-Bildung

Es ist ein gängiges Verfahren in der öffentlichen Diskussion, den Bildungsbedarf von Kindern als Erwartung zu beschreiben, welche an diese gerichtet wird. Bildung erscheint dann als etwas, was Kinder innerhalb einer sozialen und kulturellen Gemeinschaft erwerben müssen. Ihre eigene Meinung dazu ist nicht gefragt.
Dieses Bildungsverständnis ist in mindestens dreifacher Hinsicht problematisch:

(1) Bei aller Vielfältigkeit der historischen Bildungsdiskussion widerspricht es einem wesentlichen Grundgedanken der Traditionslinie seit Humboldt, die Bildung wesentlich als das Werk des Individuums, als Selbstbildung begriffen hat.

(2) Es ist logisch nicht zu halten, denn auch die einfachste Lerntätigkeit eines Kindes ist immer seine eigene Tätigkeit. Niemand kann Kindern etwas beibringen; sie müssen es schon selbst tun. Folglich muss man den Lern- und Bildungsprozess an der Tätigkeit des Kindes orientieren und nicht an einem Modell des Wissenstransfers, wie das z.B. von den Propagandisten der Wissensgesellschaft ohne genaueres Nachdenken vorgestellt wird.

(3) Wesentliche Ergebnisse der Kinder- und Kognitionsforschung widersprechen einer derartigen Bildungsvorstellung. Diese Ergebnisse lassen sich nämlich gerade in der Weise zuspitzen, dass Kinder Bilder und Theorien von dieser Welt mit den Mitteln entwickeln, die ihnen zur Verfügung stehen. Eine Bildungstheorie muss also mit der handelnden, vorstellenden, phantasierenden und theoriebildenden Leistung des Kindes bei der Deutung seiner Welterfahrungen rechnen. Sie kann dazu beitragen, dass Kinder diese Leistungen entlang den Anregungen oder Herausforderungen verändern, die von außen kommen. Aber das Verändern selbst kann man dem Kind nicht abnehmen. Es wandelt seine Weltsicht in dem Maße selbst, in dem ihm dies aus seinem subjektiven Blickwinkel sinnvoll erscheint.

Wir brauchen also ein Modell von frühkindlicher Bildung, das

  • nicht nur auf den Anforderungen einer Gesellschaft und ihrer darin vorherrschenden Kultur beruht;
  • die Tätigkeit, Einschätzungen Weltbilder und Deutungen der Kinder selbst mit einschließt und damit
  • Bildung und Sinnfindung nicht voneinander abkoppelt.

Frühkindliche Bildung erfordert kreatives Denken

Im schöpferischen Denken geht es stets auch um die Verarbeitung von Phänomenen, die bislang denkend noch nicht verarbeitet wurden. Man muss solche Phänomene wahrnehmen, strukturieren, ordnen, bis man sie auch in einem logisch rationalen Sinn denken kann. Genau dies ist es auch, was kleine Kinder tun müssen: Weil man ihnen die Welt noch nicht erklären kann, müssen sie in die Lage kommen, ihre Wahrnehmungen so zu ordnen, dass sie diese zu einem Bild der Wirklichkeit zusammensetzen können, das ihnen sinnvoll erscheint. Was kleine Kinder aus Notwendigkeit tun – bislang (von ihnen) Ungedachtes zu denken – bleibt im Erwachsenenalter denjenigen vorbehalten, die sich an die Ränder dessen begeben, was unsere Kultur bislang denkend geordnet hat: Künstlern, Wissenschaftlern, Erfindern. Wenn wir produktives Denken bei Kindern unterstützen wollen, dürfen wir nicht nur ihre logischen Denkkapazitäten zu Höchstleistungen anspornen, sondern müssen ihnen auch ermöglichen, Neues wahrzunehmen, um aus diesem Neuen produktive Bilder und Fragen zu destillieren.

Das Lernen lernen oder verkörperte Erkenntnistheorie?

Es wird gern davon gesprochen, dass kleine Kinder das Lernen lernen müssen. Auch diese Rede ist ungenau, denn sie müssen noch viel grundlegender das Instrument entwickeln, mit dessen Hilfe sie dann lernen können. Zwar bringen sie elementare Fähigkeiten mit, die es ihnen ermöglichen, das Augenmerk auf ihre Umwelt zu richten, für sie bedeutsame Dinge zu erfassen und sie innerlich zu verarbeiten. Aber sie müssen dieses Verarbeitungs- und Denkinstrument erst so entwickeln, dass es mit den Gegebenheiten und Gepflogenheiten ihrer Umgebung kompatibel ist. Um in der Computermetapher zu sprechen: In der Interaktion mit der soziokulturellen Umwelt müssen kleine Kinder erst die differenzierten Programme entwickeln, mit denen sie dann in einer Weise denken werden, wie sie in einer bestimmten Gemeinschaft üblich ist. Das bedeutet, Kinder haben nicht nur zu lernen, wie ein scheinbar durch die Entwicklung gegebenes Denken auf ihre Selbst- und Lebensprobleme erfolgreich angewandt werden kann, sondern sie müssen die Software selbst erst entwickeln, mit der sie ihre Lebenserfahrung denken können und wollen.

Die frühen Bildungsprozesse dienen der Entwicklung einer solchen Theorie des Erkennens, die auf die Anforderung einer gegebenen Umwelt abgestimmt ist. Es sind vor allem die Bildung des Körpers und der sinnlichen Wahrnehmung, der Vorstellungs- und Phantasiewelt sowie des sprachlichen Denkens, durch die eine solche Theorie des Erkennens grundgelegt wird. Diese Erkenntnistheorie, die den Körper strukturiert, hat Folgen für die Zukunft des Kindes. Sie beantwortet dem Kind Fragen wie:

– Was darf ich wahrnehmen, was nicht? Die Antwort wirkt sich z.B. darauf aus, welche Sinneserfahrungen für die Argumentation in einem sozialen Zusammenhang zugelassen und welche tendenziell ausgeschlossen werden. Üblicherweise haben bei uns die visuellen Erfahrungen höchste Beweiskraft, nicht Körper- oder emotionale Erfahrungen.

– Wie weit darf ich meine Wahrnehmungshorizonte ausdehnen, wie weit muss ich sie einschränken? Dürfen Kinder sich z.B. nur auf das beziehen, was faktische Realität zu sein scheint, oder dürfen sie auch psychische, mythische, religiöse, übersinnliche oder magische Welten usw. mit einbeziehen?

– Welcher Zusammenhang von Wirklichkeit und Phantasie wird allgemein unterstellt und/oder vom sozialen Umfeld akzeptiert?

– Wofür lassen sich Worte finden, worüber muss man schweigen?

– Mit welchen Theorien oder Mythen lassen sich in einer gegebenen Kultur Wirklichkeitserfahrungen deuten?

Der Körper prägt sich also entlang von Erkenntnismustern, die subjektive sowie soziale Möglichkeiten und Grenzen widerspiegeln. In verschiedenen sozialen Gruppen, Gesellschaften oder Kulturen können sie durchaus unterschiedlich akzentuiert sein. Ich nenne dies eine präreflexiv verkörperte Erkenntnistheorie. Sie ist präreflexiv, weil sie die Wahrnehmungs- und Erkenntniswelt bestimmt, bevor noch ein Gedanke gedacht werden kann (oder, es können nur Gedanken gedacht werden, die derart durch eine verkörperte Aufarbeitung von Wahrnehmungserfahrungen gestützt werden). Sie ist verkörpert, weil durch sie die körperlichen Strukturen von den Wahrnehmungsbereichen und ihrer Verarbeitung unhintergehbar geprägt werden. Vor diesem Hintergrund stellen sich folgende Aufgaben für die frühkindliche Bildung:

  • Bildung des sinnlichen Körpers (Wahrnehmung und interne Verarbeitungsweisen)
  • Bildung des imaginativen Körpers (Imagination, Phantasie und szenisches Spiel)
  • Bildung des Sprechens und der Sprache
  • Bildung des sozialen Körpers (soziale Kommunikation und soziale Beziehungen)
    (in diesem Beitrag nicht behandelt)

Die Bildung des sinnlichen Körpers

Fallbeispiel

„Das ist Lisa, meine Enkeltochter“, berichtet der Großvater. „Sie ist jetzt vier Monate alt, fast auf den Tag genau. Und das war so eine Situation, Sonntagmorgen beim Frühstück. Zwei unrasierte Familien und ein Kind am Frühstückstisch. Und die beiden Eltern, mein Sohn und seine Frau, sitzen auf der anderen Seite des Tisches. Lisa sitzt auf dem Schoß von ihrer Nenngroßmutter und sieht beide Eltern sich gegenüber. Jetzt ist die Frage: Was geht im Kopf des Kindes vor? Dort drüben sitzt die Mutter und hier sitzt der Vater. Und sie guckt ganz unsicher. Und sie guckt zwischen Mutter und Vater hin und her.“

Dann folgende Szene: Lisa folgt mit großen Augen dem Weg der Kaffeetasse, die ihre Großmutter zum Mund führt. Man sieht deutlich, wie ihr Blick, um den Bruchteil einer Sekunde verzögert, dem Weg der Tasse nachgeführt wird. Gleichzeitig unterhalten sich die Erwachsenen. Lisa folgt auch den gesprochenen Wörtern, den Gesichtern, den anderen Bewegungen. Zwischendrin wendet sie immer wieder den Blick ab und schließt die Augen. Man hat den Eindruck, sie brauche kleine Auszeiten um das zu verarbeiten, was sie wahrgenommen hat, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf etwas Neues richten kann.

Versetzt man sich an die Stelle des Kindes, ergeben sich zahlreiche Fragen: Was ist das für ein Ding, das da hochgehoben wird, das sich vor einem bewegten Hintergrund auf ein Gesicht – von unten – zubewegt, ein Gesicht, dessen Mimik irgendwie bereits vertraut ist und aus dessen Mund nicht ganz unbekannte Laute kommen? Was sind das für Figuren, die sich vor den Augen des Babys befinden, deren Töne aber angenehm und bekannt sind – seine Eltern? Aus dieser Perspektive hat es die beiden noch wenig gesehen; allenfalls einen von ihnen, während es von jemandem – dem anderen? – gehalten wurde. Auch diesmal wird es auf einem Schoß gehalten, mit vertrauten Gesten, aber unvertrauten Details: Die Hände, der Körper fühlen sich etwas anders an als sonst, bei Mama oder Papa. Was ist das für ein ungewohntes Umfeld, in dem sich dies alles abspielt? Was ist in diesem Umfeld gerade wichtig, was im Augenblick ohne Bedeutung? Wie kann man die Vielfalt ordnen? Wo fängt eine Sache an, wo hört sie auf? Das Baby konzentriert sich auf seine schwierige Aufgabe, etwas wahrzunehmen, aber noch nicht zu wissen, wie diese Wahrnehmung geordnet, in sich strukturiert und abgegrenzt werden könnte. Es beschäftigt sich damit, wie man aus dem Chaos von Eindrücken Bilder, Figuren, Gegenstände heraus präpariert, wie man aus Geräuschen zusammenhängende Einheiten bastelt, die sich von anderen Geräuschen abheben lassen.

Wir müssen davon ausgehen, dass Neugeborene zwar mit weitgehend funktionierenden Sinnen auf die Welt kommen, in der Vielfalt und Unstrukturiertheit der Sinneseindrücke aber erst die Ordnungen entdecken müssen, die es erlauben, diese Wahrnehmungen zu Objekten und Phänomenen zu sortieren.

Welche Wahrnehmungsbereiche müssen gebildet werden?

Ich gehe davon aus, dass es drei Formen der Wahrnehmung gibt:

(1) Wahrnehmung über die Fernsinne (Augen, Ohren, Nase)

Kognitionswissenschaftliche Forschungen insbesondere aus der Neurobiologie zeigen, dass Wahrnehmung die Wirklichkeit nicht widerspiegelt, sondern mit den Mitteln des Gehirns nach erfindet. Es kann dabei nur aufgenommen werden, wofür entweder durch die genetische Ausstattung oder aber durch Lernprozesse Wahrnehmungs- und Interpretationsmuster zur Verfügung stehen. Das bedeutet, dass Wahrnehmung aus vergangenen Erfahrungen lernt. Je vielfältiger etwas wahrgenommen wird, desto differenzierter ist das Wahrnehmungsbild.

(2) Körperwahrnehmung (Wahrnehmung der Wirkung, die ein Gegenstand auf den eigenen Körper ausübt)

Zu den Körperwahrnehmungen gehört die Wahrnehmung der Körpergrenzen, des Tastsinns und der Temperatur. Sie werden erweitert durch die Empfindungen der inneren Befindlichkeit des Körpers. Diese differenzieren sich in solche der Raumlage und des Gleichgewichts, der Körperspannungen und Körperrhythmen sowie des Wohl- oder Missbefindens der inneren Organe.

(3) Emotionale Wahrnehmung

Die emotionale Wahrnehmung wird als Wahrnehmung von Beziehungen verstanden, die zwischen Personen oder einer Person und ihrer sachlichen Umwelt bestehen. Emotionen verleihen der Qualität dieser Beziehungen Ausdruck und Form: Liebe oder Hass, Wut oder Angst z.B. sind als wahrgenommene Gefühle einerseits Zeichen von Beziehung; andererseits zeigen sie diese in einer situationsbezogenen, qualitativ abgestuften Form, als emotionaler Ausdruck. Über Einfühlung wird die emotionale Wahrnehmung zur zwischenmenschlichen Verständigung benötigt.

Die Fernsinne interpretieren die Wirklichkeit als Wirklichkeit außerhalb des Körpers. Die Wahrnehmung über die Tast- und Körpersinne registrieren die Wirkungen, die eine Wirklichkeit auf diesen selbst ausübt. Die Realität des Wahrgenommenen bleibt dabei relativ dunkel. Im Vordergrund steht die Antwort des Körpers. Die emotionale Wahrnehmung schließlich richtet sich auf ein Dazwischen, auf die Beziehungen zwischen einem Subjekt und etwas anderem. Alle diese Wahrnehmungsweisen wirken zusammen und entwerfen ein vielschichtiges Bild der menschlichen Wirklichkeit.

Von der Komplexität der Wahrnehmung

Die frühesten Erfahrungen des Säuglings sind amodal organisiert, d.h. der Säugling unterscheidet seine Erfahrungen nicht getrennt nach den Modalitäten der Sinne. Visuelle, akustische, olfaktorische und körperbezogene Wahrnehmungen werden noch nicht voneinander getrennt sondern bilden ein einheitliches Wahrnehmungsmuster. Der Säugling kann z.B. problemlos visuelle Eindrücke und die dazu passenden akustischen Wahrnehmungen miteinander verbinden. Genauso wenig werden kognitive und emotionale Wahrnehmungsaspekte getrennt wahrgenommen. Über die emotionalen Anteile seines Erlebens trifft der Säugling erste Entscheidungen, indem er sich bestimmten Erfahrungsmöglichkeiten zu- und von anderen abwendet. Aus der Amodalität der Wahrnehmung ergibt sich die Entwicklungsaufgabe, sie in eine Multimodalität zu verwandeln. Geschieht dies nicht, gehen die Informationen bestimmter Sinnesbereiche für die innere Verarbeitung verloren.

Wahrnehmungen sind letztlich individuell

Die basale Ordnung aller sensorischen und emotionalen Wahrnehmungen, wie auch die daraus folgenden Differenzierungen, sind für jeden Menschen letztlich individuell. Sie liegen wohl innerhalb eines Spektrums, welches für alle menschlichen Individuen gilt. Im Rahmen dieses Spektrums entwickeln sich jedoch individuelle Variationen entlang der persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen, die das Individuum im Kontext seines Alltags und seiner Kultur macht. Obwohl wir uns innerhalb einer Kultur über weite Bereiche möglicher Wahrnehmungen, die sozial geteilt werden, verständigen können, finden wir für die privatesten Formen des Wahrnehmens und Empfindens jedoch kaum Worte.

Die Bildung des imaginativen Körpers: das Spiel als Simulation

Die Bildung des imaginativen Körpers ermöglicht dem Kind den Gebrauch von Vorstellung, Phantasie, Simulation. Dabei werden die bisher erworbenen Erfahrungsmuster nicht nur geordnet, sondern können auf einer Bühne des Probehandelns neu zusammengesetzt, ausprobiert und umgestaltet werden. Deshalb sind Spielen und Gestalten wichtige Bausteine eines imaginativen Körpers. Die Muster der Selbst- und Welterfahrung sowie die Muster der Nachahmung dienen der Imagination, der Phantasie und dem Spiel als Ausgangspunkt. Nachahmung, Imagination, Phantasie und Spiel werden von nun an zu einem wesentlichen Teil der Wirklichkeitserfahrung und des Umgangs mit ihr. Durch sie öffnet sich ein (innerer und äußerer) Raum der Simulation, in dem das Kind das, was es bisher erfahren und als Erfahrungsmuster in sich gespeichert hat, in neuer und individueller Weise zusammenfügen kann. Es entsteht damit die Möglichkeit, nicht nur die konkret erfahrenen Zusammenhänge zu denken, nicht nur die Muster der Vergangenheit in die Zukunft hinein zu erwarten, sondern mit den Erfahrungsmustern der Vergangenheit zu spielen, mit ihnen neue Möglichkeiten zu entwerfen und zu erproben, zu simulieren also, wie sie zu neuen Erfahrungsmustern hypothetisch zusammengesetzt werden könnten und welche Konsequenzen sich daraus ergeben würden. Das Spiel ermöglicht also dem Kind, sich nicht nur als Spiegelung seiner Umwelterfahrungen wahrzunehmen, sondern eigentätige Varianten dieser Spiegelerfahrung zu entwerfen.

Nachahmung und Simulation bilden daher die Grundlage der Als-ob-Spiele, die Kinder im Laufe des zweiten Lebensjahres zunehmend spielen. In diesen Als-ob-Spielen bildet sich zum einen die erlebte Wirklichkeit in all den bedeutungsvollen Beziehungen ab, die dem spielenden Kind wichtig sind. Indem diese Beziehungen inszeniert werden, kann das Kind zum anderen darüber „nachdenken“. Das Spielen bildet also einen Zwischenbereich zwischen Handeln und Denken. Das Kind spielt und denkt mit Hilfe der szenischen Repräsentation und ihren Variationsmöglichkeiten.

Fallbeispiel

Ein kleines Mädchen (1,5 Jahre) schiebt ein Kinderstühlchen durch den Raum. Das ist wegen der Fugen des Plattenbelags nicht ganz einfach. Immer wieder bleibt das Stühlchen hängen. Sie muss es mit Kraft und Geschick dann wieder flott machen. Trotzdem ist sie ganz vergnügt bei der Sache und fährt mit Ausdauer fort, den Raum zu erobern.

Doch dieses Stühlchen ist kein Stühlchen, sondern ein Auto. „Brmm, brmm, brmm“ macht sie, während sie im Zimmer herumkurvt. Man weiß nicht so recht, ob sie Teil des Autos ist – z.B. sein Motor oder seine Lenkung – oder seine Fahrerin. Vielleicht ist sie (abwechselnd) beides. Doch wenn sie nun Jacke und Hose ins „Auto“ legt um wegzufahren, dann handelt sie gewiss als Fahrerin

.

Für diese Wendung des Spiels ist es gut zu wissen, dass das Mädchen zuvor eigentlich „ada-gehen“ wollte. Doch niemand konnte mit ihr gehen. So musste sie im Raum bleiben und hat sich mit ihrem „Auto“ selbständig gemacht.

Das Spiel geht also von Alltagserfahrungen aus: Autofahren. Das Autofahren wird durch Nachahmung im Spiel vergegenwärtigt. Dabei spielt es keine Rolle, ob es Menschen oder Dinge sind, die imitiert werden. Beides ist gleichermaßen möglich. Hier wird zunächst das Auto nachgeahmt, dann auch der Fahrer. Das Mädchen verfügt über die Alltagserfahrungen und die Muster der Nachahmung durch Erinnerungen an Situationen, Handlungen, Bewegungen, emotionale Qualitäten. Es kann diese Erinnerungen in Szene setzen. Das gibt ihm die Möglichkeit, über die gegenwärtige Wirklichkeit hinauszugehen und eine eigene Wirklichkeit zu simulieren. Sie bleibt nicht das passive Opfer der Gegenwart, in der sie nicht ins Freie gehen kann. In ihrer Spielszene entwirft sie aus den Versatzstücken ihrer verinnerlichten Erinnerungen eine neue Wirklichkeit und probiert aus, was man damit alles machen und erreichen kann.

Die Bildung des Sprechens und der Sprache

Unter bildungstheoretischem Blickwinkel wird es wichtig zu wissen, wie Sprechen das kindliche Denken und damit die Art und Weise der kindlichen Welterfahrung verändert. Dazu gehört ein Wissen darüber, wie Kinder vor der Sprache denken und welche Vorformen sprachlichen Denkens bereits vor dem eigentlichen Sprechen lernen in Gebrauch sind.

Ästhetische Vorläufer des Sprechens

Auch das Sprechen lernen beginnt mit einer Bildung der Wahrnehmung. Eines der grundlegenden Probleme besteht dabei darin, dass Kinder Laute unterscheiden sowie Worte und Sätze als Einheiten begreifen müssen. Das ist zunächst ein Wahrnehmungs-, genauer ein ästhetisches Problem; denn es geht darum, das Wahrnehmungsvermögen so zu strukturieren, dass das kleine Kind dadurch in die Lage kommt, die spezifischen Klänge, Satzmelodien und Intonationsformen der Sprache zu erkennen, in die es hinein geboren wurde.

Das Problem des Sprechens beginnt nicht mit dem ersten Wort sondern mit dem Erkennen der Laute. Jede Sprache, ja jeder Dialekt, hat seine eigenen Lautformen. Ein „a“ wird im Deutschen anders ausgesprochen als im Englischen oder Französischen. Ein fränkisches „a“ hört sich anders an als ein hessisches oder hamburgisches. Für einen Zuhörer, der in die Sprache nicht eingeführt ist – und dies sind Babys zunächst einmal – klingen diese „a“-Laute alle unterschiedlich. Um seine Muttersprache zu erlernen muss es daher erst einmal herausbekommen, welche Klangfarben dem „a“-Laut zuzuordnen sind und welche nicht. Es gibt eine Lautreihe, in der sich z.B. der „a“-Laut allmählich in einen „o“-Laut verwandeln lässt. Rein akustisch gesehen ist dies ein kontinuierlicher Übergang. Dennoch machen wir an einer Stelle eine kategoriale Unterscheidung: Wir können sagen, bis hierher höre ich ein „a“; ab dort erkenne ich ein „o“. Diese kategoriale Grenze ist nicht eindeutig, wenn wir die unterschiedlichen Dialekte mit einbeziehen. Für jede Sprachgruppe und für jedes Individuum ist jedoch eine solche Grenze hörbar.

Das bedeutet nun, dass auch das Baby lernen muss, das Klangbild zu entziffern, das in seiner Umgebung gilt. Bereits sehr kleine Babys (vor dem dritten Lebensmonat) können differenziert Laute unterscheiden. Ja noch mehr, sie können offensichtlich auch Laute unterscheiden, die nicht zu ihrer sprachlichen Umgebung gehören. Das bedeutet, dass Babys ein klangliches Unterscheidungsvermögen besitzen, das gewissermaßen alle möglichen Laute aller möglichen Sprachen umfasst. Indem sie die Sprache hören, die sie umgibt, lernen sie jedoch, ihr Lautunterscheidungsvermögen genau auf diese Sprache hin auszurichten. Das Ergebnis ist ein scheinbarer Verlust: Etwa bis zum achten Lebensmonat stellen sich die Babys auf die Laute ihrer jeweiligen Muttersprache ein. Sie können dann keine universellen Unterscheidungen mehr treffen. Dagegen werden die spezifischen Lautunterschiede der Muttersprache deutlicher wahrgenommen.

Ähnliches gilt für das Erkennen von Wörtern. Ebenfalls bis zum letzten Drittel des ersten Lebensjahres haben Babys gelernt, dass es in ihrer Muttersprache bestimmte Betonungsmuster gibt, mit welchen man Worteinheiten identifizieren kann. Sie können dann bereits „Melodien“ erkennen, welche die Wörter im kontinuierlichen Fluss der Sprache abgrenzen und identifizierbar machen. Darüber hinaus haben sie in diesem Alter eine Kenntnis erworben, welche Lautkombinationen in ihrer Muttersprache möglich sind. Und im zweiten Lebensjahr, noch bevor sie wirklich zu sprechen beginnen, können sie auch Satzeinheiten unterscheiden, die ja auch durch ganz bestimmte Muster der Intonation, durch Satzmelodien strukturiert sind. Kinder sind also bereits Laut-, Wort- und Satzmusiker, bevor sie die ersten Worte sprechen.

Diesem Prinzip: Aus Mehr mach Weniger! folgen viele der frühesten Entwicklungen des Kindes. Es wurde schon bei der Nervenarchitektur festgestellt, dass Neugeborene mit einer Vielzahl vorgegebener innerer Verknüpfungen im Netz des Zentralen Nervensystems geboren werden. Durch die ersten Wahrnehmungserfahrungen werden die Verbindungen ausgewählt, die sich in der gegebenen Umwelt bewährt haben. In gleicher Weise gilt dies offensichtlich auch für die Grundlagen der Sprachwahrnehmung: Eine Überzahl an Unterscheidungsmöglichkeiten wird durch die unmittelbaren Spracherfahrungen des Babys auf diejenigen reduziert, die sein Sprachumfeld als wesentlich ansieht. Der scheinbare Verlust wird dadurch wieder aufgewogen, dass nun die Feindifferenzierung innerhalb des gegebenen Rahmens gesteigert wird. Wir finden also einerseits eine Reduktion des Rahmens, der gesamten Reichweite der Wahrnehmungsmöglichkeiten vor, andererseits kann sich dadurch eine Binnendifferenzierung innerhalb dieses nun enger abgesteckten Feldes einstellen. Das Baby ist also genau darauf vorbereitet, diejenigen zu verstehen, die es verstehen muss, wenn es in diesem Umfeld überleben will. Das weist darauf hin, dass das Eintauchen in die Welt der Sprache nicht nur ein individuelles Bildungsproblem enthält, sondern auch ein soziales. Von daher wird es wesentlich, in einem zweiten Schritt die sozialen Vorläufer genauer zu betrachten, aus denen die kindliche Sprachwelt hervorgeht.

Wie Bedeutung entsteht

Die Entstehung von Bedeutung bis hin zu ihrem sprachlichen Ausdruck ist eingebunden in soziale Situationen, allen voran in die Beziehungen zu den wichtigen Anderen, in der Regel zu Mutter, Vater, gegebenenfalls Geschwister. Doch zunächst muss man fragen, wie sich aus den konkreten Handlungen eine Art Bedeutungshorizont ergibt. Die Aufmerksamkeit der kleinen Kinder für Dinge, die in ihrer Umwelt geschehen, wächst gerade dann, wenn die grundlegenden Bedürfnisse gestillt und sie noch nicht wieder müde sind. In diesen Zeitspannen entwickeln sie eine Art gelassener aber neugieriger Aufmerksamkeit für alles, was um sie herum geschieht. Sie bleiben ein Weilchen an das gefesselt, was ihre Aufmerksamkeit erregt. Aber wie nehmen sie das wahr, was sie da bemerken? Natürlich sehen, hören, schmecken, fühlen sie etwas. Wie jedoch bekommt dieses Etwas Gestalt, wenn es noch keine inneren Bilder und keine Sprache gibt? Wir wissen es bis jetzt noch nicht. Möglicherweise spielen die rudimentären Formen der Nachahmung eine wichtige Rolle dabei. Über die einfachen Formen der Nachahmung, deren elementare Ausgangspunkte sich bis kurz nach der Geburt zurück verfolgen lassen, sowie deren individuellen Variationen, verschafft sich das Kind möglicherweise eine Art Körperbild von seiner Welt, die es umgibt.

Damit ist nun der Ausgangspunkt für das gegeben, was Bruner Aufmerksamkeitsverhandlung nennt. Darunter versteht er eine Kommunikation zwischen Mutter und Kind (beginnend um den sechsten Lebensmonat), durch welche die Mutter die Aufmerksamkeit des Kindes auf Gegenstände seiner Umgebung lenkt, die sie schließlich auch in Worten benennt. Selbst wenn das Kind das, was da benannt und gesprochen wird, noch nicht im eigentlichen Sinne versteht, so geschieht in diesen Situationen doch dreierlei in Richtung sprachlicher Kommunikation: Erstens sind dies sicherlich die bevorzugten Situationen, in welchen das kleine Kind Laut, Wort und Satzmelodien zu erkennen lernt; zweitens bekommt es eine Ahnung von einem Dialog, der sich nicht nur zwischen Mutter und Kind abspielt, sondern über etwas Drittes – ein Ding oder Ereignis in seiner Umwelt – geht. Drittens erfährt das Kind über den Handlungszusammenhang der gesamten Szene und seine emotionale Bewertung etwas über die Bedeutung dessen, was es da erlebt.

Gesprochen wird also innerhalb bestimmter Szenen. Der szenische Zusammenhang ist wesentlich dafür, dass das Kind die Bedeutung von dem erfasst, was da gesprochen wird. Allmählich entstehen zwischen Mutter und Kind Situationen, die sich wiederholen. Sie erleichtern dem Kind das Erfassen von Bedeutungen. Dazu gehören insbesondere Formen des Hinweisens, der Markierung, des Lokalisierens, des Hervorhebens bis zum Übertreiben. Der Spracherwerb des Kindes beginnt also, bevor das Kind wirklich in Worten zu sprechen beginnt. Er beginnt, wenn Mutter und Kind einen gemeinsamen Mikrokosmos aus Gesten, vertrauten mimischen Äußerungen, einer ruhigen, positiv gestimmten Atmosphäre schaffen. Er dient als Hintergrund, vor dem sich die neu auftauchenden Gegenstände und/oder Ereignisse abheben und vom Kind verstanden werden können.

Hinweis auf das symbolische Denken

Mit dem Eintritt in die Sprache ist das Kind einen wichtigen Schritt auf dem Weg zum symbolischen Denken gegangen. Miteinander sprechen ermöglicht, über die eigene Erfahrung hinauszugehen. Man kann dem Kind die Erfahrungen anderer mitteilen. Und damit ist es nicht mehr nur auf seine subjektiven Verständnishorizonte angewiesen, wenn es sich die Welt erschließen möchte, sondern kann prinzipiell auf alles zurückgreifen, was eine soziale Gemeinschaft, eine Kultur zur Interpretation von Wirklichkeit an Denkmodellen bereit stellt.

Doch man sollte vorsichtig sein, dies alles nur der Sprache und später der Schrift zu unterstellen. Man sollte dabei nicht vergessen, dass Sprache nur ein – wenn auch sehr wesentliches – Symbolsystem ist. Wie uns die Medienforschung lehrt, haben wir inzwischen sehr wirkmächtige bildhafte Formen der Symbolisierung entwickelt. Wir können davon ausgehen, dass jede Form der Sinneswahrnehmung im Verbund mit geeigneten Medien symbolische Formen hervorbringen kann.

Ausblicke

Mein Ziel in diesem Beitrag war es, etwas über die basalen Bildungsprozesse auszusagen, durch die das Kind sich die Erkenntnistheorie einverleibt, die in seinem soziokulturellen Umfeld üblicherweise verwendet wird. Sobald das Kind in der Lage ist, über die Symbolwelten selbst mit der Kultur, in der es aufwächst, zu kommunizieren, entsteht ein zweiter Bildungsbereich, der mehr noch als der erste Schritt mit dem Eintritt in diese kulturellen Formen selbst zu tun hat. Sprache(n), Kultur(en), Natur, Künste, Religion(en)sind die wesentlichen Bereiche dieses zweiten Bildungsschrittes, der spätestens mit dem Kindergartenalter zunehmend an Bedeutung gewinnt. Zunächst kam es mir darauf an, die basalen Bildungsprozesse zu beschreiben, um deutlich zu machen, dass Bildung bereits mit der Geburt beginnt. Ich wollte auf die Wahrnehmungs-, Erlebnis- und Denkweisen aufmerksam machen, die wir nicht verkümmern lassen dürfen, wenn wir den Kindern einen Weg ins kulturelle Erbe vorschlagen.

Wenn wir auch bei diesem nächsten Schritt davon ausgehen, dass es die Kinder sind, die sich ein Bild von sich und ihrer Welt machen, aufgrund der Erfahrungen, die sie auf ihrem Lebensweg sammeln, dann müssen wir eine Ahnung davon haben, welche Werkzeuge sie dazu benutzen. Das, was sie sich bis zum dritten Lebensjahr an sinnlichen, ästhetischen, sprachlichen und denkend-forschenden Werkzeugen geschaffen haben, das werden sie benötigen, um sich auch weiterhin so weit wie möglich selbsttätig forschend in für sie neue Bereiche der Selbst- und Welterfahrung hineinzuwagen. Es geht also darum, diese Fähigkeiten zu erhalten, weiter zu fördern, für die Entdeckung neuer Wirklichkeitsbereiche zu nutzen und sie nicht einfach durch abstraktes Denken zu ersetzen.

Der Beitrag basiert auf einem Vortrag des Autors am 23.10.2001 in Köln. Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.

Prof. Dr. Gerd E. Schäfer ist geschäftsführender Direktor des Seminars für Pädagogik der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln

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