21 Aug fK 1/02 Interv2
Vorschulpädagogik, nicht vorgezogene Schule
Interview mit Susann Cojaniz, Erzieherin und Dozentin am Fortbildungsseminar für Waldorfpädagogik in Berlin, zum Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen
fK: Spätestens seit Veröffentlichung der Ergebnisse der PISA-Studie ist das Thema Bildung in aller Munde. In den Diskussionen richtet sich das Interesse zunehmend auf den frühkindlichen Bereich. Freuen Sie sich über diese neue Aufmerksamkeit oder macht Sie das skeptisch?
Cojaniz: Wenn das öffentliche Interesse am frühkindlichen Bereich durch die PISA-Studie die pädagogische Diskussion über den Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen belebt, sehe ich darin eine große Chance. Wenn diese Diskussion aber primär von wirtschaftlichen Interessen instrumentalisiert wird, vermute ich bei den in der Praxis stehenden Pädagogen eher skeptische Reaktionen. Die Bildung in Kindertageseinrichtungen hat ganz eigene Ziele, die sich nicht vereinfachen lassen, indem man sie von denen der Schule übernimmt beziehungsweise vorverlegt. Ein Lernverhalten, das in der Schule abgerufen wird, setzt eine sozial-emotionale, sensomotorisch-kognitive Reife des Kindes voraus, die es nur im Rahmen einer entwicklungsgemäßen Vorschulpädagogik, nicht aber durch die vorgezogene Schule erlangen kann.
fK: Nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (§ 22 Abs. 2) gehört neben Betreuung und Erziehung die Bildung des Kindes bereits seit langem zu den wesentlichen Aufgaben der Kindertageseinrichtun-gen. Wie kommt dies in Ihrer Einrichtung zum Ausdruck?
Cojaniz: Das Bildungsangebot der nach der Waldorfpädagogik arbeitenden Kindertageseinrichtungen legt einen entwicklungsbedingten Reifungsprozess des Kindes zu Grunde, der sich stufenweise vollzieht und dessen Tempo vom Kind bestimmt wird. Frühkindliches Lernverhalten wird als spontan, erlebnisgebunden und umweltorientiert interpretiert und drückt sich durch eine naturgegebene Vitalität und Empathie aus. Wir gehen davon aus, dass das Kind seine elementaren Fähigkeiten, wie eine sichere Motorik und Körperkoordination, ein differenziertes Sprachvermögen und Sprachverständnis und ein erstes Erkennen kausaler Zusammenhänge über das nachahmende Lernen erwirbt. Lerncharakter und Tempo kann man nur an der einzigartigen und individuellen Persönlichkeitsstruktur des Kindes ablesen. In der Umgebung des Kindes kommt so dem Pädagogen ein umfassender Modellstatus zu, den er als Aufruf an seine eigene, kontinuierliche Selbstbildung auffasst. Ebenso ist er aufgefordert, durch exaktes und geschultes Beobachten die Erfordernisse seines pädagogischen Handelns an den Entwicklungsbedürfnissen und Notwendigkeiten einzelner Kinder und den Lebensbedingungen einer Gruppe abzulesen. Unserem Konzept liegt die Beobachtung zu Grunde, dass das frühkindliche Lernen nicht abstrakt-analytisch, sondern physiognomisch-ganzheitlich ist. Das Erfassen von kausalen Zusammenhängen erwirbt sich das kleine Kind durch eigenes, schöpferisches Handeln, sinnliches Wahrnehmen und inneres Erleben. Dabei erübrigt es sich, reflektierende oder kritische Erklärungen an die Kinder heranzutragen, weil sie aus dem unmittelbaren Erleben Erkenntnisse gewinnen und lernen. Wenn ihnen ausreichend Zeit gelassen wird, diese Lernvorgänge zu wiederholen und ein aktiver Erlebnisraum zur Verfügung steht, entwickeln Kinder einen gesunden Selbstbildungsimpuls.
fK: Bildung ist immer auch Selbstbildung, und damit von Kind zu Kind verschieden. Auf welche Weise gestalten Sie das Verhältnis von Gruppenangeboten und individueller Förderung?
Cojaniz: Im Tagesverlauf werden gezielt und wiederkehrend das einzelne Kind und die gesamte Gruppe berücksichtigt und angesprochen. Voraussetzung dafür ist jedoch eine ausreichende personelle Besetzung in der Gruppe, das heißt zwei Erzieherinnen für nicht mehr als 15 Kinder.
fK: Was wollen eigentlich die Kinder? Wie haben sich ihre Neugierde und ihre Wünsche
in den letzten Jahren verändert?
Cojaniz: Kinder haben heute einen hohen Bedarf an individueller Zuwendung. Bei Fremdbetreuungszeiten von sechs bis acht Stunden täglich besteht eine hohe soziale Anforderung an das Kind, die dieses Bedürfnis erklärt. Soziale Überforderung führt nicht selten zur Gruppenunfähigkeit. Deshalb besteht ein hohes Maß an sicherer Bindung und Orientierung. Die Neugier von Kindern bezieht sich vielfach auf das Geschehen in der Natur, auf die Arbeitswelt, in der die Arbeitsvorgänge noch sinnlich sichtbar sind und auf den Kontakt zu anderen Menschen wie Kinder, Nachbarn und Verwandte. Bemerkenswert hat sich meines Erachtens die Aufmerksamkeit der Kinder gegenüber ihrer Umwelt gesteigert. Auch wenn die Gefahr von Unruhe, Konzentrationsmangel und Aufmerksamkeitsdefiziten besteht, liegt darin doch ein Potential von Interesse, das positiv genutzt werden kann.
fK: Wird die neue Debatte über Bildung in der frühen Kindheit lediglich in Fachkreisen geführt oder melden sich auch die Eltern zu Wort? Was sind deren Argumente und Forderungen?
Cojaniz: Die Debatte über Bildung wird fast überall geführt, nicht nur in Fachkreisen, auch unter den Eltern und verstärkt in den Medien. In der Regel wird allerdings die Schulbildung behandelt. Im Kleinkindbereich gibt es sowohl Eltern, die sich sehr umfangreich informieren, als auch Eltern, die das Nächstliegende entscheiden. Die Palette reicht von unangebrachtem Leistungsdruck, der auf Kinder ausgeübt wird, bis hin zur Wohlstandsverwahrlosung, in der Kinder sich selbst überlassen, materiell aber überversorgt werden. Die Fülle vorhandener Konzepte, die dazu noch widersprüchliche Argumente benutzen, erschweren es den Eltern, eigene Urteile zu finden. Der konkrete, nicht wissenschaftliche Beratungsbedarf bei jungen Eltern verlangt von den Tageseinrichtungen ein Angebot. Hier sollte den Eltern ein Austausch untereinander und eine pädagogische Beratung von Fachkräften ermöglicht werden.
fK: Der beste Wille nutzt wenig, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen. Woran mangelt es am meisten? Oder anders gefragt: was müsste geschehen, damit Kindertageseinrichtungen ihrem Bildungsauftrag vollauf gerecht werden können?
Cojaniz: Zu den Rahmenbedingungen, die den Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen ermöglichen, gehören eine in gesellschaftlicher Hinsicht verbesserte Anerkennung der Bildungsarbeit von Erzieherinnen sowie eine umfassende und bessere Ausbildung für diesen Beruf. Bei einer achtstündigen Arbeit am Kind bleibt den Erziehern weder Zeit für eine qualitativ gute Vor- und Nachbereitung, noch Zeit für eigene Fortbildung, noch Zeit für lebendige Elternarbeit. Diese notwendigen Aufgaben verlangen mehr Inovationsbereitschaft und natürlich einen ausreichenden finanziellen Rahmen.
Die Fragen stellte Dr. Jörg Maywald
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