21 Aug fK 1/02 Hocke
Neue Bildung – von Anfang an
von Norbert Hocke und Bernhard Eibeck
Kurz vor Weihnachten wurde die Rute ausgepackt: Die Schulleistungen unserer 15jährigen sind – laut PISA-Studie – im internationalen Vergleich schlecht. Nicht nur in Mathematik und den Naturwissenschaften, was schon länger bekannt ist, sondern auch im Literaturverständnis, also der Fähigkeit, Texte sachgerecht zu nutzen. Damit ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für jede Art selbständigen Lernens und für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben unterentwickelt.
Eine Ursache neben vielen anderen: Wir fangen in Deutschland zu spät mit Bildung an und die Schule setzt zu sehr auf Pauken statt auf eigenständiges Lernen. Wenige Tage vor der Bekanntgabe der Untersuchung in 32 Ländern legte das Forum Bildung, in dem Kultusminister mit Arbeitgebern, Gewerkschaften und Fachleuten zwei Jahre über das zukünftige Bildungswesen beraten haben, seine Ergebnisse vor. Sie empfehlen mehr Bildung für kleine Kinder, Kindertagesstätten müssen Bildungseinrichtungen werden.
Zehn Jahre Aufbau-West und Abbau-Ost
Die letzten zehn Jahre der Kindertagesstätten-Entwicklung standen im Osten unter dem schlechten Stern des Strukturwandels im Erziehungs- und Bildungswesen, des Geburtenrückgangs und der Finanznot der Kommunen. Das führte zu einem massiven Abbau der Angebote insbesondere in Krippen und Horten. Circa 80.000 Erzieherinnen wurden entlassen. Die verbliebenen sind meist auf Teilzeitstellen.
Im Westen wurde viel investiert, um den seit 1992 eingeführten Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz für alle 3-6-Jährigen schrittweise bis Ende 1998 einzulösen. Tatsächlich wurden fast 600.000 neue Plätze geschaffen, dies aber nicht immer durch neue Gruppen und Einrichtungen, sondern vor allem auch dadurch, dass bestehende Gruppen um einige Plätze aufgestockt wurden. So ist die Kita-Gruppe mit 22 bis 25 Kindern keine Seltenheit. Gleichzeitig wurde die Fachlichkeit des Personals immer weiter nach unten geschraubt: Vor allem im Bereich der Zweitkräfte werden Ergänzungskräfte und Praktikanten eingesetzt. Seit geraumer Zeit wird ein weiterer Ausbauschritt diskutiert und teilweise auch schon angegangen: es geht um die Schaffung zusätzlicher Plätze für Kinder unter drei Jahren und für Schulkinder sowie den Ausbau der Halbtagskindergartenplätze zu Ganztagseinrichtungen.
Das alles stand und steht unter dem Vorzeichen der Betreuung von Kindern. Schon der Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz wurde nicht aus kinder- oder bildungspolitischer Sicht durchgesetzt, sondern im Zuge der Abtreibungsfrage. Frauen sollte die Entscheidung für ein Kind erleichtert werden, wenn sie es in Kindereinrichtungen betreuen lassen können und nicht ihre berufliche Karriere unterbrechen müssen. Auch jetzt stehen wieder „fachfremde“ Argumente im Vordergrund: die Wirtschaft braucht qualifizierte Arbeitskräfte und man kann es sich nicht leisten, gut ausgebildete Frauen zwischen Windeln und Kochtopf versauern zu lassen. Familien mit Kindern muss der Staat – so das Bundesverfassungsgericht – bei den mit der Kindererziehung entstehenden Lasten entgegenkommen, Kindereinrichtungen sollen die Familienbelastungen, zumindest was die Betreuungszeiten angeht, verringern.
Qualitätsentwicklung
Bereits 1998 hat Professor Wolfgang Tietze sich der Frage gewidmet „Wie gut sind unsere Kindergärten?“ Er kam zu dem ernüchternden Ergebnis, dass man nur ein Drittel der Kindertagesstätten als „gut“ bezeichnen kann. Dies und die Erkenntnis, dass der „Schatz der frühen Kindheit“ (Elschenbroich) gehoben werden müsse, hat einiges zur Qualitätsverbesserung beigetragen. Die Träger versuchen, mit unterschiedlichen Instrumentarien – von ISO 9000 bis „Kronberger Kreis“ – Qualitätssicherung und -entwicklung zu verstärken. Das Bundesjugendministerium fördert fünf Forschungsvorhaben, die in einer „Nationalen Qualitätsinitiative“ zusammengefasst sind. Ergebnisse zu der Frage nach qualitativen Mindeststandards sind Ende 2002 zu erwarten.
Jetzt endlich Bildung von Anfang an
Nie mehr lernen Menschen so viel und mit so viel Begeisterung wie in den ersten sechs Lebensjahren. Erstaunt blicken die Medien und die Fachwelt auf die kleinen Mitbürger und deren „strahlende Intelligenz“. Neurobiologen sprechen von einem reichen Potential und erklären, wie sich in frühen Jahren wesentliche Gehirnstrukturen durch die Aktivitäten der Kinder bilden, oder aber aufgrund fehlender Bedingungen entscheidende Entwicklungsschritte versäumt werden. Dabei geht es nicht darum, kleinen Kinder „etwas beizubringen“, ihnen „Stoff“ zu vermitteln. Bildungsprozesse bei Kindern vollziehen sich in der Konstruktion von Ideen, im Aufbau von Orientierungen und vor allem im Fehlermachen und Wieder-von-vorne-anfangen. Kinder brauchen nicht nur Orte des vertrauten Zusammenseins, sondern auch des Entdeckens und Forschens. In aktiver Auseinandersetzung mit anderen Kindern und in der verlässlichen Beziehung zu Erzieherinnen werden wesentliche Grundlegungen für das Sozialverhalten und für die kognitive Entwicklung vorbereitet. Deshalb müssen alle Anstrengungen zur Verwirklichung von Chancengleichheit und Integration, wenn sie Erfolg haben wollen, hier beginnen. Statt eines Wissenskanons wird Selbstbildungskompetenz eingeübt, die Bildungsziele von Kindertagesstätten heißen „Eigenständigkeit“ und „Gemeinschaftsfähigkeit“.
Von der harten Nuss zum tragfähigen Baum
Soll aus der harten Nuss ein tragfähiger Baum werden, muss man zuallererst darauf achten, dass sie auf guten Boden trifft und Wurzeln bilden kann. Es ist jetzt die Aufgabe der Politik, der Träger, der Wissenschaft und der Aus- und Fortbildungsstätten, die Grundlagen zu schaffen. Von zentraler Bedeutung sind die Erzieherinnen. Neue Aufgaben sind schnell verteilt. Um sie erledigen zu können, braucht man die nötigen Voraussetzungen. Dazu gehören inhaltliche und methodische Hilfen, andere Arbeitsbedingungen, Fortbildungsmöglichkeiten und eine grundlegend andere, höher qualifizierte Ausbildung. Diese Grundlagen zu schaffen ist Aufgabe eines politischen Bündnisses, das nicht lange redet und empfiehlt, sondern verbindliche Regelungen trifft und Verträge schließt.
Von den Jugendministern erwarten wir, dass sie es nicht den Kultusministern und Schulbeamten überlassen, Bildung in der frühen Kindheit zu definieren und zu organisieren – dann kommt nur wieder Schule heraus. Das Profil der Jugendhilfe muss deutlich in Richtung Bildung entwickelt werden. Tageseinrichtungen für Kinder sind kein Zeitvertreib, sondern Lernorte.
Die Bundesjugendministerin muss in den nächsten Haushaltsberatungen durchsetzen, dass sich der Bund an der Finanzierung von Kindertagesstätten beteiligt. Bildung in der frühen Kindheit ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Bund, Ländern und Gemeinden.
Die Kultusminister müssen endlich den Weg frei machen für die Erprobung von Modellversuchen zur Erzieherausbildung an der Fachhochschule.
Die Wissenschaft muss Konzepte entwickeln, wie kleine Kinder in Tageseinrichtungen lernen und die Fortbildungsträger müssen entsprechende Angebote für Erzieherinnen machen.
Die GEW ist dazu bereit, mit den Arbeitgebern, seien es Kommunen oder freie Träger, betriebliche oder tarifliche Regelungen zur Sicherung der für die neue Aufgabe angemessenen Arbeitsbedingungen, insbesondere der Gruppengrößen und der Personalschlüsssel, der Arbeitszeit und der Fortbildung zu vereinbaren.
Ein große Chance
Die Chance für die seit Jahren diskutierte und geforderte Aufwertung der Tageseinrichtungen für Kinder war noch nie so gut wie heute. Die Probleme des deutschen Bildungswesens liegen deutlich auf dem Tisch. Nur ein bisschen daran herumdoktern hilft allerdings nicht. Es geht darum, ein neues Verständnis von Bildung und Lernen zu entwickeln und zu praktizieren. Eine neue Pädagogik der frühen Kindheit ist dafür die Grundlage.
Norbert Hocke ist Dipl. Sozialpädagoge und stellvertretender Vorsitzender der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.
Bernhard Eibeck ist Dipl. Pädagoge und Referent für Jugendhilfe und Sozialpädagogik beim Hauptvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft.
Sorry, the comment form is closed at this time.