21 Aug fK 1/01 Papoušek
Intuitive elterliche Kompetenzen – Ressource in der präventiven Eltern-Säuglings-Beratung und –psychotherapie
von Mechthild Papoušek
Mit Staunen haben mein Mann und ich Anfang der siebziger Jahre damit begonnen, mütterliches und väterliches Verhalten im Zwiegespräch mit dem Baby unter die Lupe der Verhaltensmikroanalyse zu nehmen, die unverkennbaren, unbewußt gesteuerten Verhaltensmuster in Stimme, Sprechweise, Mimik und Körpersprache und ihre subtilen Feinabstimmungen auf momentane Befindlichkeit, Bedürfnisse, Vorlieben und Entwicklungsstand des Baby. Obwohl die Literatur über elterliches Verhalten seit langem mehrbändige Handbücher füllt, hat das Phänomen der genuinen elterlichen Kompetenzen noch nichts von seiner ursprünglichen Faszination eingebüßt, zumal es Forschern und Klinikern noch viele Rätsel aufgibt. Die intuitiven elterlichen Kompetenzen bilden seit zehn Jahren Ausgangspunkt und Kern unserer klinischen Arbeit, in der wir Belastungen und Störungen im elterlichen Verhalten, in vorsprachlicher Kommunikation und Verhaltensregulation und in der Frühentwicklung von Bindung und Beziehung in statu nascendi untersuchen, erforschen und behandeln.
Was ist mit dem Konzept der intuitiven elterlichen Kompetenzen gemeint, im Unterschied etwa zu dem bindungstheoretischen Konzept der Feinfühligkeit? Welche Verhaltensformen schließt es ein? Worauf gründen sich diese erstaunlichen Anpassungen in der vorsprachlichen Kommunikation? Welche Funktionen kommen ihnen in der kindlichen Entwicklung zu? Welche Bedingungen in der Entwicklung und in der alltäglichen Verhaltenssteuerung benötigen sie zu einer optimalen bzw. hinreichend guten Entfaltung? Unter welchen Bedingungen kommt es zu Abweichungen und Störungen? Und welche Zugangswege hat das Wissen um die intuitiven Kompetenzen für die Anwendungsbereiche von Prävention, Entwicklungsförderung, Eltern-Säuglings-Beratung und –psychotherapie geöffnet?
Neue Dimensionen im Verständnis der elterlichen Feinfühligkeit
Wichtige Aufschlüsse über die Rolle des elterlichen Verhaltens in den frühen Bindungsbeziehungen sind der Bindungsforschung zu verdanken, die ihre Aufmerksamkeit vor allem auf die emotionalen Bedürfnisse des Säuglings ausrichtet. Sie geht von einem überlebenswichtigen und daher biologisch verankerten Grundbedürfnis des Säuglings aus, dem Bedürfnis nach Schutz, emotionaler Sicherheit und Nähe im Rahmen einer vertrauensvollen, verläßlichen Bindungsbeziehung, einem Bedürfnis, das der menschliche Säugling mit unseren nächsten Verwandten im Tierreich teilt. Die angeborenen, in Belastungs- und Gefährdungssituationen aktivierten Bindungssignale des Babys – Rufen, Schreien, Anklammern, Folgen, Nähesuchen – lösen auf seiten der sozialen Umwelt komplementäre angeborene Verhaltensbereitschaften gegenüber, die dem Baby durch Zuwendung, Körperkontakt und Beruhigungsstrategien prompt und angemessen Schutz und Sicherheit geben. Mary Ainsworth, die Mutter der Bindungsforschung, hat neben Akzeptanz, Kooperation und Verfügbarkeit die Feinfühligkeit als wichtigstes Merkmal des elterlichen Fürsorgeverhaltens herausgestellt, das sie zutreffend als die Fähigkeit umschreibt, die Signale des Babys wahrzunehmen, richtig zu interpretieren und prompt und angemessen zu beantworten. Das Konzept der Feinfühligkeit läßt jedoch viel Spielraum für unterschiedlichste Definitionen, Operationalisierungen und offene Fragen, um welche Bedürfnisse und Signale des Babys es geht und was es im jeweiligen Kontext heißt, die Signale richtig zu verstehen und prompt und angemessen zu beantworten.
Es bedurfte einer neuen Sichtweise und neuer Methoden, um den artspezifischen Geheimnissen des elterlichen Verhaltens beim Menschen auf die Spur zu kommen. Unser eigener analytischer Blick für das elterliche Verhalten war dadurch geschärft, was Hanuš Papoušek in langjähriger experimentelle Pionierarbeit in Prag über die frühesten Lern- und Denkfähigkeiten des Babys entdeckt hatte – als Vorreiter und Mitgestalter des folgenden explosionsartigen Erkenntniszuwachses in Bezug auf frühkindliche Selbstregulation, emotionale Entwicklung, Wahrnehmungskompetenzen, Nachahmung, Konzeptbildung, Symbolisation und Spiel. Was in den sechziger Jahren international eine Sensation darstellte, gehört inzwischen längst zum Allgemeinwissen: daß bereits das Neugeborene mit erstaunlichen Fähigkeiten ausgestattet ist, die Umwelt mit allen Sinnen wahrzunehmen, selbstwirksam zu begreifen und auf sie einzuwirken. Und er zeigte überzeugend, daß diese kindlichen Prädispositionen an intrinsische Motivationssysteme gekoppelt sind, die auf überlebenswichtige biologische Grundbedürfnisse schließen lassen.
Von den Experimenten im Labor führte unsere wissenschaftliche Neugier folgerichtig zu Verhaltensbeobachtungen im natürlichen Kontext der frühen Eltern-Kind-Interaktionen, in denen das Baby im kommunikativen Austausch mit den Eltern lernt, seine Erfahrungen mit sich und der Umwelt zu integrieren. Unser Interesse zielte somit in erster Linie darauf ab, was den menschlichen Säugling und seine Eltern auf artspezifische Weise auszeichnet und von unseren nächsten Verwandten unter den Primaten unterscheidet: eine hoch differenzierte vorsprachliche Kommunikation, die psychobiologisch von Anfang an auf eine emotional ausgewogene Integration, Symbolisation und Repräsentation der frühkindlichen Erfahrungen und auf den Erwerb der Sprache hin angelegt ist.
Diese Sichtweise öffnete neue Dimensionen im Verständnis der elterlichen Feinfühligkeit. Das elterliche Verhalten rückte von dem Moment an in ein neues Licht, als wir die Perspektive des Neugeborenen einnahmen und fragten, welche Umweltbedingungen das Baby braucht, um seinen Grundbedürfnissen nach Vertrautwerden mit dem Unbekannten, Erkennen von Regeln, Voraussagbarkeit und Kontrolle über kontingente Umweltereignisse, um seiner Neugier, seinen Selbstwirksamkeits-, Erkundungs- und Explorationsbedürfnissen, um seinem Bedürfnis, die Erfahrungen mit der belebten und unbelebten Umwelt im kommunikativen Austausch mit den primären Bezugspersonen zu integrieren, gerecht zu werden. Auch in dieser Frage halfen die Beobachtungen aus den Lernstudien, die den Blick auch darauf lenkten, wie das Baby lernt, auf die noch langsamen und mühsamen Prozesse der frühen Erfahrungsintegration und Anpassung, seine Signale über den Ablauf des Lernens und die Bedingungen, auf die ein junger Säugling angewiesen ist, um seine Erfahrungen mit der belebten und unbelebten Umwelt erfolgreich zu integrieren. Die integrativen Prozesse laufen glatt, erfolgreich und vergnüglich ab, solange bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind: 1. Verständlichkeit der Anregungen mit häufigen Wiederholungen in langsamem Tempo mit regelmäßigen Pausen, Die Berücksichtigung des allgemeinen Verhaltenszustandes in Bezug auf Aufnahmebereitschaft, Erregungsniveau, Ermüdung oder Überlastung, Die Abstimmung der Aufgaben/Anregungen auf den kindlichen Entwicklungsstand, seine jeweiligen Interessen und Vorlieben, und 4. Vermittlung von Kontingenzerfahrungen, die dem Baby erlauben, durch eigenes Tun etwas Vertrautes und Voraussagbares zu bewirken. Kontingenzerfahrungen ermöglichen dem Baby von Anfang an Grunderfahrungen von Selbstwirksamkeit, in der die Entwicklung von zielgerichtetem Verhalten und Intentionalität und die Entwicklung der kindlichen Autonomie wurzelt.
Es bedurfte der technischen Möglichkeiten der videogestützten Verhaltensbeobachtung und Mikroanalyse, um aufzudecken, was lange der bewußten Wahrnehmung der Eltern ebenso wie der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit entgangen war: Verhaltensanpassungen auf seiten der sozialen Umwelt, die erstaunliche kommunikative Kompetenzen erkennen lassen. Die Eltern verfügen über ein genuines Knowhow, ein genuines implizites Beziehungswissen, wie man den Säugling beruhigt, anregt, die Anregungen angemessen dosiert, wie man sich in Sprache, Mimik und Gestik verständlich und voraussagbar macht und sich dabei von den Signalen der Aufnahmebereitschaft und Belastbarkeit des Kindes leiten läßt. Der Säugling – als „scientist in the crib“, als „Forscher in der Wiege“, teilt den Ablauf seiner integrativen Prozesse in seinem gesamten Verhalten der sozialen Umwelt mit und holt sich von ihr eine spezifische Unterstützung, auf die er bei der Bewältigung aller bevorstehenden Entwicklungsaufgaben angewiesen ist. Er findet sie in der Regel bei seinen Eltern, die auf einzigartige Weise zutiefst motiviert und darauf vorbereitet sind – meist ohne es zu ahnen – dem Säugling in allen Aspekten seiner Entwicklung die erforderliche Unterstützung zu geben.
Verhaltensrepertoire der intuitiven elterlichen Kompetenzen
Aus dieser Perspektive umfaßt das intuitive elterliche Verhalten ein vielgestaltiges Repertoire spezifischer Verhaltensanpassungen, aber auch allgemeinere Abstimmungen in Zeitmaß, Intensität, Rhythmus und Dynamik, beim Menschen noch weitgehend unbekannte physiologische Regulationsprozesse, sowie eine spezifische Sensibilität für subtile Rückkoppelungssignale in Mimik, Stimme und allen Facetten der Körpersprache. Das Repertoire, das auf bemerkenswerte Weise die integrativen Bedürfnisse des Säuglings erfüllt, läßt sich in vier Komplexen zusammenfassen: (1) vereinfachte, prototypische Verhaltensformen und Anpassungen, mit denen sich die Eltern dem Baby „verständlich“ machen; (2) Verhaltensformen zur Unterstützung von affektiver Verhaltensregulation und Aufmerksamkeit; (3) Responsivität oder Feinfühligkeit als Fähigkeit und Bereitschaft, sich im Antworten und Anregen von den kindlichen Auslöse- und Rückkoppelungssignalen leiten zu lassen und damit abzustimmen auf Aufnahmebereitschaft, Erregungsniveau, Befindlichkeit oder Ermüdung, auf seine perzeptiven und integrativen Fähigkeiten und Grenzen, und auf seine momentanen Vorlieben, Initiativen, Absichten und Bedürfnisse; und (4) Gestaltung von Zwiegespräch und Spiel im Sinne eines unterstützenden kontingenten Bezugsrahmens zum selbstinitiierten Erproben und Einüben der heranreifenden prozeduralen Fertigkeiten in Bezug auf Selbstregulation, Erfahrungsintegration und Sprache.
Dazu nur eines der zahlreichen Beispiele aus dem intuitiven Repertoire im Zwiegespräch einer Mutter mit ihrem 3 Monate alten Baby. Das Baby signalisiert durch seine Blickzuwendung zur Mutter Interesse und Interaktionsbereitschaft. Die Mutter lockt es zum Zwiegespräch mit melodisch modulierten Vokalen, den ersten Lautmerkmalen, die das Baby zu artikulieren lernt; sie gibt wiederholt und in langsamem Tempo stimmliche und mimische Modelle, pausiert, animiert das Baby zum Antworten und ahmt die kindlichen Artikulationsversuche und Laute nach. Während sich das Baby durch kurzes Wegschauen erholt, pausiert die Mutter und nimmt ihre Anregungen erst wieder auf, wenn das Baby erneut Aufnahmebereitschaft signalisiert. Sie bietet dem Baby damit einen Rahmen, in dem es seine noch rudimentären Dialog- und Nachahmungsfähigkeiten in unzähligen Wiederholungen im Austausch mit der Mutter erproben und einüben kann.
Psychobiologische Grundlagen der intuitiven elterlichen Kompetenzen
Worauf gründen sich die einzigartigen Verhaltensanpassungen der Eltern? Ist die Annahme eines biologischen Ursprungs gerechtfertigt? Für diese Annahme gibt es beim Menschen keinen direkten Beweis, wohl aber eine Reihe indirekter Evidenzen: (1) Die Verhaltensmuster sind an artspezifischen Formen der phylogenetischen Adaptation beteiligt und stehen in direktem Zusammenhang mit überlebenswichtigen biologischen Grundbedürfnissen und Anpassungs- und Entwicklungsaufgaben des Säuglings. (2) Sie werden mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Schlüsselsignale im kindlichen Verhalten ausgelöst. (3) Basale Grundmuster des elterlichen Verhaltensrepertoires finden sich universell über die Grenzen von Alter, Geschlecht, Elternstatus, Kultur und Muttersprache hinweg und tauchen bereits früh in der Ontogenese auf. (4) Die unverkennbare komplementäre Ausrichtung der elterlichen Verhaltensbereitschaften auf Prädispositionen, Kompetenzen und Grenzen des Säuglings in den überlebenswichtigen Bereichen der affektiven Selbstregulation, Wahrnehmung, Erfahrungsintegration und Kommunikation läßt sich als Folge eines Co-Evolutionsprozesses interpretieren. (6) Die komplexe Steuerung der Verhaltensanpassungen vollzieht sich auf der Ebene intuitiver Regulationsprozesse, die sich der bewußten Wahrnehmung und Kontrolle weitgehend entziehen, sich durch kurze Latenzen im Millisekundenbereich auszeichnen und eng mit intrinsischen Motivationen verknüpft sind.
Entwicklungsbedingungen der intuitiven elterlichen Kompetenzen
Ungeachtet der indirekten Evidenz einer basalen angeborenen elterlichen Kompetenz ist jedoch die Frage bis heute völlig ungeklärt, ob die psychobiologischen Prädispositionen dafür ausreichen, im Ernstfall bei Geburt eines Babys eine „hinreichend gute Mutter“, ein „hinreichend kompetenter Vater“ zu sein, oder ob die optimale Entfaltung der elterlichen Kompetenzen spezifischer Erfahrungen, womöglich in sensiblen Phasen der elterlichen biographischen Entwicklung, bedarf. Neuere Studien aus der vergleichenden experimentellen Psychobiologie machen deutlich, daß mütterliches und väterliches Verhalten bei den einzelnen Affenarten und Primaten sehr unterschiedlich determiniert ist. Bei Schimpansen, die dem Menschen genetisch am nächsten stehen, reichen in der Ontogenese überlebenswichtiger mütterlicher Kompetenzen erstaunlicherweise weder angeborene biologische Prädispositionen noch die frühen Erfahrungen mit einer kompetenten biologischen Mutter aus. Schimpansenweibchen sind vielmehr darauf angewiesen, als Jungtiere vor der Geschlechtsreife im sozialen Gruppenverband nicht nur Gelegenheit zu Beobachtungslernen und Nachahmung zu finden, sondern vor allem praktische „hands-on“-Erfahrungen in Interaktion mit einem Baby.
Beim Menschen sind die Bedingungen für eine ungestörte Entwicklung der elterlichen Kompetenzen noch weitgehend unerforscht. Auch die Bindungsforschung hat mit ihren beeindruckenden prospektiven Längsschnittstudien bisher nur einen Bruchteil der Varianz im elterlichen Feinfühligkeitsverhalten aufklären können. Welche Rolle spielen in welchem Alter die Beziehungserfahrungen mit den primären Bezugspersonen, das Lernen am Modell oder „hands-on“ Erfahrungen mit Babys, korrigierende oder therapeutische Beziehungserfahrungen in der weiteren Entwicklung?
Wo stehen wir mit unseren heutigen Kenntnissen? (1) Wir können von der Annahme ausgehen, daß das implizite Beziehungswissen, das die Eltern in der vorsprachlichen Kommunikation mit ihrem Baby zum Ausdruck bringen, auf universelle angeborene Prädispositionen zurückgeht. (2) Wir wissen auch, daß die aktuelle Auslösung und Feinabstimmung der intuitiven elterlichen Verhaltensbereitschaften in erster Linie auf die Gegenwart des Babys selbst angewiesen ist, und zwar nicht nur auf Schlüsselsignale im Aussehen (Kindchenschema), sondern auf hoch wirksame Auslöse- und Rückkoppelungssignale im gesamten Verhalten. H. Papousek benutzt das Bild, daß es in der Interaktion mit dem Neugeborenen in den Wochen nach der Geburt zur individuell abgestimmten Orchestrierung der dispositionellen Partitur kommt. Aus der klinischen Beratungspraxis wissen wir, daß eine minimale Modifikation im kindlichen Rückkoppelungsverhalten das elterliche Verhalten und Befinden auf dramatische Weise in positiver oder negativer Richtung verändern kann. (3) Geleitet von D. Stern‘s eindrücklichen Beschreibungen erahnen wir auch, wie der Säugling seine frühen Kommunikationserfahrungen mit dem vertrauten und voraussagbaren dynamischen Wechselspiel von eigenem und elterlichem Verhalten im prozeduralen Gedächtnis speichert. Als innere Arbeitsmodelle repräsentieren die gespeicherten Erfahrungen das implizite Beziehungswissen einer mehr oder weniger kompetenten Bemutterung ebenso wie die eigenen Beziehungserfahrungen in der Rolle des umsorgten Babys. Wir sind mit unseren eigenen fallbezogenen Analysen noch am Anfang, um zu klären, ob und in welcher Weise die angeborenen intuitiven Verhaltensbereitschaften durch die erworbenen Anteile des impliziten Beziehungswissens modifiziert, überlagert, ausgelöscht oder blockiert werden. Interessante Hinweise ergeben sich aus Analysen der Bindungsrepräsentationen der Eltern in Bezug auf ihre primären Bezugspersonen mit dem Adult Attachment Interview, die in prospektiven Längsschnittstudien ermöglichen, den Einfluß der Bindungsrepräsentation auf Ausprägung und Abstimmung der Feinfühligkeit gegenüber dem eigenen Baby zu untersuchen. Die Studien zeigen deutliche Zusammenhänge auf, allerdings nicht mit den realen Bindungserfahrungen, sondern mit der Qualität des Narrativs der Repräsentationen bzw. mit der Fähigkeit, die Erfahrungen durch Reflexion zu relativieren und zu integrieren.
In der therapeutischen Arbeit mit hoch belasteten Eltern-Kind-Beziehungen wird deutlich, in welchem Maße die aktuelle Kommunikation zwischen Eltern und Baby unbewußte dysfunktionale Beziehungsmuster der eigenen Kindheit evozieren und reinszenieren kann. Hierbei leidet vor allem die Abstimmung der elterlichen Kompetenzen auf die Signale des realen Babys, die aufgrund der elterlichen Psychodynamik ignoriert oder verzerrt wahrgenommen und inadäquat beantwortet werden. Mit störenden Reinszenierungen oder „Gespenstern im Kinderzimmer“ ist insbesondere dann zu rechnen, wenn die Eltern noch in ungelöste Bindungs-Autonomiekonflikte mit ihren Herkunftsfamilien verwickelt sind. Generell liegt die Schwierigkeit solcher Analysen darin, daß auch die erworbenen Anteile des impliziten Beziehungswissens und die eingeschlossenen Affekte unbewußt gesteuert werden, daß sie nur schwer verbalisierbar und der bewußten Kontrolle entzogen sind und daß sie die genuinen elterlichen Kompetenzen kritisch überlagern, verzerren oder nachhaltig blockieren können.
Adaptive Funktionen der intuitiven elterlichen Kompetenzen
Sucht man nach den natürlichen Bedingungen im Alltag, in denen die elterlichen Kompetenzen an der Erfüllung der psychobiologischen Grundbedürfnisse und Bewältigung von Anpassungs- und Entwicklungsaufgaben des Babys beteiligt sind, so stößt man unweigerlich auf die vorsprachliche Kommunikation in den Eltern-Kind-Interaktionen, die gewissermaßen die alltägliche Arena darstellen – beim Stillen, Füttern, Beruhigen und Schlafenlegen, beim Wickeln, Zwiegespräch und Spiel – , in der die Kompetenzen von Kind und Eltern aufgrund ihrer psychobiologischen Prädispositionen auf einzigartige Weise (im Sinne einer Co-regulation) zusammenwirken. Die Kommunikation erfüllt damit eine Reihe adaptiver Funktionen. Die wichtigsten Anpassungs- und Entwicklungsaufgaben der frühen Kindheit werden gemeinsam reguliert und gemeistert: Nahrungsaufnahme, Schlaf-Wach-Organisation und affektive Verhaltensregulation ebenso wie die Regulation von Aufmerksamkeitsprozessen, der Aufbau einer gemeinsamen Erfahrungswelt und Sprache, das selbstinitiierte Lernen im Spiel, und die empfindliche Balance zwischen Bindungssicherheit und Exploration, Nähe und Distanz, Abhängigkeit und Autonomie. Diese alltäglichen Kommunikationserfahrungen bilden zugleich für das Baby und die Eltern die Grundlage von Bindung, Beziehung und Individuation.
Gelingt die gemeinsame Regulation in einem der angesprochenen Kontexte, so entsteht eine Art. Der Säugling erfährt eine individuell gut abgestimmte Entwicklungsförderung, auf die er aufgrund seiner noch unzulänglichen Kompetenzen angewiesen ist. Die kindlichen Rückkoppelungssignale – Blickzuwendung, Lächeln, die unwiderstehlichen Tönchen, sein Anschmiegen, seine Tröstbarkeit – wirken als eine Quelle von Belohnungen: sie bestärken die Eltern in ihrem Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen in die eigenen genuinen Kompetenzen. Die wechselseitige positive Beeinflussung ist in ihrer Wirksamkeit dem Konzept der „positiven Gegenseitigkeit“ aus der systemischen Familien- und Paartherapie vergleichbar. Aus dem Zusammenspiel der kindlichen und elterlichen Prädispositionen in der vorsprachlichen Kommunikation entsteht ein dynamisches, aber in sich erstaunlich stabiles System, das die Entwicklung vorantreibt und fördert. Es erweist sich damit in der frühkindlichen Entwicklung und der Frühentwicklung der Eltern-Kind-Beziehungen als Schutzfaktor und Ressource. Unter günstigen Umständen kann eine gut funktionierende vorsprachliche Kommunikation anfängliche Anpassungsprobleme oder der Mutter auffangen und kompensieren.
Störanfälligkeit der intuitiven elterlichen Kompetenzen
Was nun aber, wenn dies wunderbar ausgewogene System der vorsprachlichen Kommunikation aus dem Gleis gerät? Wie die klinische Erfahrung zeigt, bedeutet die biologische Verankerung der intuitiven elterlichen Kompetenzen nicht, daß sie gegenüber Störungen besonders resistent sind. Vor allem die elterlichen Verhaltensbereitschaften, die auf Erfahrungsintegration, Kommunikation und Sprache des Säuglings ausgerichtet sind, stellen in der Phylogenese der Arten eine relativ späte Errungenschaft dar und sind von daher womöglich noch störanfälliger als das phylogenetisch ältere, auf die physiologischen Grundbedürfnisse Ernährung und Schutz ausgerichtete Fürsorgeverhalten.
Die intuitive Verhaltenssteuerung bedarf besonderer Bedingungen, unter denen ein bemutterndes soziales Umfeld und ein entspannter, streßfreier Befindlichkeitszustand an erster Stelle stehen. Eltern brauchen Zeit, innere Ruhe und Muße, um sich auf die Perspektive des Babys einzulassen, auf das ihm eigene Zeitmaß abzustimmen und von seinen Bedürfnissen und Signalen leiten zu lassen.
Gerade diese grundlegenden Voraussetzungen scheinen jedoch unter den gegenwärtigen Lebensbedingungen in unserer Gesellschaft und Kultur in zunehmendem Maße bedroht. Zum einen wird den Müttern unter dem Einfluß einseitiger spekulativer Entwicklungstheorien noch immer die exklusive Verantwortlichkeit für Glück und Unglück ihres Kindes aufgeladen, ohne für angemessene Unterstützung in der Bewältigung dieser Last Sorge zu tragen. In hohem Maße verunsichernd wirkt dabei der überbordende, neuerdings auch elektronische Markt an Elternratgebern mit ihrer Flut von widersprüchlichen, großenteils unüberprüften Empfehlungen, ebenso wie die Ausnutzung der elterlichen Verunsicherung durch kommerzielle Interessen und blühende Geschäfte mit pränatalen Sprachkursen, Babyschwimmen und Laufschulen, Baby-Universitäten, Säuglings-Curricula und Frühfördervideotheken. Wohlstands- und Leistungsgesellschaft fordern ihren Tribut – durch Geringschätzung der Elternrolle bei gleichzeitig hohem Erwartungsdruck, Leistungszwängen und Förderhysterie. Besonders prekär wirkt sich die verbreitete Lebensweise aus, die durch Überflutung mit Information mit rascher Abfolge von intensiv erregenden, sensationellen Reizen, durch Hektik in Beruf und Freizeit, Überstunden und volle Terminkalender ohne Zeit für Muße und Erholungspausen gekennzeichnet ist und die buchstäblich weder Raum noch Zeit läßt für ein entspanntes Erleben von Schwangerschaft, Geburt und früher Beziehung.
Erhöhte Anforderungen an die intuitiven elterlichen Kompetenzen
Störungen und Fehlanpassungen der intuitiven Kompetenzen entstehen häufig, wenn das individuelle Kind in seinen Auslöse- und Rückkoppelungssignalen schwer verständlich ist und damit erhöhte Anforderungen an die elterlichen Kompetenzen stellt. In Frage kommen alle Faktoren, die Wahrnehmungsfähigkeiten, Motorik, allgemeine Verhaltensregulation und Lernfähigkeiten beeinträchtigen: vorübergehende Unreife, genetische oder konstitutionelle Faktoren, Regulationsstörungen, prä- und perinatale Risiken und alle Formen von Behinderungen.
Frühe Trennungen in den ersten Lebenswochen
Fehlt die frühe wechselseitige Anpassungsphase zwischen dem Baby und seinen Eltern, wird das anfängliche Kennenlernen, die Orchestrierung und Abstimmung der intuitiven Kompetenzen auf die Individualität des Neugeborenen erschwert. Frühe Trennungen sind im Gesundheitssystem oft unvermeidbar, z.B. bei notwendiger Isolation auf der Intensivstation nach extremer Frühgeburtlichkeit oder perinatalen Komplikationen oder bei stationärer Behandlung von Müttern mit Wochenbettsdepression oder –psychose. Frühes Kennenlernen entfällt auch bei Spätadoption oder bei Vätern, die glauben, mit dem Neugeborenen noch nichts anfangen zu können. Die Probleme einer verspäteten Kontaktaufnahme können entmutigen und die Entfaltung der elterlichen Kompetenzen nachhaltig beeinträchtigen, sind aber meist überwindbar.
Entwicklungsstörungen und Behinderungen des Kindes
Die kindliche Responsivität kann sowohl auf motorischer Seite (Hypotonie) als auch auf seiten der Wahrnehmung soweit eingeschränkt sein, daß die elterlichen Bemühungen um einen dialogischen Austausch allmählich erlöschen oder in einen direktiven, zudringlichen Interaktionsstil einmünden. Erhöhte Reizschwellen in einer Sinnesmodalität oder erschwerte Wahrnehmungsverarbeitung des Kindes können leicht ein Miss-match zwischen Wahrnehmungsfähigkeit und Intensität der elterlichen Anregungen hervorrufen, besonders dann, wenn die Eltern ihr als vulnerabel wahrgenommenes Baby extra vorsichtig und zart stimulieren, anstatt das Wahrnehmungdefizit durch verstärkte Stimulation kompensatorisch auszugleichen, versagt die Kommunikation.
Bei einer Hörstörung können die kommunikativen Verhaltensbereitschaften der Mutter auf multiple Weise gehemmt werden. Da die Mutter auf die melodischen Anregungen in ihrer Ammensprache keinerleii positive Rückkoppelung bekommt, wird sie mit der Zeit verstummen und die Kommunikation mit dem Baby über andere Modalitäten aufrechterhalten und kompensieren, so daß die verbliebenen Hörreste nicht genutzt werden und die zentralen Hörbahnen womöglich verkümmern. Das Risiko des mütterlichen Verstummens wird dadurch erhöht, daß die Mutter vielleicht noch mitten in der Auseinandersetzung mit der Diagnose eines hörbehinderten Kindes steht und durch unbewältigte Ängste, Enttäuschung oder Aufbegehren gegen das Schicksal absorbiert ist. Wenn die Mutter darüber hinaus für die sprachliche Kommunikation mit dem Kind die Gebärdensprache als eine Art Fremdsprache erlernen muß, büßt sie ausgerechnet die Qualitäten der Ammensprache ein, die biologisch darauf angelegt sind, Hören und auditive Wahrnehmungsintegration der Muttersprache zu unterstützen.
Auch Signale im Aussehen des Kindes können zu Fehlanpassungen und Versagen der Kommunikation führen, z.B in der Kommunikation mit Kindern mit schweren mentalen oder autistischen Entwicklungsstörungen kommen, bei denen sich das Bedürfnis nach präverbalen Kommunikationsformen bis in ein Alter hinein verlängert, in dem das Kind sein babyhaftes Aussehen und die Verhaltensmerkmale verliert, die bei Eltern und Betreuern die für die Verständigung hilfreichen intuitiven Verhaltensanpassungen triggern könnten.
Der „schwierige“ Säugling – eine oft schwer zu bewältigende Herausforderung an die intuitiven Kompetenzen.
Die Eltern sind in ihren intuitiven Kompetenzen selbst vielfältigen Einflüssen ausgesetzt, die es einmal erleichtern, ein anderes Mal erschweren oder unmöglich machen, sich intuitiv feinfühlig und kompetent auf das Baby einzulassen. Dies trifft insbesondere für Mütter mit einem reifungs- oder temperamentsbedingt „schwierigen Säugling“ zu, der unstillbar und scheinbar grundlos schreit, chronisch unzufrieden ist, sich nicht anschmiegt, nicht trösten läßt, Blickkontakt verweigert, in seinen Signalen unverständlich ist, die Brust oder Flasche vermeidet, sich im Zustand von Übermüdung auf dem Arm der Mutter versteift, gegen das Einschlafen kämpft und permanent die Mutter fordert. Eine derart negative Rückkoppelung hat ernst zu nehmende Auswirkungen auf die psychische und körperliche Befindlichkeit der Mutter, in Form von Erschöpfung, Schlafdefizit, chronischem Streß, Hilflosigkeit, ohnmächtiger Wut oder Depression. Die schwierigen Anforderungen und wiederholtes Mißerfolgserleben können die intuitiven Kompetenzen vollständig ausreizen und schließlich im Sinne erlernter Hilflosigkeit nachhaltig hemmen, so daß ein dysfunktionaler Teufelskreis entsteht, eine Spirale negativer Gegenseitigkeit: je dysregulierter das Baby, um so eher werden die intuitiven Kompetenzen beeinträchtigt und um so mehr fehlt dem Baby die notwendige Unterstützung der Eltern, mit der Folge, daß sich seine Dysregulation und negative Rückkoppelung verstärkt, was wiederum zur Folge hat, daß es der Mutter immer weniger gelingt, das Baby in seinen Schwierigkeiten zu verstehen, anzunehmen und zu sich selbst in der mütterlichen Rolle Zutrauen zu finden.
Ähnliche dysfunktionale Entgleisungen der Eltern-Kind-Kommunikation können in Zusammenhang mit anderen Entwicklungsaufgaben, mit den ganz normalen Krisen der frühen Kindheit entstehen und führen dann in Spiralen negativer Gegenseitigkeit zu belastenden frühkindlichen Regulationsstörungen wie Fütter- und Gedeihstörungen, Schlafstörungen, chronischer Unruhe, Spielunlust und Aufmerksamkeitsproblemen, exzessivem Klammern oder exzessivem Trotzen.
Bei allen genannten Störungen wird deutlich, in welchem Maße das Baby selbst am Gelingen oder Mißlingen der Kommunikation beteiligt ist und unmittelbaren Einfluß auf Ausprägung und Abstimmung der elterlichen Kompetenzen ausübt.
Erschöpfte Ressourcen und Belastungen von Kind und Eltern
Entgleisungen des Systems entstehen um so leichter, je mehr Mutter und/oder Kind bereits durch multiple Risikobelastungen in ihren Ressourcen beeinträchtigt sind. Oft bringt dann eine Kleinigkeit das randvolle Faß zum Überlaufen. Viel wichtiger als jede noch so exakte diagnostische Bewertung ist es daher, der Mutter in ihrem oft verzweifelten Bemühen, eine gute Mutter zu sein, Wertschätzung entgegenzubringen und ein offenes Ohr und Zeit für ihre Belastungen, Enttäuschungen und Verletzungen. Alle organischen und psychosozialen Belastungen, die die psychische Befindlichkeit der Mutter einschränken, können sich potentiell auch auf die elterlichen Verhaltensbereitschaften auswirken. Überaus verbreitet sind Erschöpfung und Depressionen im Wochenbett und späteren Säuglingsalter, Symptome, die fast immer mit den frühkindlichen Regulationsstörungen assoziiert sind und die Ausprägung der intuitiven Kompetenzen merklich dämpfen, in schweren Fällen vollständig blockieren. Ausgeprägte Beeinträchtigungen von Ausprägung und Abstimmung sind auch bei neurotischen Beziehungsstörungen zu beobachten, wenn die Aufmerksamkeit der Mutter durch intensive negative Affekte und Konflikte in Bezug auf Rollenidentität, Paarbeziehung oder Ablösung von der Herkunftsfamilie absorbiert ist. Je nach psychischer Belastung oder Erkrankung können die Kompetenzen durch Ängste, Depression, unterdrückte Wut oder auch Psychopharmaka gehemmt werden; sie können durch intensive Affekte oder vordergründige Egoismen überlagert oder verschüttet werden, oder sie können infolge schwerer Deprivation oder unbewältigter Traumatisierungen in der eigenen Kindheit schwerer bedroht und der Mutter selbst völlig unzugänglich sein.
Videogestützte klinische Kommunikations- und Beziehungsdiagnostik
Für eine videogestützte klinische Kommunikations- und Beziehungsdiagnostik gibt es inzwischen ein weites Indikationsfeld. Es umfaßt die Regulationsstörungen der frühen Kindheit – exzessives Schreien, Schlaf-, Fütter- und Gedeihstörungen, exzessives Klammern und Trotzen – ebenso wie alle Formen von Entwicklungsstörungen, die häufigen Wochenbettsdepressionen und andere psychische Erkrankungen der Eltern und schwere Bindungsstörungen unter multiplen Risikiobelastungen mit offenkundiger Vernachlässigung oder Mißhandlungsgefahr.
Eine unersetzbare Unterstützung der Verhaltensbeobachtung und Hilfe im Erkennen dysfunktionaler Interaktionsmuster bieten Videoaufzeichnungen und videogestützte Verhaltensanalysen, die das Kernstück unserer klinischen Kommunikations- und Beziehungsdiagnostik ebenso wie der videogestützten Beratung und Kommunikationstherapie bilden. Die Videodokumentation erlaubt dem Untersucher beim wiederholten Anschauen eine reflektive Distanz zum aktuellen Kommunikationsgeschehen. Dabei ist es hilfreich, drei Wahrnehmungsebenen differenziert zu nutzen, um die Mechanismen der wechselseitigen Beeinflussung von Mutter und Kind gut zu verstehen: die objektive Analyse konkreter Verhaltensmuster und –sequenzen sowie die subjektive Einschätzung einmal aus der Perspektive der Mutter und einmal aus der Perspektive des Kindes.
Aufgabe und Ziel der Videodiagnostik ist es zunächst, über die momentane Interaktionsbereitschaft, Aufnahmefähigkeit und Reaktionsbereitschaft des Kindes Aufschluß zu gewinnen. Danach schätzen wir auf seiten der Mutter die Ausprägung ihrer intuitiven Kompetenzen und die Abstimmung ihrer Kompetenzen auf die kindlichen Rückkoppelungssignale ein. Aus den wechselseitigen Kontingenzbeziehungen zwischen kindlichen und mütterlichen Signalen läßt sich ablesen, ob funktionale oder dysfunktionale Kommunikationsmuster, Engels- oder Teufelskreise, vorliegen. Wir richten unsere Aufmerksamkeit dabei in erster Linie auf Sequenzen positiver Gegenseitigkeit, um für die weitere Beratung und Behandlung die immanenten Ressourcen des Systems nutzen zu können.
Beispiel eines dysfunktionalen Kommunikationsmusters.
Bereits eine kurze Interaktionssequenz kann wie in dem folgenden Beispiel einen dysfunktionalen Teufelskreis erkennen lassen. Der 3 ½ -monatige Bub mit einer frühkindlichen Regulationsstörung läßt im Zwiegespräch mit seiner Mutter keinerlei Interaktionsbereitschaft erkennen, starrt vielmehr vor sich hin, zeigt weder Initiativen noch positive Reaktionen. Die Mutter sucht das Baby mit einem überreichen Angebot von intuitiven Verhaltensbereitschaften und Spielchen zum Blickkontakt und für einen Dialog zu gewinnen – ohne Erfolg. Auf der subjektiven Ebene sind wir bei Identifikation mit dem Baby rasch bereit, das Verhalten der Mutter als überstimulierend, zudringlich, alles andere als feinfühlig, vielleicht sogar aggressiv zu etikettieren. Aus der mütterlichen Perspektive nehmen wir die innere Anspannung und Verletzung wahr, die durch die Blickvermeidung ausgelöst wird und ihr verzweifeltes Bemühen verstärkt, ihrem Baby ein Zeichen der Zuwendung zu entlocken. Wie die Mutter im anschließenden Gespräch verrät, erlebt die Blickabwendung als absichtliche Ablehnung, Entwertung und Strafe für ihr Versagen als Mutter. Dies hat zur Folge, daß sie das Kind ohne Pause, in großem Tempo und raschem Wechsel stimuliert, ohne seine Signale richtig zu interpretieren. Der Bub schützt sich vor dem Zuviel durch eine sehr kompetente Selbstregulation: durch Abschalten, Wegschauen und Hemmung seiner Interaktionsbereitschaft. Je mehr er jedoch abwehrt, um so mehr stimuliert die Mutter, und um so mehr zieht sich das Kind zurück – eine Spirale negativer Gegenseitigkeit. Ein kleiner diagnostischer Eingriff wendet unerwartet das Blatt: wir bitten die Mutter, für zwei Minuten nichts zu tun, das Kind nicht mehr anzuschauen und nicht zu reagieren. Der Kleine taucht sofort aus seiner Abschottung auf und zeigt durch anhaltende Blickzuwendung und charmantes Werben, daß das Gespenst der Ablehnung nur im Kopf der Mutter existiert, der Kleine dagegen spontanes Interesse am Zwiegespräch mit der Mutter hat. Im anschließenden therapeutischen Gespräch mit der Mutter konnten wir diese für die Mutter elementare Erfahrung aufgreifen, die entscheidend dazu beitrug, daß es gelang, mit Hilfe einer minimalen praktischen Anregung die Kommunikation in die Geleise einer positiven Gegenseitigkeit zurückzuführen und damit das Gespenst des Bestraftwerdens aus der Beziehung zu vertreiben.
Folgerungen aus dem Konzept der intuitiven elterlichen Kompetenzen für Prävention, Beratung, Frühförderung und klinische Diagnostik und Behandlung
Das Beispiel macht die Schlüsselrolle deutlich, die die intuitiven elterlichen Kompetenzen in den frühen Kommunikationssprozessen in Prävention und Beratung, Frühförderung und Therapie einnimmt – sowohl in den therapeutischen Verfahren der Entwicklungsrehabilitation als auch im therapeutischen Zugang zu hochbelasteten, gefährdeten oder gar gestörten Eltern-Kind-Beziehungen.
Allein das Wissen um die elterlichen Kompetenzen, ihre Universalität und unbewußte, intuitive Steuerung hat eine Reihe wichtiger praktischer Implikationen. Zum einen gehen wir davon aus, daß jede Mutter zumindest über basale Kompetenzen verfügt, auch wenn es auf den ersten Blick manchmal nicht den Anschein hat, und daß jede Mutter ein biologisch tief verwurzeltes Bedürfnis hat, für ihr Baby eine gute, kompetente Mutter zu sein. – Die Universalität der elterlichen Kompetenzen bietet der Mutter eine allzu oft ungenutzte Entlastung, eine Chance für Vater, Geschwister, Oma, Opa, Nachbarn und andere Betreuer und für das Baby eine Bereicherung seiner frühen Beziehungserfahrungen. – Von besonderer Bedeutung ist schließlich das Merkmal der „intuitiven Steuerung“. Jeder Versuch, das elterliche Verhalten durch rationale Erklärungen, konkrete Verhaltensanweisungen oder bewußte Kontrollstrategien zu beeinflussen, muß nicht nur scheitern, sondern kann auf empfindliche Weise Verlaß und Selbstvertrauen in die eigenen intuitiven Kompetenzen zerstören.
Intuitive elterliche Früherziehung als Modell für Frühförderung und Entwicklungsrehabilitation
Die intuitiven elterlichen Kompetenzen im Dialog mit dem Baby bieten mit ihren regulatorischen, didaktischen und kompensatorisch unterstützenden Komponenten ein nachahmenswertes Modell für den pädagogischen oder therapeutischen Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern, das inzwischen in viele therapeutische und pädagogischen Verfahren der Frühförderung und Entwicklungsrehabilitation Eingang gefunden und sich dort bewährt hat. Auch das Wissen um die Kompetenzen des Säuglings und sein Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit hat in den Therapien neue Akzente gesetzt und der Erkenntnis Raum gegeben, daß alles Trainieren, Therapieren, Frühfördern oder Rehabilitieren wenig bringt, wenn darin nicht das Baby selbst mit seinen Vorlieben, Initiativen und Bedürfnissen nach Selbstwirksamkeit und Bemeisterung zum Zuge kommt. Um dies zu ermöglichen, braucht es in allen Verfahren und Therapien der Frühförderung und Entwicklungsrehabilitation den Dialog, die Kommunikation mit dem Baby. Wie Hanuš Papoušek am Beispiel einer ergotherapeutischen Behandlung eines autistischen Kindes verhaltensmikroanalytisch herausgearbeitet hat, hängt der Therapieerfolg vor allem davon ab, wie der Therapeutin ein Dialog mit dem Kind gelingt. Dialogische oder kommunikative Therapieformen zeichnen sich dadurch aus, daß sich die Therapeutin mit ihren jeweiligen Techniken von Moment zu Moment von den Rückkoppelungssignalen des Kindes leiten läßt, ihre Anregungen in Tempo, Zeitpunkt, Reizintensität und „Verständlichkeit“ auf die individuellen Stärken und Probleme des Kindes abstimmt und seine Motivationen nutzt und fördert, seine Neugier, seinen Erkundungsdrang und sein Bedürfnis, selbst etwas zu bewirken und zu meistern. Damit dies gelingt, muß die Therapeutin ihre fachspezifischen Kompetenzen und Therapieziele so verinnerlichen und automatisieren, daß sie sich auf die intuitive Kommunikation mit dem Baby einlassen kann. Es reicht allerdings oft nicht, die Behandlung auf das Baby zu konzentrieren. Ebenso wichtig ist es, die Belastungen der Eltern anzusprechen und aufzufangen und Probleme, etwa in der Akzeptanz der Behinderung oder in der frühen Kommunikation mit dem Kind frühzeitig zu bearbeiten und aufzulösen.
Eltern-Säuglings-Beratung und Psychotherapie
Ein breites Indikationsfeld für kommunikationszentrierte therapeutische Interventionen bietet die Eltern-Säuglings-Beratung und –Psychotherapie, die erst seit kurzem in Deutschland Fuß gefaßt hat. Es umfaßt die Regulationsstörungen der frühen Kindheit, primäre Kommunikations-, Bindungs- und Beziehungsstörungen, Vernachlässigung und Mißhandlung, sowie spezifische Gefährdungen der vorsprachlichen Kommunikation im Kontext von psychischen Erkrankungen der Eltern.
Unser eigenes integratives Behandlungsmodell, das wir am Kinderzentrum in der Münchner Sprechstunde für Schreibabys erarbeitet und in zehnjähriger klinischer Arbeit erfolgreich erprobt haben, orientiert sich an den Ressourcen, die in Kind und Mutter oftmals verborgen liegen, und es ist Aufgabe der kommunikationszentrierten Eltern-Säuglings-Psychotherapie, sie aus dysfunktionalen Teufelskreisen, aus psychodynamischen Blockierungen, aus affektiven Überlagerungen und anderen Beeinträchtigungen zu befreien und Bedingungen zu schaffen, in denen sich das kommunikative Zusammenspiel der Eltern mit ihrem Baby im Sinne einer positiven Gegenseitigkeit entfalten kann – ein lohnender Weg, um die Grundlage für eine langfristig tragfähige Bindung und Beziehung zu schaffen.
Prof. Dr. med. Mechthild Papoušek ist Fachärztin für Psychiatrie und Nervenheilkunde und Leiterin der Forschungs- und Beratungsstelle Frühentwicklung und Kommunikation am Kinderzentrum München
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