21 Aug fK 1/01 Grossmann
Die Fähigkeit, liebevolle Bindungen einzugehen
Von früher Erfahrung feinfühliger Unterstützung zu späterer Partnerschaftsrepräsentation
von Klaus E. Grossmann, Karin Grossmann, Monika Winter und Peter Zimmermann
Junge Erwachsene wurden in ausführlichen Interviews über ihre Partnerschaftserfahrungen befragt. Etliche junge Erwachsene sprachen von ihrer bisher besten engen Beziehung im Sinne einer verlässlichen Quelle der Geborgenheit, waren für den Partner eine sichere Basis und äußerten viele partnerschaftliche Gedanken und Gefühle. Sie konnten ihre Erfahrungen innerhalb dieser Partnerschaft in einer klaren, verständlichen Sprache erzählen, ohne dabei negative Aspekte zu leugnen. Sie drückten offen ihre Zuneigung aus und berichteten mit vielen Beispielen über eine liebevolle und sich gegenseitig unterstützende enge Beziehung. Sie schilderten den Partner als emotional verfügbar und sich selbst als kompetent in ihrer engen Beziehung. Angst, Ärger oder widersprüchliche Gefühle wurden erkannt und besprochen, dominierten aber nicht die Beziehung. Eine solche Sicherheit und Klarheit im sprachlich dargestellten inneren Bild von Partnerschaft (der Partnerschaftsrepräsentation) wurde aus drei Quellen früher und anhaltender Erfahrungen gespeist: (1) der mütterlichen Feinfühligkeit und Wertschätzung von Bindung vom Säuglingsalter an, (2) der Fähigkeit, über Bindungserfahrungen offen, klar und begründet zu sprechen (kohärente Diskurse über Bindungserfahrungen führen zu können), (3) einer behutsam herausfordernden und feinfühligen Art des Vaters, mit seinem kleinen Kind zu spielen. Wie lassen sich diese Einflüsse aus dem Erleben des kleinen Kindes auf seine Vorstellungen und sein Verhalten in späterer Partnerschaft erklären?
Bindung und ihre Wurzeln in der biologischen Anthropologie
Die biologische Anpassung einer Art, die sich letztlich auf genetische Selektion gründet, bildet die phylogenetischen Wurzeln von Bindung. Bindungsverhalten tritt bei den Jungen fast aller Säugetierarten auf. Schutz durch Nähe zu einem Stärkeren und Klügeren ist das vorrangigen Ziel von Kindern, wenn sie bei Unwohlsein Nähe zur Bindungsperson suchen und aufrechterhalten. Es erzeugt ein Gefühl der Sicherheit und zeigt sich u.a. auch in der Verringerung von Stresshormonen. Solche Verhaltensweisen sind evolutionär„vorprogrammiert“ und haben Überlebenswert. Bindungsverhalten ist in diesem Sinne angeboren und deshalb, um mit Bowlby zu sprechen,„umweltstabil“. Bindungsbedürfnisse sind naturgegeben und zwar, wiederum in Bowlbys Worten„von der Wiege bis zum Grabe“. Wir gehen also davon aus, daß nicht nur Kinder sondern auch Erwachsene zugrunde liegende Bindungswünsche haben.
Genetische Programme entwickeln sich jedoch im Laufe der Ontogenese auf verschiedene Art und Weise – abhängig von den jeweiligen Umwelteinflüssen – zu bestimmten (aus einer Reihe möglicher) phänotypischen Erscheinungen. Wann welche Gene„ein- und ausgeschaltet„ werden, hängt u.a. von den äußeren Einflüssen während der Ontogenese eines jeden einzelnen Kindes ab. Auf jeden Fall ist die Responsivität der Bindungspersonen für die Kommunikationsfähigkeit des Säuglings grundlegend. Er/sie wird daraus hoch individualisierte Bindungsbeziehungen entwickeln. Bindungen zeigen sich als Wurzeln psychologischer Sicherheit, die sich beim Menschen aus den ursprünglich einfachen Säugetier-Strategien zum Schutz der Jungen im Dienste der Weitergabe der Gene entwickelt haben. Dieser Aspekt der Bindungstheorie basiert auf den Erkenntnissen der Evolutionsbiologie und der biologischen Anthropologie.
Bindung und ihre Wurzeln in der Kulturanthropologie
Konrad Lorenz prägte die Definition des Menschen als ein von Natur aus bestimmtes Kulturwesen. Seine Kultur wird im Wesentlichen mit Hilfe der Sprache übermittelt, allerdings muß der sehr junge Mensch erst sprechen lernen. Zunächst äußert der Säugling seine/ihre emotionalen Bedürfnisse in Form von non-verbalen Signalen. Die Feinfühligkeit der Bindungspersonen gegenüber diesen Signalen beeinflußt dann von Geburt an seine Kommunikationen. Die reichste kommunikative Entwicklung wird durch verständnisvolle, prompte und angemessene Reaktionen beständiger individueller Interaktionspartner gefördert. Die verbalen Reaktionen werden gewöhnlich von Vokalmelodien begleitet, die dem Säugling auch die Gefühle der Bindungsperson mitteilen. In allen Interaktionen, ob feinfühlig oder nicht, erhält der Säugling Antworten, die seine Äußerungen und Wünsche und den Ausdruck seiner Emotionen aus seiner Sicht richtig oder falsch interpretieren. Der vorsprachliche Säugling erlebt also noch direkter als über die reine Sprache, ob er verstanden und ob ihm angemessen geantwortet wurde oder nicht.
Bereits im ersten Lebensjahr beginnen einzelne Worte der Bindungspersonen bedeutungsvoll zu werden. Durch das Wie und Was der Worte, die seine Bindungspersonen an ihn richten, lernt das Kind allmählich, zusätzlich zu der bereits bestehenden Erfahrung auf der oft „prozedural“ genannten Verhaltensebene, Gefühle als wichtige Teile der Kommunikation zu verstehen. Auf diese Weise können Gefühle allmählich in mehr oder weniger klare zielorientierte Absichten integriert werden. Die Integration von z.B. negativen Gefühlen in eine kommunikative Handlungsstrategie beginnt relativ früh, beispielsweise wenn ein Säugling ärgerlich auf das Weggehen seiner Mutter reagiert. Wenn z.B. die Mutter den Ärger des Säuglings als Signal seiner Unsicherheit interpretiert, wird sie zurückkommen, um das Kind zu beruhigen, oder, falls sie nicht selbst bleiben oder das Kind mitnehmen kann, das Kind in die Obhut einer anderen dem Kind vertrauten Person geben. In dieser Situation steht der Ausdruck von Ärger und Disstress im Dienste von Nähe und Sicherheit und der Säugling erreicht dieses Ziel. Wenn jedoch die Mutter den Ärger des Säuglings etwa als aggressiv und widerspenstig interpretiert, könnte sie die Zeichen von Disstress beim Kind ignorieren oder sogar selbst ärgerlich zu reagieren. Unter solchen Bedingungen kann sich der Ausdruck von Ärger leicht dysfunktional entwickeln, da das erhoffte Ziel, Nähe und Sicherheit zu bekommen, nicht erreicht wurde und der Ärger deshalb andauert.
Später können angemessene Gespräche (Diskurse) mit dem Kind die Zusammenhänge zwischen seinen Gefühlen und den Antworten der Bindungspersonen darauf erklären. Gefühle und Empfindungen werden dann auf die Ebene bewusster sprachlicher Diskurse gehoben und sind damit für Reflexionen und neue Aspekte ihrer Bedeutungen verfügbar. Diese Prozesse sind die kulturanthropologischen Aspekte der Bindungstheorie, die die sprachliche Vermittlung von Erkenntnissen auch über Gefühle einbezieht. Dieser Hintergrund kann helfen, die vielfältigen Einflüsse der frühen vorsprachlichen und später sprachlich-diskursiven Vermittlung von Gefühlen und Verhalten durch mütterliche Feinfühligkeit und Wertschätzung von Bindung zu erhellen. In unserer Untersuchung fand sich eine Quelle partnerschaftlicher Wertschätzung in der mütterlichen Feinfühligkeit gegenüber den Kommunikationen des Kindes vom vorsprachlichen Alter an.
Die Entwicklung von Bindungsqualitäten und Bindungsrepräsentationen
Die Messbarkeit der Bindungsqualität im Säuglingsalter mit Hilfe einer kurzen Trennungssituation, in der Kindheit mit Hilfe von bildlich dargestellten Trennungen und beginnend im Jugendalter mit einem Interview über die Bindungserfahrungen und deren Bewertungen aus aktueller Sicht spielten in der eindrucksvollen Entwicklung der Bindungsforschung eine zentrale Rolle. Die Bindungstheorie ist allerdings viel reichhaltiger und hat ein weit größeres Potential für kreative Forschung als lediglich Zusammenhänge zwischen einigen etablierten Bindungsmaßen aufzuzeigen. Wie wir belegen konnten, haben unsere neuen, explorativen und induktiven Messungen – Feinfühligkeit und Wertschätzung von Bindung auf der einen Seite und Diskursqualität auf der anderen – zu reichhaltigen Ergebnissen geführt, die im Hinblick auf das Bild einer Partnerschaft als Bindungsbeziehung sogar reichhaltiger waren als die wenigen verfügbaren traditionellen Bindungsmaße. Die Bindungstheorie ist vor allem ein besonderer Weg, über die soziale und emotionale Entwicklung eines Menschen nachzudenken. Sie kann deshalb die Bindungsforschung anregen, die psychologische Komplexität im Umgang mit Unsicherheit in ihren Messungen auf vielfältige Weise zu berücksichtigen.
Die Entwicklung von Diskursqualitäten über Bindungsthemen
Das allmähliche Verstehen psychologischer Unsicherheit mit den Mitteln der Sprache dauert sehr viel länger und erfordert erheblich mehr Mühe sowohl auf der Seite des Kindes als auch auf der der Eltern als durch Feinfühligkeit auf der Verhaltensebene allein erreicht werden kann. Diskurse sind unbedingt notwendig, um sinnvolle Verbindungen zwischen innerem Erleben und äußerer Wirklichkeit zu schaffen. Dies ist besonders wichtig für das Verbinden von vor- und außersprachlichen Erfahrungen in Bindungsbeziehungen, denen vielfältige Emotionen, ihr Ausdruck in Mimik und Gestik und zielgerichteten Absichten zugrunde liegen. Es müssen geistige Verbindungen geschaffen werden zwischen den Reaktionsmustern der Bindungspersonen und den emotionalen und kognitiven Erfahrungen des Kindes. In dem Interview über Bindungserfahrungen kann eine erwachsene Person beispielsweise von einer traurigen Kindheit erzählen und gleichzeitig in einer verständnisvollen Art und Weise stimmige und nicht feindselige Gründe für das Verhalten ihrer Eltern finden, ohne diese aus seiner Sicht gut heißen zu müssen. Ein Kind kann lernen, seine Gefühle, die mit bestimmten Ereignissen verbunden sind, in größeren Zusammenhängen zu erkennen, um mit ihnen angemessener umgehen zu können. Diese mentale Repräsentation von Bindung wird als„reflexiv sicher“ innerhalb des Bewertungssystems des Interviews über Bindungserfahrungen bezeichnet. Personen können also ungünstige Kindheitserfahrungen durchaus erinnern, aber es gelang ihnen, meist mit Hilfe anderer, die damit verbundenen negativen Gefühle ihren positiven Lebenszielen unterzuordnen.
In unserer Untersuchung tauchten die ersten zuverlässigen Hinweise auf eine gedanklich sprachliche Klarheit der eigenen Beweggründe und Gefühle und eine zielgerichtete Orientierung auf Lösungen trotz negativer Emotionen im Alter von sechs Jahren auf. Dem Alter entsprechende Messungen dieser gedanklichen Klarheit und Lösungsorientierung im Alter von 6, 10 und 16 Jahren waren eng miteinander verknüpft. Im Alter von 16 Jahren war die Klarheit über die eigenen Gefühle in Beziehungen bereits gut etabliert und sagte die Sicherheit der späteren Partnerschaftsrepräsentation im Alter von 22 Jahren gut vorher. Die Klarheit über die eigenen Gefühle in Beziehungen, so zeigen unsere Ergebnisse, haben aber ihrerseits ihre Quellen in der mütterlichen Feinfühligkeit zu allen Altersstufen. Die gefundene Kontinuität deutet also auf eine Fortsetzung und Erweiterung feinfühligen Handelns mit sprachlichen Mitteln hin.
Die Rolle des Vaters für die Bindungsentwicklung des Kindes
Väter wurden in der Bindungsforschung lange vernachlässigt. Die wenigen Forscher, die die Bindungsqualität des einjährigen Kindes zum Vater in der Trennungssituation erfasst haben, entdeckten häufig zwar ähnliche, aber schwächere Einflüsse dieser Bindungsmaßes im Vergleich zu den Wirkungen des mütterlichen Einflusses. Die Rolle des Vaters während der Entwicklung des Kindes ist jedoch in vielen Bereichen eine andere als die der Mutter. Wenn wir die väterliche Unterstützung beim kindlichen Bedürfnis nach Spiel und Erkundung und seine feinfühlig herausfordernden Verhaltensweisen gegenüber dem Kind als Kennzeichen ihrer Beziehung genommen haben statt der Trennungssituation, zeigten sich viele längsschnittliche Zusammenhänge zu den Bindungsmaßen im Alter von 6, 10 und 16 Jahren. Sogar die Partnerschaftsrepräsentation der 22-Jährigen ließ sich direkt auf die väterliche Feinfühligkeit im Spiel mit ihrem zweijährigen Kleinkind beziehen. Das feinfühlige, unterstützende und behutsam herausfordernde Spiel des Vaters mit seinem vorsprachlichen Kind scheint, wenn auch auf andere Weise, genauso wichtig wie die mütterliche Feinfühligkeit zu sein. Beide leisten nachweislich einen entscheidenden Beitrag zur späteren Partnerschaftsrepräsentation ihres Kindes.
In den meisten Familien investieren beide Eltern in das Bedürfnis ihrer Kinder nach Sicherheit und nach Exploration, indem sie einerseits auf deren Bedürfnis nach schützender Nähe, nach einer sicheren Basis eingehen und andererseits die Erkundungen des Kindes in einem psychisch entspannten Raum angemessen unterstützen. Ohne emotionale Aufmerksamkeit, einer richtigen – aus der Sicht des Kindes – Interpretation der kindlichen Signale, der Unterstützung und der Kooperation der Bindungsperson beim gemeinsamen Tun ist die kindliche Exploration nachweislich weniger differenziert und weniger konzentriert.
Unsere Ergebnisse über die frühen Wurzeln der Qualität von Partnerschaftsrepräsentationen, man kann es auch Wertschätzung der Bindungsaspekte in einer Partnerschaft nennen, zeigen Entwicklungswege über einen Zeitraum von 22 Jahren. Weitere Analysen werden folgen. Die Bindungstheorie als offene Theorie verlangt immer neue Denk- und Forschungsansätze. Anregungen aus der biologischen und kulturellen Anthropologie können helfen, neue Wege der Bindungsentwicklung zu entdecken. Zum Beispiel haben wir zwei in der Bindungsforschung neue Entwicklungswege zu einer sicheren Partnerschaftsrepräsentation vorgestellt ohne die traditionellen Maße zu vernachlässigen. Die Bedeutung von„älteren und weiseren Gehirnen“ für die kognitiven Repräsentationen realer Gegebenheiten wird allgemein akzeptiert. Unsere Forschungsergebnisse ergänzen diese Auffassung für den Bereich der emotionalen Organisation und Repräsentation von Beziehungen. Sprachlich diskursive Auseinandersetzungen mit engagierten Eltern oder anderen zugeneigten Bindungspersonen sind für die Entwicklung von stimmigen und psychologisch sicheren Repräsentationen von sich selbst und anderen eminent wichtig. Die Bindungstheorie ist in der Lage, eine sichere Basis für das Verständnis eines wichtigen Aspekts der Rolle individueller Erfahrungen für die Entwicklung psychologisch komplexer Zusammenhänge (der„experiential perspective on the ontogenesis of psychological complexity“) zu bieten. Ihr besonderer Beitrag liegt in der Erforschung der Integration vor allem negativer Gefühle in positive Beziehungen und in der Entwicklung sicherer internalisierter Arbeitsmodelle ohne Angst und ohne verinnerlichte Verunsicherungen. Die Untersuchung entdeckte Wege, wie Bindungserfahrungen während der gesamten Entwicklung in der Kindheit und während der Jugendzeit die mentale Repräsentation junger Erwachsener in Bezug auf ihre liebevollen Partnerschaften beeinflussen können.
Die vollständige Fassung des zugrunde liegenden Beitrags „Bindungsbeziehungen und Bewertung von Partnerschaft. Von früher Erfahrung feinfühliger Unterstützung zu späterer Partnerschaftsrepräsentation, in: Karl Heinz Brisch, Karin Grossmann, Klaus E. Grossmann und Lotte Köhler (Hrsg., in Vorb.). Bindung und seelische Entwicklungswege. Vorbeugung, Interventionen und klinische Praxis“ ist über die Geschäftsstelle erhältlich.
Prof. Dr. Klaus E. Grossmann ist Psychologe und Hochschullehrer am Psychologischen Institut der Universität Regensburg.
Dr. Karin Grossmann ist Psychologin und freie Wissenschaftlerin am Psychologischen Institut der Universität Regensburg.
Monika Winter ist Diplom-Psychologin in der Forensik am Bezirkskrankenhaus Regensburg.
P.B. Dr. Peter Zimmermann ist Psychologe und Lehrstuhlvertreter an der Universität Erlangen-Nürnberg.
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