Kategorie: Archiv

  • fK 4/03 Künast

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Wir wollen Kindern Lust auf gesunde Ernährung und Bewegung machen

    Jörg Maywald im Gespräch mit Renate Künast, Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft

    Maywald: Jedes fünfte Kind in Deutschland gilt heute bereits als übergewichtig. Woran liegt das? Kommen die falschen Produkte auf den Markt, versagen die Eltern oder hat sich das Verhalten der Kinder negativ verändert?

    Künast: Nach allem, was wir heute wissen, kommen mehrere Faktoren zusammen: Viele Kinder und Jugendliche essen zu viele energiereiche Lebensmittel und bewegen sich zu wenig. Die genetische Veranlagung wird in manchen Fällen auch eine Rolle spielen. Wichtig ist, dass die Eltern hier ihre Verantwortung wahrnehmen, dabei wollen wir sie unterstützen.

    Maywald: Kann es sein, dass die Lust an übermäßigem und gesundheitsgefährdendem Essen bei Kindern nur ein Anzeichen für ganz andere Probleme ist? Bewegungsmangel, Konflikte zwischen den Eltern, Stress schon in Kindergarten und Schule?

    Künast: Bewegungsmangel trägt sicher zur Entwicklung von Übergewicht bei. Bei manchen Kindern dient Essen auch als Trostpflaster für fehlende Zuwendung und Stress. Deshalb ist es wichtig, bei der Vorbeugung von Übergewicht ganzheitlich vorzugehen: eine ausgewogene Ernährung, ausreichend Bewegung sowie Stressbewältigung und ein insgesamt positives Lebensumfeld gehören zusammen. Übrigens, wer schon frühzeitig lernt, mit der Ernährung und dem eigenen Körper richtig umzugehen, ist viel weniger anfällig für Übergewicht oder andere Essstörungen. Dabei wollen wir die Eltern unterstützen.

    Maywald: Es ist bekannt, wie wichtig Erwachsene als Vorbilder für Kinder sind. Wenn man sich erwachsene Essgewohnheiten anschaut, so fällt auf, dass die Zeiten gemeinsamen Essens sogar in Familien immer kürzer werden. Fast Food ist auf dem Vormarsch. Wie beurteilen Sie diese Tendenz?

    Künast: In unserer Kampagne „Kinder und Ernährung“ geht es auch darum, den Kindern Lust auf gesunde Ernährung und Bewegung zu machen, und zwar ohne erhobenen Zeigefinger. Sie haben Recht, dabei ist das Vorbild der Erwachsenen besonders wichtig. Deshalb appelliere ich immer wieder an das Verantwortungsbewusstsein von Eltern und Erziehenden. Auch angesichts veränderter Lebens- und Arbeitssituation in vielen Familien ist es möglich, gemeinsame Mahlzeiten und auch gemeinsames Kochen zu organisieren.

    Maywald: Viele Firmen versuchen mit großem Aufwand, eigene Produktlinien für die Kleinen am Markt zu etablieren. Kinder übernehmen häufig kritiklos diese Werbebotschaften, obwohl bekannt ist, dass viele Produkte – Stichwort Zwischenmahlzeiten – aus ernährungswissenschaftlicher Sicht als bedenklich einzustufen sind. Welche Möglichkeiten sehen Sie, hier auf den Markt einzuwirken?

    Künast: Auch die Wirtschaft beteiligt sich an unsere Kampagne „Kinder und Ernährung“. Da wird es in den kommenden Monaten intensive, sicher nicht immer einfache Diskussionen geben. Denn dabei wird es z.B. darum gehen, bei manchen Lebensmitteln den Fettgehalt zu verringern, bei der Werbung sehr viel genauer zu arbeiten, insbesondere bei den sogenannten „Kinderlebensmitteln“, und nur dann mit Aussagen zur Gesundheitsförderung zu werben, wenn diese gerechtfertigt sind.

    Maywald: Das Thema „Kinder und Ernährung“ soll in den kommenden Jahren ein Aktionsschwerpunkt Ihres Ministeriums sein. Was sind die Ziele, wen wollen Sie ansprechen und welche Aktionen sind geplant?

    Künast: Ziel ist, die Ernährungssituation der Kinder in Deutschland zu verbessern. Wir wollen dabei sowohl bei der Verpflegung der Kinder als auch der Ernährungserziehung ansetzen. Außerdem wollen wir die Kinder zu mehr Bewegung ermutigen. Da wir nur etwas erreichen können, wenn wir alle Akteure einbeziehen, werden wir Vertreterinnen und Vertreter von Eltern, Schulen, Kindertagesstätten, Multiplikatoren im Gesundheitswesen, Sportvereinen, Wissenschaft, Ernährungswirtschaft und Medien und natürlich auch die Kinder selbst ansprechen. Die Aktionen werden gemeinsam mit allen Beteiligten in vier Arbeitsgruppen entwickelt, die am 9. Juli 2003 ihre Arbeit aufnehmen. Einige Initiativen laufen aber schon, wie zum Beispiel die Kampagne „FIT KID: Die Gesund-Essen-Aktion für Kitas“, die sich an Beschäftigte in Kindertagesstätten richtet.

    Maywald: Eine abschließende Frage zu Einfluss und Ohnmacht der Politik: In welchem Maße ist Ihrer Meinung nach Politik überhaupt in der Lage, das Verhalten von Menschen nachhaltig zu beeinflussen, zumal in einer so persönlichen Frage wie der des Essens?

    Künast: Verhalten zu ändern ist immer schwierig. Beim Essverhalten kommt hinzu, dass man die negativen Folgen einer unausgewogenen Ernährung nicht gleich, sondern erst in einigen Jahren oder Jahrzehnten zu spüren bekommt. Aber ich bin sehr zuversichtlich, dass wir mit der Kampagne „Kinder und Ernährung“ wesentlich zu einer Verbesserung des Ernährungsverhaltens und des Speisenangebots in Schulen und Kindertagesstätten beitragen können. Denn unsere Kampagne steht auf einer sehr breiten Basis, das verbessert die Erfolgschancen

  • fK 4/03 Bzga

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Materialien der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zum Thema Essstörungen

    Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) hat eine Internetadresse zum Thema Essstörungen eingerichtet: www.bzga-essstoerungen.de/
    Sie bietet Betroffenen, Angehörigen, Fachleuten und allgemein Interessierten eine Vielzahl von Informationen, Materialien und konkreten Hilfestellungen.

    Allgemeine Infos

    Einführung in das Thema Essstörungen, in der die Problematik, die Hintergründe, sowie die körperlichen, psychischen und sozialen Konsequenzen beleuchtet werden.
    „Eine ausgewogene, lustvolle Ernährung, viel Bewegung und eine stabile Psyche sind der Schlüssel.
    Sich selbst wieder liebevoll anzunehmen und die Verantwortung für sich zu übernehmen, auch für die Befriedigung seiner Bedürfnisse.“

    Essstörungen

    Unter dem Begriff Essstörungen versteht man im Wesentlichen vier Krankheitsbilder:
    Magersucht (Anorexia Nervosa), Ess-Brech-Sucht (Bulimia nervosa), Übergewicht und Adipositas, Latente Esssucht (Binge Eating Disorder). Auf diese vier Krankheitsbilder wird im Einzelnen eingegangen.

    Prävention

    Um langfristige Erfolge zu erzielen, ist es wichtig, viele Ebenen in die Präventionsarbeit einzubeziehen. Um Prävention auf möglichst breiter Basis stattfinden zu lassen, sollten neben den Kindern und Jugendlichen selbst, Eltern und andere Angehörige, Lehrer(innen) und Erzieher(innen), Trainer(innen) im Bereich Sport und Tanz sowie Mediziner(innen) in die Aufklärungs- und Präventionsarbeit mit einbezogen werden.

    Broschüren

    Essstörungen – Bulimie, Magersucht, Esssucht
    Zielgruppe: Betroffene und andere Interessierte, mit weiterführender Literatur
    Essstörungen – Leitfaden für Eltern, Angehörige, Partner, Freunde, Lehrer und Kollegen
    Infos über die Entstehungsgeschichte, Symptomatik und Folgeschäden von Essstörungen, Krankheitsbilder und therapeutische Möglichkeiten

    Essstörungen – Arbeit mit Selbsthilfegruppen
    Handbuch für Gruppenmoderator(inne)n
    Vorstellung von Modellen von Selbsthilfegruppen, mit Hinweisen für die praktische Arbeit

    Essstörungen, eine Information für Ärztinnen und Ärzte
    (Mitherausgeber: Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren)
    Definition und Beschreibung der Arten von Essstörungen, Möglichkeiten der Behandlung, Fachliteratur und wichtige Anschriften

    Gut-Drauf-Tipp: Die heimliche Sucht: Essstörungen
    Gut-Drauf-Tipp: Fitness, Sport, Body
    Gut-Drauf-Tipp: Immer Ärger mit der Schönheit
    Gut-Drauf-Tipp: Novel Food & Co
    Gut-Drauf-Tipp: Fast Food

    Zielgruppe aller Gut-Drauf-Tipps: 12-16jährige Jugendliche

    Schulmedien/Unterichtsmaterial:

    Naschen (Klassen 1 bis 4)
    Schulfrühstück (Klassen 1 bis 4)
    Ernährung und Gesundheit (Klassen 1.-4.)
    Ernährung und Gesundheit (Klassen 5.-10.)
    Essgewohnheiten (Klassen 5 bis 10)

    Filme

    Vier Kurzfilme für den Einsatz in der Schule
    „Zu dick? Zu dünn?“ TV –Serie (4 x 15 Minuten)
    Folge 1: Hauptsache schön.
    Folge 2: Essen, aber wie?
    Folge 3: Sich krank essen.
    Folge 4: Sich helfen lassen.

    Fortbildungsangebote

    Aufstellung der unterschiedlichen Fortbildungsmaßnahmen von Beratungsstellen, Kliniken, Universitäten und anderen Einrichtungen, nach Bundesländern geordnet

    Beratungsstellen

    Das von der BZgA herausgegebene „Adressverzeichnis: Beratung, Selbsthilfe, Therapie bei Essstörungen“ richtet sich vor allem an Hilfesuchende.

    Telefonberatung

    unter Tel.: 0221-89 20 31

    Fachleute informieren zu den unterschiedlichen Formen von Essstörungen. Sie stehen Betroffenen, Angehörigen oder Interessierten für eine individuelle Beratung zur Verfügung und bieten u.a. Unterstützung bei der Suche nach einer geeigneten Maßnahme zur Vorbeugung oder Behandlung einer Essstörung an.

    Weiterführende Literatur

    geordnet nach den Themenbereichen: Essstörungen allgemein, Esssucht, Latente Esssucht, Bulimie, Magersucht, Jugendbücher, Literatur für Betroffene, Eltern/ Lehrer/ Erzieher, Sozialisation/ Hintergrundliteratur, Sucht, Selbsthilfe, Material für die Arbeit mit Selbsthilfegruppen, Grundlagen für die Beratungstätigkeit.

    Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)

    Ostmerheimer Str. 220
    51109 Köln
    Tel.: 0221-8992-0
    Fax: 0221-8992-300
    E-Mail: poststelle@bzga.de

  • fK 4/03 Delekat

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Soziale Lage und Übergewicht

    Ein dickes Kind ist mehr als nur ein zu hoher Body Mass Index-Wert

    von Dietrich Delekat

    Übergewicht ist nach wie vor eines der größten gesundheitlichen Probleme in den Industrieländern weltweit. Dies gilt uneingeschränkt auch für Kinder. Diese Entwicklung ist besonders kritisch, denn zum einen legt Übergewicht in der Kindheit oft den Grundstein für Übergewicht im Erwachsenenalter und sorgt so für eine deutlich erhöhte Rate an Krankheit und vorzeitiger Sterblichkeit. Zum anderen gestaltet es die Jugendzeit dieser Kinder oft leidvoll; nicht nur durch die körperlichen und zunehmend auch gesundheitlichen Auswirkungen der Fettsucht, sondern besonders auch durch die zunehmende soziale Geringschätzung, die gerade Jugendliche besonders belastet.

    Die zunehmende Tendenz, nicht nur den bloßen BMI (Body Mass Index) zu konstatieren, sondern auch die sozialen Umstände mit einzubeziehen, die ihn beeinflussen, ist erfreulich und dringend notwendig. Denn es sind nicht mehr wie früher vorwiegend somatische gesundheitliche Störungen, die heute unsere Kinder in erster Linie gefährden. Die alten gesundheitspolizeilichen Betrachtungsweisen haben ausgedient; heute sind es vielmehr die sozialen, emotionalen, kognitiven und sprachlichen Defizite, die die Schwerpunkte bei der Entwicklung von Präventionskonzepten darstellen müssen.

    Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Lebenswirklichkeit, in der ein Kind aufwächst. Neben der sozialen Lage wird diese Wirklichkeit stark von der kulturellen Herkunft seiner Familie geprägt. Durch das neue Staatsangehörigkeitsgesetz werden in Berlin in wenigen Jahren etwa 90% der Schulanfänger türkischer Herkunft einen deutschen Pass besitzen. Alle Statistiken, die dann noch die formale Staatsangehörigkeit als Parameter verwenden, werden zu stark verzerrten Aussagen kommen, die die Lebensrealität der Kinder nicht treffen. Die Einschulungsuntersuchung in Berlin hat sich daher von diesem Parameter weitgehend verabschiedet und einen neuen Parameter „Herkunft“ konzipiert, der die frühere Aussagekraft wieder herstellt.

    So wissen wir nicht nur bloß, ob ein Kind dick ist. Wir erfahren auch, ob es in einer sozial benachteiligten Familie aufwächst, ob es bei beiden Eltern wohnt, und welcher Herkunft es ist. Wurde es bereits in Deutschland geboren? Haben sich die Eltern um die Impfungen und die Vorsorgeuntersuchungen gekümmert, ist Zähneputzen für sie wichtig? Sieht das Kind viel fern? Wie gut sind seine motorischen, sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten? Wenn es nichtdeutscher Herkunft ist, wie gut spricht es Deutsch, hatte es viel Kontakt zu herkunftsdeutschen Kindern? Wohnt es in einem Ballungsgebiet mit vielen Familien nichtdeutscher Herkunft oder unterer sozialer Schicht? Der BMI sagt uns etwas über den Fettgehalt des Körpers. Ein dickes Kind ist aber mehr als nur ein zu hoher BMI-Wert, und wenn wir Prävention mit Aussicht auf Erfolg betreiben wollen, dann müssen wir mehr von den Lebensumständen dicker Kinder wissen als nur diese Messgröße.

    2001 waren in Berlin 12,6% aller Einschüler/innen adipös. Hierbei haben wir die von der ECOG empfohlenen Grenzwerte von Rolland-Cachera zu Grunde gelegt, die die 97. Perzentile von Kindern der Fünziger- bis Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts repräsentieren. Die BMI-Werte, mit denen man damals zu den dicksten 3% gehörte, weisen also heute fast 13% aller Einschüler/innen auf.

    Interessant ist hierbei, dass nicht etwa alle Kinder gleichmäßig dicker geworden sind. Die 50. Perzentile – also der Median – hat sich im Vergleich zu damals praktisch nicht verändert, sondern nur die 90. und die 97. Perzentile, die merklich bzw. sehr deutlich über den damaligen liegen.

    Es wird also deutlich, dass ein gewaltiger Anstieg des Anteils von sehr dicken Kindern stattgefunden hat. Analysiert man die verschiedenen Einflüsse auf die Adipositasrate genauer, so erweist sich, dass dies in Berlin vor allem drei Parameter sind, nämlich Herkunft, soziale Schicht und Geburtsgewicht. Nach unseren neueren Erhebungen, die wir noch nicht publiziert haben, kommen als weitere, starke Faktoren noch der Konsum elektronischer Medien und Motorikdefizite hinzu.

    Für uns war nicht die (formale) Staatsangehörigkeit, sondern die Herkunft der Kinder maßgeblich. Als aussagekräftig hat sich dabei die Differenzierung in Kinder aus der Türkei, dem ehemaligen Ostblock und aus westlich geprägten Industriestaaten erwiesen (Abbildung 1). Die Kinder mit deutschem Pass wurden unterteilt in „Herkunftsdeutsche“, „eingebürgerte Deutsche“, und „Deutsche anderer Herkunft“. Letzteres waren Kinder, die nicht eingebürgert waren, aber nur fehlerhaft Deutsch sprachen, also offensichtlich aus einem anderen Kulturkreis stammten. In den Erhebungen ab 2002 wird die Herkunft auf den Kulturkreis gestützt, was gegenüber der obigen Konstruktion eine deutliche Verbesserung darstellt. Die entsprechenden Zahlen werden bald publiziert werden.

    (Abbildung 1)

    Nun wird deutlich, dass die erwähnten 12,6% einen Durchschnitt von sehr heterogenen Gruppen darstellen. Die Herkunftsdeutschen liegen bei 10,6%, während die türkischen Kinder fast 23% erreichen.

    Der Einfluss des Geburtsgewichtes in Abbildung 2 dargestellt, aufgeschlüsselt nach den größeren Herkunftsgruppen.

    (Abbildung 2)

    Man beachte, dass die maximale Bandbreite hier auf rund 5% bis 23% gestiegen ist. Und wichtig ist auch: Das Diagramm stellt einen statistischen Zusammenhang dar, es beweist keine Kausalität! Speziell beim Geburtsgewicht sind die Zusammenhänge komplex.

    Bei der Darstellung der sozialen Schicht (Abbildung 3) wurde eine Einteilung in drei Gruppen vorgenommen. Es fällt auf, dass ein signifikanter Zusammenhang nur in der Gruppe der Herkunftsdeutschen besteht. Von der Gruppe der türkischen Kinder wissen wir, dass auch bei anderen Themen (Impfen, Vorsorgeuntersuchungen etc.) in keinem Fall ein Einfluss der sozialen Schicht vorhanden war. Bei den Herkunftsdeutschen ist interessant, dass der Abstand der oberen zur mittleren Schicht viel größer ist als zwischen der mittleren und der unteren.

    (Abbildung 3)

    Aus der Vielzahl der möglichen Fragen und Hypothesen – die sich aber auch noch auf weitere, hier nicht erwähnte Daten stützen können – seien hier nur einige wenige exemplarisch vorgestellt:

    • Der Durchschnittswert von 12,6% hat allenfalls epidemiologische Bedeutung, da er aus sehr heterogenen Gruppen gebildet wird
    • Die Deutschen nichtdeutscher Herkunft liegen mit ihrer Rate genau zwischen den herkunftsdeutschen und den türkischen Kindern. Ein sehr großer Teil von ihnen wird auch türkischer Herkunft sein. Türkische Familien, die Deutsche geworden sind, unterscheiden sich offenbar deutlich von ihren Landsleuten. Hat dies soziologische Gründe, ist die Ernährung anders? Hier ist auch ein Zugang zur Ätiologie von Adipositas gegeben.
    • Soziale Schichtunterschiede wirken sich nur bei Herkunftsdeutschen aus. Besteht bei den anderen Gruppen ein kultureller Einfluss über alle sozialen Differenzen hinweg, der mit seiner prägenden Kraft alles überlagert? Bezieht sich dieser Einfluss hauptsächlich auf die Ernährung oder auf andere Faktoren?
    • Bei allen Gruppen besteht ein deutlicher Zusammenhang mit dem Geburtsgewicht. Eine Kausalität ist damit keinesfalls bewiesen, aber ist es ein Hinweis auf die Größe der Rolle, die ererbte Faktoren bei der Entstehung der Adipositas spielen?
    • Die Bandbreite der Rate von Adipositas reicht von etwa 5% bis 28%. Kann eine solche Differenz mit einer gleich großen Bandbreite an Ernährung erklärt werden?

    Vor allem die letzte Frage ist interessant. Die reflexartige Forderung bei erschreckenden kindlichen Adipositasraten ist die nach „gesundem Essen“. Dagegen ist natürlich prinzipiell nichts zu sagen, aber auch die gesündeste Biokost kann gegen die Verbreitung von Fettsucht wenig ausrichten, wenn die Ursachen woanders liegen. Es gibt Studien, die keinen Zusammenhang zwischen Süßigkeitenkonsum und Fettsucht finden, wenn man die anderen Faktoren herausrechnet. Unsere Untersuchungen geben deutliche Hinweise auf den großen Einfluss von sozialen, kulturellen und ererbten Faktoren. Zweierlei wird deutlich: Angesichts der großen Heterogenität in Bezug auf Adipositas zwischen verschiedenen Gruppen wird ein monokausaler Ansatz – wie zum Beispiel die erwähnte Biokost – kaum erfolgreich sein. Und für die Entwicklung von Präventionsstrategien ist eine differenzierte Gesundheitsberichterstattung, die in einem dauernden Verbesserungsprozess die relevanten Parameter der Lebenswirklichkeiten von Kindern erfasst, unabdingbar.

    Die vollständige Fassung ist über die Geschäftsstelle erhältlich.

    Dietrich Delekat ist Facharzt für Kinderheilkunde und Autor des Spezialberichts der Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz in Berlin 2003-2 „Zur gesundheitlichen Lage von Kindern in Berlin – Ergebnisse und Handlungsempfehlungen auf Basis der Einschulungsuntersuchungen 2001“

    Der Bericht ist im Internet zu finden unter: www.berlin.de/sengessozv/statistik/
    veroeffentlichungen/spezialberichte/
    veroef_spezial.html

  • fK 4/03 Hermanussen

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Wir brauchen ein zentrales Institut für Kinderprävention

    Vorsorgemaßnahmen haben eine wachsende Bedeutung für die Lebensqualität

    Jörg Maywald im Gespräch mit Michael Hermanussen

    Maywald: Zu Ihrem Alltag als Kinder- und Jugendarzt gehört die Durchführung der gesetzlichen Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern von der Geburt bis zum Jugendalter, den Eltern bekannt durch das Gelbe Vorsorgeheft mit den Untersuchungen U1 bis U9 und J1. Was leistet dieses in Deutschland seit langem etablierte Präventionsprogramm und wo liegen die Schwächen?

    Hermanussen: Vorsorgeuntersuchungen bieten den Eltern Gelegenheit, mit einem kompetenten Arzt die Entwicklung ihres Kindes zu erörtern. Fragen zu Ernährung, Sozialisation und Familie können in einem breiteren Rahmen besprochen werden, als dies in der Sprechstunde anlässlich einer aktuellen Erkrankung möglich ist.

    Allerdings zeigt das Vorsorgeprogramm eine Reihe von Schwächen. Das Untersuchungsangebot wird nicht von allen Eltern wahrgenommen. Gerade Kinder aus sozial problematischen Familien werden oft nicht vorgestellt. Die einzelnen Untersuchungen sind wenig standardisiert, d.h. es ist der Erfahrung des einzelnen Arztes überlassen, wie und was untersucht und mit den Eltern besprochen und dokumentiert wird. Weil nicht nur Kinderärzte, sondern in mehr ländlichen Gebieten auch zahlreiche Allgemeinärzte und Internisten Vorsorgeuntersuchungen vornehmen müssen, schwankt die Qualität der Vorsorge. Studien zur Qualitätssicherung zeigen, dass sich Vorsorgeuntersuchungen auch deshalb schwer auswerten lassen, weil der für die Statistik vorgesehene Bogen im Gelben Vorsorgeheft nicht immer vollständig ausgefüllt ist. Dies mag weniger an mangelnder Sorgfalt der Ärzte liegen als daran, dass viele Eltern glauben, eine Dokumentation von Auffälligkeiten könne nachteilig für ihr Kind sein. Aus diesem Grund werden Auffälligkeiten zwar mit den Eltern besprochen, aber wegen möglicher Empfindlichkeiten nicht ins Gelbe Vorsorgeheft eingetragen.

    Abhilfe bietet z.B. das in der Schweiz seit langem eingeführte System, das eine Trennung zwischen Dokumentation und Statistik vorsieht. Auffälligkeiten können dort ohne Nachteile für die Eltern oder das Kind anonym eingetragen werden. Das Gelbe Vorsorgeheft wird derzeit überarbeitet und wird hoffentlich eine Lösung dieses Problems anbieten.

    Maywald: Immer wieder einmal wird gefordert, das bestehende System auszubauen und zu verbessern, zum Beispiel durch die Erhebung psychosomatischer und psychosozialer Daten.
    Was halten Sie von diesen Vorschlägen?

    Hermanussen: Neben der Erfassung angeborener oder erworbener organischer Schäden stehen heute zunehmend Funktionen im Vordergrund des Interesses, die sich auf die Qualität der Entwicklung motorischer Fähigkeiten, der sinnlichen Wahrnehmung und Verarbeitung sowie der Sprachentwicklung beziehen. Dies ist deshalb so bedeutsam, weil bei Vorliegen von Entwicklungsstörungen das Zeitfenster für die erfolgreiche Behandlung solcher Störungen begrenzt ist. Dabei gilt, der Erfolg ist um so besser, je früher die Behandlung einsetzen kann. Ferner zeigt die Erfahrung, dass etwa 20 Prozent der Erkrankungen, die in einer Kinderarztpraxis vorgestellt werden, psychosomatischer Natur sind.

    Leider sind anlässlich einer Vorsorge die psychosozialen Daten nicht nur aufwändig zu erheben, ihre Aussage- und Vorhersagekraft für die Entwicklung des einzelnen Kindes ist nicht sehr groß. Viele Kinder aus ungünstigen Verhältnissen entwickeln sich oft ganz unproblematisch, während manche Kinder aus einem scheinbar wohlgeordneten Umfeld eine unerwartet problematische Entwicklung zeigen. Hier sind noch viele wissenschaftliche Studien notwendig.

    Maywald: Das deutsche Vorsorgesystem baut darauf, dass die Eltern mit ihrem Kind zum Arzt gehen und die Untersuchungen in Anspruch nehmen. Es ist bekannt, dass mit wachsendem Alter der Kinder die Inanspruchnahme erheblich abnimmt. Wäre es nicht sinnvoll, die bestehende Komm-Struktur durch eine Geh-Struktur zu ergänzen, zum Beispiel durch eine Verknüpfung mit dem öffentlichen Gesundheitssystem?

    Hermanussen: Gerade angesichts der landesweiten Impfmüdigkeit erscheint eine Geh-Struktur erfolgversprechender als eine Komm-Struktur. Der öffentliche Gesundheitsdienst ist wohl grundsätzlich in der Lage, Vorschulkinder in den Kindergärten und Jugendliche in der Schule aufzusuchen, doch erscheint es mir fraglich, ob solche Vorschul-/Schuluntersuchungen das Gespräch und die Untersuchung durch den Arzt des Vertrauens ersetzen können. Ich sehe viele Jugendliche in der Praxis, die sich anlässlich von Schuluntersuchungen nicht einmal durch den Kollegen des Gesundheitsamtes impfen lassen wollen.

    Maywald: Eine ganz andere Möglichkeit, das Vorsorgebewusstsein zu stärken, besteht darin, Eltern und auch die Kinder selbst mehr als bisher an der Vorbeugung und Früherkennung von Krankheiten zu beteiligen. Ein Beispiel hierfür ist das „elektronische Früherkennungsprogramm“ zur Selbstkontrolle der longitudinalen Entwicklung von Körperhöhe und Körpergewicht, das unter www.willi-will-wachsen.de im Internet abgerufen werden kann. Wie beurteilen Sie diesen Ansatz?

    Hermanussen: Man schätzt, dass zur Zeit etwa ein Drittel der Eltern die Möglichkeit hat, das Internet zu nutzen. Das sind sicherlich noch deutlich weniger als die, die augenblicklich die konventionelle Vorsorgeuntersuchung aufsuchen. Aber die Eigeninitiative heutiger Eltern ist nicht zu unterschätzen, und sie werden sich gern eines solchen Angebots bedienen. Zur Zeit ist die Selbstkontrolle der kindlichen Entwicklung durch das von Ihnen genannte elektronische Früherkennungsprogramm noch in den Kinderschuhen und auf die Beurteilung von Körperhöhe und Körpergewicht beschränkt. Es fehlen nicht nur differenzierte Hinweise für die Eltern, es fehlen auch alle weiteren Aspekte der kindlichen Entwicklung wie Fragen nach motorischen Fähigkeiten, nach sinnlicher Wahrnehmung und Verarbeitung, Sprachentwicklung und sozialen Eigenschaften. Aber dieses Internet-Instrument kann erweitert werden und eröffnet dann vollkommen neue Möglichkeiten. Dann können Vorsorgen nicht nur zu beliebigen Zeitpunkten – also auch deutlich engmaschiger als zur Zeit vorgesehen – und völlig unkompliziert von zu Hause aus durchgeführt werden, es lassen sich die Vorsorgen auch deutlich besser standardisieren. Natürlich wird ein solches System nicht die ärztliche Untersuchung ersetzen können, aber es kann eine vorgeschaltete Filterfunktion übernehmen, die den Blick schärfen hilft für die Kinder, die möglicherweise gefährdet sind, mehr Betreuung brauchen und einem Arzt früher als im Untersuchungsheft vorgesehen vorgestellt werden sollten.

    Maywald: Sie setzen sich – zusammen mit anderen – für die Gründung eines Deutschen Zentrums für Kinderprävention ein und haben ein entsprechendes Konzept vorgelegt. Welche Erwartungen verbinden Sie damit?

    Hermanussen: Vorsorgemaßnahmen haben eine wachsende Bedeutung für die Lebensqualität und die medizinische Versorgung unserer Kinder. Aber es werden weder die Kosten noch das Leistungsspektrum und die Qualität dieser Maßnahmen hinreichend wissenschaftlich geprüft, Wir brauchen also eine kleine, aber wirksame, erfolgsorientierte und vor allem kostenbewusste Einrichtung, um die Qualität heutiger Vorsorgen zu prüfen und zu verbessern.

    Damit erlangt das geplante Projekt eine wesentliche Bedeutung für die weitere Ausrichtung der Vorsorgemedizin in Deutschland. Insbesondere unter Nutzung der gegenwärtigen Möglichkeiten elektronischer Medien erscheint es zukunftsträchtig, dem technologischen Fortschritt angepasste Lösungen zu entwickeln, die eine echte Verbesserung und Alternative zum herkömmlichen Vorsorgeprogramm bieten. Es bedarf hierzu eines zielgerichteten Austausches sowie einer verstärkten Kooperation zwischen den Fachdisziplinen. Dies könnte eine sehr wesentliche Koordinierungsaufgabe sein, die ein Deutsches Zentrum für Kinderprävention übernehmen sollte.

    Maywald: Übergewicht gilt als die häufigste ernährungsbedingte Gesundheitsstörung bei Kindern in Deutschland. Einmal angenommen, ein zentrales Institut für Kinderprävention würde Wirklichkeit werden. Was könnte das Zentrum in dieser Frage bewirken?

    Hermanussen: Obgleich sich die Ernährung von Kindern und Jugendlichen in den vergangenen Jahren erheblich geändert hat, werden die Dokumentation von Ernährungsgewohnheiten und Gewichtsentwicklung und die Ernährungsberatung – abgesehen von der Säuglingszeit – in der Vorsorge weitgehend vernachlässigt. Gerade die frühkindliche Ernährung und die Gewichtsentwicklung in der Vorschulzeit sind aber für das spätere Auftreten von chronischer Überernährung und den damit eng verbundenen Gesundheitsstörungen bedeutungsvoll.

    Infolge falscher Ernährungs- und Lebensgewohnheiten sehen wir zunehmend erheblich übergewichtige Kinder und Jugendliche und eine erkennbare Zunahme von arteriellem Hochdruck, orthopädischen Problemen und Typ-2-Diabetes, der bisher nur als Altersdiabetes bekannt war. Wenn sich diese Entwicklung fortsetzen sollte, so ist hochgerechnet worden, dass in Zukunft bis zu 50 Prozent der erwachsenen Bevölkerung einen Diabetes entwickeln könnten – ein erschreckendes Ergebnis, was nicht nur Lebensqualität und Lebensdauer erheblich beeinträchtigt, sondern auch mit unüberschaubaren Anforderungen an unser Gesundheitssystem einher gehen wird. Hier brauchen wir dringend eine zentrale Institution, die die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Fachdisziplinen und Institutionen, die sich mit diesem Problemkreis wissenschaftlich beschäftigen, erfolgsorientiert und kostenbewusst verbessert.

    PD Dr. Michael Hermanussen ist Kinder- und Jugendarzt in Gettorf

  • fK 4/03 Klett

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Diabetes (Typ 2) bei Kindern und Jugendlichen

    Als direkte Folge chronischer Überernährung und körperlicher Inaktivität ist in Industrienationen die Gesundheit der heranwachsenden Generation bedroht

    von Martin Klett

    Veränderungen von Lebensweise und Ernährungsgewohnheiten führen nach neuesten wissenschaftlichen Beobachtungen bereits bei Kindern zur Ausbildung der durch Überernährung auslösbaren Zuckerkrankheit. Diese Form der Erkrankung wird üblicherweise als Typ 2 Diabetes bezeichnet und war bislang nur als so genannte „Altersdiabetes“ bekannt. Mehrere wissenschaftliche Arbeitsgruppen aus Europa und den USA haben mittlerweile Studienergebnisse vorgelegt, die keine Zweifel an einem engen Zusammenhang zwischen chronischer Überernährung, körperlicher Inaktivität und der zunehmenden Erkrankungshäufigkeit an Typ 2 Diabetes mehr aufkommen lassen.

    Wie entsteht Typ 2 Diabetes ?

    Während der Typ 1 Diabetes oder Insulinmangeldiabetes auf einen Verlust der Fähigkeit der insulinproduzierenden Beta-Zellen in der Bauchspeicheldrüse zurückgeht, ist der Typ 2 Diabetes in Folge der Überernährung durch eine erhöhte Insulinproduktion gekennzeichnet, die gepaart ist mit einer Störung der Glucose-Regulation auf zellulärer Ebene, die als Insulinresistenz bezeichnet wird. Dabei verliert der Körper die Fähigkeit, überschüssige Glucose in energiereicheres Fett umzuwandeln, das in Depotform im Fettgewebe abgelagert wird. Ist die Umwandlung von Glucose in Fett gestört, überschreitet der Blutzuckerwert die Normgrenzen, was als Überzuckerung bezeichnet wird. Der Körper hat dann nur noch die Möglichkeit, sich des überschüssigen Zucker durch Ausscheidung im Urin zu entledigen. Dauerhaft erhöhte Blutzuckerspiegel führen ihrerseits zu schweren Folgeschäden wie Bluthochdruck, Fettstoffwechselstörungen und Arteriosklerose, die wiederum gehäuft Schlaganfälle und Herzinfarkte nach sich ziehen. Diese, das Leben noch junger Menschen bedrohende Kaskade krankhafter Störungen, kann sehr wohl verhütet werden, wenn es gelingt, die Nahrungszufuhr auf das notwendige Maß und die richtigen Inhalte zu begrenzen und gleichzeitig die körperliche Inaktivität aufzuheben.

    Warum greifen Überernährung und körperliche Inaktivität immer mehr um sich?

    Die moderne Industriegesellschaft zeichnet sich durch Entwicklungen aus, die das menschliche Leben erleichtern und vereinfachen. Die zur Führung eines Haushalts notwendige körperliche Belastung hat sich durch den Einsatz von Maschinen und neuen Technologien drastisch vermindert. Vergleichbares gilt für die körperlichen Anforderungen in Schule, Berufsausbildung und Berufsausübung. Gleichzeitig stehen wir einem wachsenden Angebot industriell vorgefertigter Nahrungsmittel gegenüber, die den Konsum durch einfache Zubereitung wohlschmeckender Gerichte erleichtern. Auch als Zwischenmahlzeiten stehen in großer Zahl leicht verfügbare Nahrungsmittel und zuckerhaltige Getränke zur Verfügung. Die leichte Zugänglichkeit und kaum begrenzte Verfügbarkeit wohlschmeckender Lebensmittel setzt Anreize zu unkontrolliertem Konsum, den vor allem Kinder kaum zu steuern in der Lage sind.

    Gleichzeitig entfällt die zum Ausgleich des kalorischen Überangebots angemessene körperliche Bewegung. Anstatt zu Fuß oder mit dem Fahrrad in die Schule oder ins Büro zu fahren, nutzen die meisten Menschen ihren PKW oder öffentliche Verkehrsmittel. Das natürliche körperliche Training entfällt und kann auch durch Fitnessangebote nur unvollständig kompensiert werden. Auch die nach der Schule früher übliche Betätigung auf Spielplätzen oder Sportfeldern ist mittlerweile weitgehend „ersetzt“ durch Videospiele am Computer oder mit dem Joystick. Die Energiebilanz weist daher immer stärker in die Richtung einer chronischen kalorischen Überernährung. Die Alarmglocken läuten, wenn das Körpergewicht bereits bei Kindern die Marge Übergewicht oder Adipositas (Fettsucht) erreicht oder überschreitet. Erfolgt keine Gegenmaßnahme, mündet das Leben in dauerhafte Krankheit mit allen Folgen und Einschränkungen eines chronischen Siechtums.

    Welchen Ausweg sieht die Wissenschaft?

    Wenn der bestehende Trend zu Überernährung und Bewegungsmangel sich ungebremst fortsetzt, so argumentieren Experten, wird die Wohlstandskrankheit Typ 2 Diabetes in 30 Jahren jeden zweiten Bürger betreffen. Die Auswirkungen auf die Lebensqualität der von Diabetes betroffenen Personen sind erheblich und ziehen Folgekosten nach sich. Die ohnehin schon angespannte wirtschaftliche Situation in der Gesundheitsversorgung würde dann zum Zusammenbruch unseres Sozialsystems führen. Es ist daher unausweichlich, möglichst rasch und intensiv bevölkerungswirksame Programme zu entwickeln, um die prognostizierte Entwicklung zu verhindern.

    Die Lösung des Dilemmas kann allerdings nicht in der lebenslangen Behandlung mit Medikamenten liegen, sondern muss vielmehr bereits präventiv durch Änderung von Ernährung und Lebensführung erreicht werden. Programme zur Bekämpfung von Übergewicht und Typ 2 Diabetes müssen deshalb im Kindesalter einsetzen, weil nur dort die Möglichkeit besteht, Ernährungsverhalten zu prägen, um die Entwicklung von Übergewicht zu verhüten. Es müssen daher möglichst frühzeitig präventiv wirksame Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten eingeübt werden, die eine dauerhafte Lenkung von Ernährung und körperlicher Bewegung gewährleisten.

    Welche Anforderungen muss ein Programm erfüllen, das so hoch gesteckte Erwartungen befriedigen soll?

    Die Entstehungsgeschichte des Typ 2 Diabetes zeigt, dass die Fehlentwicklung entstanden ist, weil der Mensch angestammte Lebens- und Bewegungsabläufe durch Einführung neuer der Lebenserleichterung dienender Techniken verändert hat, ohne deren Folgen einer Abschätzung zu unterziehen. Das ist vergleichbar mit der Entscheidung, auf einen Hochwasserdamm zu verzichten, weil übersehen wurde, dass durch die Fertigstellung einer Flussbegradigung das Überschwemmungsrisiko zunehmen wird.

    Da angestammte Lebensgewohnheiten nicht ohne Weiteres änderbar sind, müssen Erkenntnisse und Techniken aus der Verhaltenspsychologie eingesetzt werden, die wiederum einer pädagogischen Vermittlung gewohnheitsbildender Maßnahmen bedürfen. Der Einsatz dieser, auf Veränderung der Lebensführung abzielenden Maßnahmen bedarf einer begleitenden Evaluation, die sowohl die Auswirkungen auf das Verhalten als auch epidemiologische und medizinische Aspekte bewertet. Inhaltlich handelt es sich somit um ein interdisziplinär anzugehendes Problem, das den Einsatz entsprechender Module aus dem psychologischen, pädagogischen, medizinischen und epidemiologischen Bereich erfordert.

    Wie werden die erzielbaren Erfolge aus heutiger Sicht eingeschätzt?

    Mittlerweile liegen die Ergebnisse verschiedener internationaler Studien aus China, Finnland, den USA und Deutschland vor. Sie weisen Ergebnisse auf, deren Erfolgsrate mit einer Absenkung des Typ 2 Diabetes um 30% bis 58% angegeben wird. Wesentlich erscheint in diesem Zusammenhang, dass die Wirksamkeit einer so genannten „Lifestyle-Intervention“ wissenschaftlich nachgewiesen ist.

    Es geht daher vorrangig um die sachgerechte Konzeption eines wirksamen Interventionsprogrammes. In Heidelberg wird derzeit eine Interventionsstudie bei Schülern vorbereitet. Sie umfasst die Ausbildung von Lehrkräften in den Techniken, die geeignet sind, Verhaltensänderungen herbeizuführen und Lifestyle-Modifikationen zu verankern. Gleichzeitig erfolgen Seminarangebote über ausgewogene, kalorisch angepasste Ernährung. Ein begleitendes Programm der zur täglichen Gewohnheitsbildung anregenden körperlichen Bewegung ist ebenso erforderlich wie die Einbeziehung der Eltern, die im familiären Umfeld für entsprechende Rahmenbedingungen sorgen müssen. Es wird darauf ankommen, die aus einer solchen breit angelegten Pilotstudie gewonnenen Erkenntnisse allen mit der Erziehung befassten Personen zugänglich zu machen und bundesweit für einschlägige Aktivitäten zu sorgen.

    Prof. Dr. Martin Klett ist Leiter des Gesundheitsamtes Rhein-Neckar-Kreis

  • fK 4/03 Koletzko

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Fett macht unsere Kinder fett

    Ernährung im Kindesalter: wie kann Übergewicht vorgebeugt werden?

    von Berthold Koletzko

    Nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern und Jugendlichen nehmen Häufigkeit und Schweregrad von Übergewicht und Adipositas in alarmierender Weise zu. Bereits im Grundschulalter finden wir eine Häufigkeit übergewichtiger Kinder größer als zehn Prozent, mit von Jahr zu Jahr steigender Tendenz.

    Auch wenn das Risiko des Einzelnen für die Entwicklung von Übergewicht wesentlich von der genetischen Veranlagung abhängt, bleibt die Lebensweise entscheidend: Übergewicht entwickelt sich, wenn die Energiezufuhr dauerhaft den Energieverbrauch überschreitet. Eine zunehmend sitzende Lebensweise mit geringer körperlicher Aktivität auch bei Kindern – mit niedrigem Energieverbrauch, niedriger Muskelmasse und geringer Fettverbrennung – ist entsprechend ein wesentlicher Risikofaktor für Übergewicht. Bei Grundschulkindern, die täglich mehr als zwei Stunden fernsehen oder Elektronikspiele benutzen, finden wir 1,7fach häufiger Übergewicht.

    Gleichzeitig unterliegt die Ernährungsweise bei Kindern deutlichen Veränderungen. Gemeinsame Mahlzeiten am Familientisch mit Verzehr selbst zubereiteter Produkte werden zunehmend durch Gelegenheitskonsum und Verzehr von Fertigprodukten ersetzt, z.B. durch in der Schule, in der Freizeit und beim Fernsehen nebenbei verzehrte kaloriendichte Snacks. Sozialer Kontext, kulturelle Traditionen und zeitliche Intervalle des Essens drohen in den Hintergrund zu geraten. Bei Fertigprodukten besteht ein beunruhigender Trend zu steigenden Portionsgrößen. In den USA nahm der Energiegehalt pro Portion über zwei Jahrzehnte deutlich zu: bei salzigen Snacks um 93 kcal, Hamburgern um 97 kcal, Pommes Frites um 68 kcal und Limonadegetränken um 49 kcal. Mit dem Angebot größerer Portionen nehmen Kinder in Studien deutlich mehr Energie zu sich. Problematisch ist auch der hohe Fettverzehr, der bei Kindern in Deutschland 40% der Nahrungskalorien beiträgt. Fett enthält pro Gramm ca. 2,3fach mehr Energie als Kohlenhydrate (Stärke und Zucker) oder Eiweiss, so dass fettreiche Lebensmittel regelmäßig mehr Kalorien pro Portion enthalten. Zudem ist die Sättigung pro Kalorie bei Fett geringer. Fettreiche Nahrung (z.B. Pommes statt Kartoffeln) führt deshalb deutlich mehr Energie zu. In Populationsstudien nimmt bei Kindern und bei Erwachsenen mit höherer Fettzufuhr das Risiko für Übergewicht zu. Dagegen tritt bei höherem Kohlenhydratverzehr seltener Übergewicht auf, wobei es für die Gewichtsentwicklung von untergeordneter Bedeutung ist, ob mehr Stärke oder mehr Zucker gegessen wird.

    Einfach gesagt gilt also: Fett macht unsere Kinder fett. Eine reduzierte Fettzufuhr mit der Nahrung ist praktisch machbar und wirksam, wie das verhaltenstherapeutische Lernprogramm PowerKids für übergewichtige Kinder zeigt (www.powerkids.de). Hier erlernen Kinder mit Fettzie-Punkten spielerisch den Fettgehalt von Lebensmitteln und essen weniger Fett. Sie erreichen damit einen allmählichen aber nachhaltigen Rückgang ihres Übergewichtes.

    Eine wirksame Vorbeugung von kindlichem Übergewicht gelingt durch regelmäßige Bewegung sowie bevorzugte Auswahl kohlenhydratreicher Speisen mit begrenzter Energiedichte. Empfehlenswert sind reichlich Gemüse und Obst, wie es die Kampagne „Fünf am Tag“ empfiehlt, reichlich Getreideprodukte, und Zurückhaltung bei fetten Speisen. Verbote sind auch bei Kindern nicht nützlich. Hilfreich sind ein attraktives Angebot kindgerechter Speisen zu Hause und in der Gemeinschaftsverpflegung, sowie die Belebung einer gemeinschaftlichen Esskultur.

    Der Beitrag ist die Kurzfassung eines Vortrags auf dem Kongress „Kinder und Ernährung“ am 8.7.2003 in Berlin. Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

    Univ.-Prof. Dr. med. Berthold Koletzko ist Hochschullehrer am Dr. von Haunerschen Kinderspital im Klinikum der Universität München

  • fK 4/03 Kahl

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Übergewicht und Fettsucht im Kindes- und Jugendalter

    von Hermann-Josef Kahl

    In den letzten 10-15 Jahren hat es eine dramatische Zunahme von Kindern mit Übergewicht und Adipositas (Fettsucht) gegeben. So zeigen Wachstums- und Gewichtskurven aus den 1990er Jahren, dass ca. 10% bis 20% der Kinder übergewichtig bzw. fettsüchtig geworden sind.

    Immer dann, wenn die Kinder und Jugendlichen in dem so genannten Körpermasse-Index – auch Body-Maß-Index (BMI) genannt – über der 90. Perzentile ihres Alters liegen, sprechen wir von Übergewicht. Liegen sie dort über der 97. Perzentile, sprechen wir von Adipositas. Entscheidend zur genauen Beurteilung sind die Perzentilen-Kurven, die aus der Zeit vor den 1990er Jahren stammen, denn sie zeigen uns frühzeitig und präzise den Zeitpunkt einer möglichen therapeutischen Intervention an. Die Berechnung des Körpermasse-Index erfolgt über das Körpergewicht dividiert durch Körperlänge in m².

    Welches sind die Ursachen des Übergewichtes?

    Wir wissen heute, dass die Kinder und Jugendlichen sich viel weniger bewegen als in früheren Zeiten. Sportuntersuchungen machen deutlich, dass bestimmte Bewegungen heute schlechter durchgeführt werden als das früher der Fall war (z.B. Springen aus dem Stand, Purzelbaum usw.). Offensichtlich verbringen die Kinder auf Grund von fehlenden Spielplätzen in der Nähe ihrer Wohnung mehr Zeit zu Hause und sitzen möglicherweise auch zu viel vor dem Fernseher bzw. Computer. Ein zweiter Grund liegt natürlich in den falschen Essgewohnheiten, die in den letzten Jahren einen Wandel erfahren haben: Kinder essen mehr kalorienreiche Fastfood-Produkte als früher und weniger Obst und Gemüse, außerdem trinken sie häufig kalorienreiche, zuckerhaltige Limonadengetränke. Darüber hinaus gibt es sicher einen genetischen Zusammenhang, denn wir wissen, dass Kinder von übergewichtigen Eltern häufiger als andere ebenfalls ein Übergewicht oder Adipositas entwickeln.

    Welches sind die gesundheitlichen Folgen von Übergewicht?

    Langfristig werde die Kinder und Jugendlichen häufiger mit Erkrankungen des Bewegungsapparates zu rechnen haben, da die Belastung der Muskeln, Bänder und Gelenke durch das Übergewicht natürlich größer ist. Außerdem ist bekannt, dass Herz-Kreislauferkrankungen mit den Folgen des Herzinfarktes, des Bluthochdruckes usw. häufiger auftreten. Darüber hinaus entwickeln sie häufiger einen Diabetes mellitus, wiederum eine Erkrankung mit vielen Gefahren. Nicht unterschätzt werden darf allerdings auch die psychische Seite, denn übergewichtige Kinder und Jugendliche leiden gehäuft unter gestörter Körperwahrnehmung sowie unter einem mangelnden Selbstbewusstsein, sind häufiger ängstlich, depressiv und werden von ihrer Umgebung geärgert und gehänselt und von sportlichen Dingen ausgeschlossen.

    Was werden wir als Vorbeugung bzw. Therapie in dieser Angelegenheit unternehmen?

    Wir werden in Zukunft in der Lage sein, bei den Vorsorgeuntersuchungen den Eltern, Kindern und Jugendlichen altersbezogene Ernährungsratschläge mitzugeben. Außerdem werden wir diejenigen Kinder, die in den Vorsorgeuntersuchungen als übergewichtig oder adipös erfasst worden sind, einer genauen Untersuchung zuführen. Dabei gibt es verschiedene therapeutische Interventionen, die aber alle darauf hinauslaufen, langfristig das Gewicht des Kindes zu senken; dabei ist die Zusammenarbeit zwischen Ärzten, Psychologen, Ernährungsberatern und Sportpädagogen sinnvoll. Die ganze Familie muss in ein solches Programm, das sehr lange dauert, einbezogen werden. Erfahrungsgemäß handeln die Kinder am besten, wenn sie in eine so genannte Gruppentherapie eingebunden worden sind.

    Leider haben trotz guter Ergebnisse von Therapieprogrammen noch lange nicht alle Krankenkassen eine Kostenübernahme für solche Familien bereitgestellt. Wir hoffen, dass wir in weiteren Verhandlungen erfolgreich sein werden; denn auch die Krankenkassen erkennen, dass die dramatischen Zunahmen des Gewichts langfristig die Kosten im Gesundheitswesens erheblich in die Höhe treiben werden.

    Dr. Hermann-Josef Kahl ist Kinder- und Jugendarzt und Kinderkardiologe in Düsseldorf

  • fK 4/03 Chilt

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Altersleiden bei Grundschülern?!

    Ergebnisse der CHILT-Studie zu Haltungsschäden bei Kindern

    Immer mehr Kinder in Deutschland leiden bereits im Grundschulalter unter Beschwerden, die eigentlich typischerweise als „Alterserscheinungen“ gelten wie z.B. Übergewicht, Altersdiabetes und Haltungsschäden. Mehr als 40 Prozent der Grundschüler klagen über Kopfschmerzen. Knapp 20 Prozent der untersuchten Kinder leiden unter Rückenschmerzen. Lediglich ein Drittel der Kinder weist eine normale Körperhaltung auf. Zu diesen und weiteren Ergebnissen kommt die aktuelle CHILT-Studie.

    Die CHILT-Studie (Children´s Health Interventional Trial) ist ein Projekt der Deutschen Sporthochschule Köln. Das Team um Dr. med. Christine Graf, dem Sportwissenschaftler Benjamin Koch und Dr. rer. nat. Sigrid Dordel führt seit 2001 Untersuchungen an Grundschulen durch. Ziel der Studie ist die Erforschung der Ursachen für medizinische Beschwerden bei Kindern und die Entwicklung von Maßnahmen, um Kindern, Eltern und Lehrern Freude an einer rundum gesunden Lebensweise zu vermitteln.

    Die aktuelle Projektphase ist besonders der „Haltungsförderung“ gewidmet. Unter diesem Aspekt wurden bislang knapp 500 Zweitklässler untersucht. Mit dem so genannten Matthiaßtest (Arm-Vorhalte-Test) konnte die Körperhaltung der Kinder geprüft werden. Die Ergebnisse wurden im Zusammenhang mit einer ausführlichen Befragung der Eltern zu den Themen Bewegung, Arbeitsmöbel und medizinische Beschwerden ausgewertet. Das Ergebnis der Studie unterstützt massiv die Forderung nach frühen Gegenmaßnahmen, denn bei etwa zwei Dritteln der untersuchten Kinder wurden leichte bis extreme Haltungsschäden festgestellt.

    Was können Eltern also tun? Zu allererst für viel Bewegung und für das passende Arbeitsumfeld sorgen. Dr. Graf macht dies an einem Beispiel fest: Kein Erwachsener würde auf einem Bobbycar zur Arbeit fahren, denn die ergonomischen Nachteile wären unübersehbar. Stattdessen passen wir den Autositz an unsere Körpergröße und die bequemste Haltung an. Gleiches gilt für die Arbeitsmöbel, an denen Kinder schon in jungen Jahren viel Zeit verbringen, an denen sie Hausaufgaben machen, basteln oder lesen: Sie sollten wachstumsgerecht angepaßt werden können. Zu möglichst viel Bewegung animieren auch die Übungen, die von den Projektpartnern entwickelt wurden. Diese können ebenfalls in der Schule gezielt von den Lehrern durchgeführt werden.

    Weitere Informationen unter www.chilt.de

    Die aktuelle Projektphase der CHILT-Studie wurde in Zusammenarbeit mit der Firma Moll (www.moll-system.de), Hersteller mitwachsender Schreibtische und Stühle, durchgeführt.

  • fK 4/03 Zimmer

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Zu wenig Bewegung – zu viel Gewicht!

    Bewegungsmangel ist zu einer Zivilisationskrankheit geworden

    von Renate Zimmer

    Der Körper hat Hochkonjunktur. Ob in der Volkshochschule, im Sportverein oder im Wellness-Center, überall hat die Bewegung Einzug gehalten in Kursangebote und Tagesabläufe, sogar in das Leben jener, für die ein Fitness-Studio vor kurzem noch ein zu meidender Ort des Körperkultes gewesen ist. Ein Volk der Walker und Jogger sind wir geworden, der Stepper und Trimmer … Wenn da nur nicht die Kinder wären.

    Gern glauben wir, es seien nur Vorurteile: Dass Kinder in erster Linie sitzen, anstatt sich zu bewegen. Dass sie sogar im Sommer ihre Tage lieber vor dem Fernseher oder dem Computer verbringen. Dass die Welt ins Haus kommt und Kinder nicht mehr die Notwendigkeit kennen, sich zu ihr zu begeben. Dass Hausarrest früher eine harte Strafe war, heute aber ein Begriff, den Kinder kaum noch kennen, geschweige denn fürchten.

    Die Wahrheit ist, dass sich die motorischen Leistungen der Kinder in den vergangenen Jahren tatsächlich verschlechtert haben, zum Teil drastisch. Grundlegende Fertigkeiten sind heute nicht mehr selbstverständlich: Einen Ball auffangen. Eine Treppe schnell hinaufsteigen und wieder hinunterspringen. Auf einer schmalen Mauer balancieren. Auf einen Baum klettern. Auf unebenem Untergrund das Gleichgewicht halten. Auch haben viele Kinder Probleme, sich im Raum zu orientieren, wenn sie in einer Gruppe durcheinanderlaufen. Diese Eindrücke untermauert der „Motoriktest für vier- bis sechsjährige Kinder“. Der so genannte MOT 4-6 ist ein Messverfahren, standardisiert wie ein Intelligenztest, mit dem in Kinderarztpraxen und Schuleingangsuntersuchungen häufig die motorische Entwicklung erfasst wird. Er enthält Bewegungsaufgaben zum Gleichgewicht, zur Koordinationsfähigkeit, zur Raumorientierung, zur Geschicklichkeit. Der Test wurde vor 15 Jahren normiert – heute schon liegen die Leistungen in den geprüften Bereichen um etwa zehn Prozent unter den ersten Werten.

    Ein Grund dafür mag sein, dass Lernen in unserer Gesellschaft untrennbar mit Sitzen verbunden ist; Konzentration scheint von körperlicher Unbeweglichkeit abzuhängen. Nach dieser Vorstellung funktioniert Schule – war früher aber wenigstens der Nachmittag von bewegungsreichem Spiel gekennzeichnet, geradezu von einer Flucht vom Mittagstisch nach draußen, wird heute oft zur Entspannung der Fernseher eingeschaltet, danach geht es an den Computer, und dann müssen auch noch die Hausaufgaben erledigt werden. Alles im Sitzen! Dem Sitzen am Vormittag folgt also das Sitzen am Nachmittag, die Sinne werden aufs Sehen und Hören beschränkt, der Körper wird stillgelegt und seiner grundlegendsten Funktion beraubt: der Bewegung. Die Bewegung ist ein Kindern ureigenes Bedürfnis, sie ist jedoch in Gefahr, von den Errungenschaften wie von den schädlichen Folgen der Technisierung, der Motorisierung verdrängt zu werden; ebenso vom medialen Angebot.

    Die Folgen lassen nicht auf sich warten: Bewegungsmangel ist zu einer Zivilisationskrankheit geworden, bei Kindern mit ernsthaften Folgen für die körperliche, aber auch für die geistige, emotionale und soziale Entwicklung. So hat sich die Zahl der übergewichtigen Schulanfänger in den jüngsten zehn Jahren verdoppelt. Jedes fünfte Kind ist heute übergewichtig. Kinderärzte warnten, dass Übergewicht nicht nur ein Zuviel an Gewicht bedeute, sondern oft auch ein Zuwenig an Selbstwertgefühl: Die Kinder möchten ihren Körper nicht zeigen, täuschen aus Angst vor dem Schulsport Unpässlichkeiten vor – und finden sich in einem Teufelskreis wieder: Der Angst vor Misserfolg folgen das Vermeiden von Bewegung und immer größere körperliche Probleme. Die langfristigen Folgen sind noch nicht absehbar, wächst doch erstmals eine Generation heran, die in der sensibelsten Zeit des Wachstums einen wesentlichen Faktor gesunder Entwicklung vernachlässigt und damit auch nicht die körperliche Basis schafft, von der der Mensch eigentlich ein ganzes Leben zehrt.

    Bewegungseinschränkung beginnt nicht erst im Schulalter: Viele Babys verbringen einen beachtlichen Teil ihrer wachen Zeit in Sitzschalen, im so genannten „Baby-safe“ werden sie vom ersten Lebenstag an transportiert, aufbewahrt, abgestellt. Das schlechte Gewissen der Eltern scheint manchmal weniger ausgeprägt zu sein als beim Gebrauch des Laufstalls, der früher Inbegriff der Bewegungseinschränkung war. Dabei ist der Laufstall verglichen mit einer Sitzschale fast ein Paradies: Hier kann das Kind robben, krabbeln, sich drehen und an den Holzstäben aufrichten, den Boden ertasten, Spielzeug durch die Stäbe stecken und wieder hinein zu kriegen versuchen. Im „Baby-safe“ hingegen steht – das ist vielleicht ein Zeichen der Zeit – die Sicherheit an erster Stelle. Mit Sicherheit auch die Einengung der Erfahrungen, es gibt keine Chance zu entweichen. Angeschnallt können die Kinder kein Empfinden für die Schwerkraft entwickeln und ihr Gleichgewicht nicht auf die Probe stellen. Die Sinne stumpfen ab wenn sie nicht gebraucht und benutzt werden.

    Oder die Füße: Babys gehen noch sehr liebevoll mit ihnen um – betasten sie, spielen mit ihnen und stecken sie in den Mund. Aber spätestens im Kleinkindalter setzt dann die Entfremdung ein: In Schuhe gezwängt wird den Füßen der sinnlich wahrnehmbare Kontakt mit der Erde verweigert. Barfußlaufen auf einer Wiese verunsichert, es kitzelt und piekst und selbst am Strand sieht man viele Kinder, die nur noch mit Gummisandalen im Sand spielen oder ins Wasser gehen.

    Bei der Geburt verfügt der Mensch über mehr als einhundert Milliarden Nervenzellen, die jedoch erst dann funktionsfähig sind, wenn sie miteinander verknüpft werden konnten. In der frühen Kindheit werden durch Sinnestätigkeit und körperliche Aktivität Reize geschaffen – Reize, die diese Verknüpfungen, die Synapsenbildungen, unterstützen. Die Verbindungen zwischen den Nervenzellen werden komplexer, je mehr Reize durch die Sinnesorgane zum Gehirn gelangen.

    So haben Hirnforscher herausgefunden, dass sich Säuglinge, die in ihrem ersten Lebensjahr vorwiegend in der Wiege lagen, auffallend langsamer entwickeln als Kinder mit mehr Freiheiten. Einige dieser Wiegenkinder konnten im Alter von 21 Monaten noch nicht sitzen, einige sogar mit drei Jahren nicht richtig laufen. In den USA gibt es mittlerweile Intelligenzschulen für Babys und Kleinkinder. Hier stehen Krabbeln, Kriechen auf instabilem Untergrund, Klettern und Schaukeln auf dem Programm, um geistige Kompetenz zu entwickeln.

    Aber nicht nur die geistige Entwicklung wird durch Bewegung beeinflusst: Über die Erfahrungen, die das Kind mit seinem Körper gewinnt, entwickelt es ein Bild von den eigenen Fähigkeiten. Es macht die Erfahrung von Können und Nicht-Können, von Erfolg und Misserfolg, von seiner Leistungsfähigkeit und seinen Grenzen. Kinder erleben zuerst durch ihre körperlichen Aktivitäten, dass sie selbst imstande sind, etwas zu leisten, dass sie mit ihren Handlungen etwas bewirken können. Im Kleinkindalter äußert sich das Bemühen um Selbstständigkeit am deutlichsten in Bewegungshandlungen: Sich alleine anziehen, ohne fremde Hilfe laufen, auf Mauern klettern – dies sind körperliche Errungenschaften, die dem Kind (und auch seinen Eltern) schrittweise zunehmende Unabhängigkeit beweisen. Das Wort Selbstständigkeit speist sich nicht zufällig aus „selber stehen können“.

    Dabei ist Bewegung nicht in erster Linie eine Frage des Wohnortes oder der Finanzen – Erwachsene müssen vielmehr den Wert der Bewegung wiedererkennen und die Notwendigkeit, sie gerade im Alltag zuzulassen. Das heißt z.B. das Kinderzimmer nicht mit elektronischem Spielzeug oder monofunktionellen Möbelstücken zu überfrachten, sondern Raum für Bewegung zu lassen. Mit Matratzen- oder Schaumstoffteilen können Kinder herrliche Bewegungslandschaften bauen, können klettern, springen, rollen und sich verstecken. Zuallererst sind hier die Eltern gefragt – mit ihren Kindern auch wieder hinauszugehen und zu spielen, in der freien Natur mit all ihren Herausforderungen. Da reicht es, im Wald nur wenige Meter vom Weg abzuweichen. Was gibt es da nicht alles: weichen Laubboden, beinstellende Wurzeln, gefällte Bäume zum Balancieren – genügend Herausforderungen, die Kultur des Körpers zu fördern und so primäre, unmittelbare Lernerfahrungen zu machen, die mehr sind als „nur“ Sport: Dass Üben den Erfolg näher bringt. Dass man selbst verantwortlich ist für das Ergebnis seines Tuns. Und dass Anstrengung die Leistung verbessert.

    Prof. Dr. Renate Zimmer ist Hochschullehrerin für Sportwissenschaft an der Universität Osnabrück

  • fK 4/03 Hurrelmann

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Neue Herausforderungen für die Gesundheitsförderung

    Fehlernährung und Bewegungsmangel als Schlüsselprobleme

    von Klaus Hurrelmann und Heidrun Bründel

    Gesundheit ist dann gegeben, wenn ein Kind körperlich, biologisch, physiologisch, nervlich und seelisch in Balance mit den Innen- und Außenanforderungen ist, konstruktiv Sozialbeziehungen aufbauen kann, sozial integriert ist, die eigene Lebensgestaltung an die wechselhaften Belastungen des Lebensumfeldes anpassen und dabei seine individuelle Selbstbestimmung sichern kann. Gesundheit kann deshalb auch als das jeweils aktuelle Resultat einer „gelingenden“ Sozialisation verstanden werden. Krankheit bezeichnet den Gegenpol, die Überbeanspruchung von körperlichen, psychischen und sozialen Anpassungs- und Bewältigungsfähigkeiten und das Resultat einer nicht gelingenden Sozialisation.

    Die Veränderung des Krankheitsspektrums

    Wie anfällig ein Kind für Beeinträchtigungen der Gesundheit ist, richtet sich nach dem Verhältnis zwischen Belastungsfaktoren und Schutzfaktoren, also den sozialen, psychischen und körperlichen Ressourcen zur Bewältigung der Belastungen. Sind diese Ressourcen unzureichend, dann kann ein Kind den Anforderungen der inneren und der äußeren Realität nicht gerecht werden. Gesundheitsstörungen und Krankheiten können die Folge sein.

    Im historischen Vergleich fällt auf, dass die Infektionskrankheiten und die jahrhundertelang mit Kindheit und Jugend verbundenen Epidemien und Mangelkrankheiten in den westlichen Gesellschaften heute weitgehend zurückgedrängt sind. Mit der Einführung von Hygienemaßnahmen, Reihenimpfungen, systematischen Diagnoseverfahren (Früherkennung) und verbesserten Behandlungsmethoden ist es gelungen, den größten Teil der Kinder dauerhaft vor schwerer Krankheit zu bewahren. Probleme bereiten die Belastung und Verschmutzung der natürlichen Lebensgrundlagen, insbesondere von Wasser, Luft und Boden, die Veränderung des Weltklimas, das Waldsterben und die damit verbundenen ökologischen Belastungen, die Kinder besonders stark treffen. Zu bedenken ist auch, dass die erwähnten Verbesserungen nur für die reichen Industrieländer des Westens und auch hier nur für die gut situierten Teile der Bevölkerung gelten. Sie greifen zum Beispiel nicht für die in den letzten Jahren wieder anwachsenden Minderheiten, die in Armut und ungünstigen sozialen Verhältnissen leben.

    Chronische körperliche Krankheiten

    Das Krankheitsspektrum wird bei Kindern heute durch die „chronischen“ Krankheiten beherrscht, die nicht wirklich heilbar sind, sondern fast wie eine Behinderung wirken. Die chronischen Erkrankungen können viele Jahre lang in mehr oder weniger bedrohlicher Weise das Handeln und Empfinden eines Kindes beeinflussen. Je ernsthafter die körperliche Störung ist, desto größer ist in der Regel auch das begleitende Ausmaß von psychischen Störungen.

    Während die akuten Kinderkrankheiten meist durch den Verlauf „Ursache-Ausbruch-Höhepunkt-Abklingen-Symptomfreiheit“ gekennzeichnet und zu achtzig bis neunzig Prozent auf Infektionen, Unfälle und Vergiftungen zurückzuführen sind, sind die chronischen Krankheiten durch einen anderen Verlauf charakterisiert. Bei ihnen kommt es nicht zu einem kurvenförmigen Ablaufmuster, sondern sie sind schleichend und fortdauernd, mal abklingend, mal wieder anschwellend. Auch in Abklingphasen bleiben Symptome bestehen; dazu kommt die Angst und die Sorge vor einem erneuten Auftreten und vor Folgesymptomen. Im Kindesalter treten heute vor allem die folgenden chronischen Krankheiten auf:

    Krebserkrankungen: Krebskrankheiten, also pathologische Zellwucherungen, befallen bei Kindern nicht so oft wie bei älteren Menschen das Oberflächengewebe, sondern es sind Leukämien und Lymphknotengeschwulste, die die Hälfte der Neuerkrankungen ausmachen. Danach folgen Hirntumore, die bei etwa jedem siebten jungen Patienten festgestellt werden. Der Anteil von Krebskrankheiten ist in den letzten Jahren konstant geblieben.

    Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit): Der Diabetes stellt eine chronische Stoffwechselerkrankung dar, die durch den Mangel des in der Bauchspeicheldrüse gebildeten Hormons Insulin gekennzeichnet ist. Etwa 0,5 Prozent aller Kinder sind betroffen. Der Mangel an Insulin beeinträchtigt den Transport des im Blut gelösten Traubenzuckers in die Körperzellen. Kinder sind meist von einem bestimmten Typ von Diabetes betroffen, bei dem ein völliges Fehlen von Insulin vorliegt. Die entsprechenden Zellen der Bauchspeicheldrüse sind zugrunde gegangen und damit ist die Krankheit nicht heilbar. Die Kinder sind lebenslang auf künstliches Insulin angewiesen.

    Rheuma: Bei Gelenk- und Rückenschmerzen vom rheumatischen Typ muss von einer Verbreitung von etwa 0,5 Prozent ausgegangen werden. Rheumatische Erkrankungen treten schubweise auf und sind mit starken Schmerzen verbunden.

    Epilepsie: Von epileptischen Anfallsleiden sind 0,5 bis ein Prozent der kindlichen Bevölkerung betroffen. Die Ursachen für eine Erkrankung liegen – neben einer erblichen Disposition – in den Folgeerscheinungen nach einer exogenen Schädigung des Gehirns. Leistungs- und Funktionsstörungen (zum Beispiel Intelligenzminderung) sind wahrscheinlich nicht auf die Anfälle zurückzuführen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass hierfür zum einen die (für die Epilepsie ursächlichen) Hirnfunktionsstörungen, zum anderen die beträchtlichen Nebenwirkungen der Medikamente (Antikonvulsiva) verantwortlich sind.

    Allergien: Unter Allergien wird eine veränderte Reaktionslage des Körpers auf Umweltstoffe verstanden. Es handelt sich um eine teilweise angeborene Bereitschaft des Organismus, mit (Über-) Empfindlichkeitserscheinungen auf bestimmte Umweltstoffe zu antworten. Die Stoffe, die zu allergischen Reaktionen führen können, (Pollen, Hausstaubmilben, Tierhaare, Nahrungsmittel, chemische Substanzen) kommen in der häuslichen Umgebung und in der Natur vor und sind für eine sensibilisierte Person schädlich. Diese Schadstoffe werden als Allergene oder Antigene bezeichnet. Sie regen in einem empfindlichen und meistens erheblich belasteten Organismus die Bildung von spezifischen Antikörpern (Immunglobulinen) an. Die häufigsten allergischen Krankheiten (Atopien) sind Heuschnupfen und andere allergische Fließschnupfen, Bronchialasthma und das atopische Ekzem (konstitutionelle Neurodermitis). Seltener sind Nahrungsmittelallergien, bestimmte Formen von Ausschlägen und Insektenstichallergien. Allergien sämtlicher Ausprägungen kommen zusammengenommen heute bei 25 Prozent aller Kinder vor.

    Endogenes Ekzem (Neurodermitis): Beim endogenen Ekzem (auch als atopische Dermatitis oder Neurodermitis bezeichnet) handelt es sich um eine Hauterkrankung, die sich sehr früh, meist innerhalb der ersten beiden Lebensjahre ausprägt und einen chronischen Verlauf nimmt. Sie ist gekennzeichnet durch Veränderungen der Haut, die sich an charakteristischen Stellen häufen, sowie durch einen starken Juckreiz. Die Verbreitung ist schwer abzuschätzen, dürfte aber bei mindestens fünf Prozent eines Jahrgangs liegen.

    Asthma bronchiale: Unter Asthma bronchiale wird eine anfallsweise auftretende Atemnot bezeichnet, die durch eine die Ausatmung behindernde Verengung der äußeren Luftwege verursacht wird. Schleimhautschwellungen, übermäßige Sekretion und Verkrampfungen der Bronchialmuskulatur sind die Auslöser. Die Symptomatik gipfelt meist in Anfällen von Atemnot mit verlängerter Ausatemphase sowie vielfältigen, intensiven körperlichen Beeinträchtigungen. Eine Häufung solcher Anfälle kann lebensgefährlich sein. Zwischen den Anfällen liegen bei den Patienten häufig keine Beschwerden vor. Diese Erkrankung zeigt sich vor allem im ersten Lebensjahrzehnt. Man schätzt, dass etwa sechs Prozent aller Kinder an Asthma bronchiale leiden.

    Adipositas (Übergewicht) und Magersucht: Die Störungen des Essverhaltens können nach verschiedenen Erscheinungsformen der Dickleibigkeit (Adipositas), der Magersucht (Anorexia nervosa), und der Esssucht (Bulimie) klassifiziert werden, wobei die beiden letzteren überwiegend bei Jugendlichen und jüngeren Erwachsenen anzutreffen sind, erstere jedoch häufig schon bei Kindern. Unter Adipositas versteht man ein ausgeprägtes Übergewicht, das gleichzeitig durch eine ungewöhnliche Ansammlung von Fettgewebe gekennzeichnet ist. Die Krankheit ist zum Teil auf genetische Faktoren, aber zugleich auch meist auf die abnorme Gewohnheit zurückzuführen, einerseits zu viel von allem und andererseits einseitig, das heißt zum Beispiel zu viel Süßigkeiten, zu essen, so dass die Appetitregulation gestört wird. Wir schätzen, dass schon 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter Adipositas leiden.

    Auffälligkeiten im Wahrnehmungsbereich

    Neben den chronischen körperlichen Krankheiten spielen psychologische Auffälligkeiten heute eine große Rolle. Viele Kinder sind mit Konflikten und Schwierigkeiten konfrontiert und zeigen in Form von „Verhaltensauffälligkeiten“, dass ihnen die Bearbeitung dieser Probleme schwer fällt. Die Ursachen hierfür können sehr unterschiedlich sein und in innerpsychischen Konflikten, familiären Spannungen und problematischen sozialen Verhältnissen liegen. Nach repräsentativen Studien zeigen zehn bis zwölf Prozent der Kinder im Grundschulalter psychosoziale Auffälligkeiten. Hierunter fallen vor allem Störungen im Wahrnehmungs- und kognitiven wie Verarbeitungsbereich, Leistungsstörungen, Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche. Wie bei den körperlichen Krankheiten ist auch hier die Belastung von Jungen im Kindesalter deutlich höher als die von Mädchen.

    Aufmerksamkeitsdefizit- Hyperaktivitäts- Syndrom (ADHS)

    Viele Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass fast jedes zwanzigste Kind im Schulalter unter Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen leidet. Die Kinder träumen viel, lassen sich leicht ablenken, können nur schwer eine Aufgabe zu Ende bringen, ermüden rasch. In ihrer schwerwiegenden Ausprägung werden Konzentrationsstörungen als Hyperaktivität oder Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom bezeichnet. Dieses Syndrom ist bei Jungen weitaus häufiger als bei Mädchen, es tritt bei etwa zwei Prozent aller Kinder auf. Hyperaktivität umfasst eine Fülle von ineinander greifenden Einzelsymptomen.

    Ausgangspunkt ist meist eine fahrige und hektische Motorik in der frühen Kindheit, die mit bestimmten Lern -und Verhaltensstörungen einhergeht. Zu den Primärsymptomen können motorische Unruhe, ziellose Aktivität, Impulsivität, ungesteuerte Motorik, Konzentrationsschwäche, Aufmerksamkeitsstörungen, erhöhte Reizempfindlichkeit, sehr schnelle Erregbarkeit und niedrige Frustrationstoleranz gerechnet werden. Die Kinder sind durch ein überstürztes Problemlöseverhalten gekennzeichnet, sie kommen zu überhasteten und unkonzentrierten Arbeitsweisen, die vor allem im schulischen Bereich auffallen. Die Fähigkeit zur ruhigen und konzentrierten Handlungssteuerung ist ausgefallen und wird durch übertriebene Reizbarkeit und Erregbarkeit überlagert.

    Als Folge der Primärsymptome der Hyperaktivität treten oft sekundäre Symptome auf, wie Kontakt- und Beziehungsstörungen, Lernstörungen im schulischen Bereich, Selbstwertprobleme und Verhaltensauffälligkeiten, die sich in Disziplinschwierigkeiten und Aggressivität ausdrücken können.

    Lese-Rechtschreib-Schwäche

    Der häufigste Anmeldegrund in schulpsychologischen Beratungsstellen sind Auffälligkeiten im Wahrnehmungsbereich, die sich in Schulleistungsstörungen niederschlagen. Unter den Schulleistungsstörungen in der Grundschule ist die Lese-Rechtschreib-Schwäche (Legasthenie) am stärksten verbreitet. Sie tritt etwa bei 15 Prozent aller Grundschulkinder auf und bezeichnet eine aus dem Rahmen der sonstigen Schulleistungen herausfallende Schwäche im Erlernen des Lesens und Schreibens. Sie betrifft Jungen deutlich häufiger als Mädchen. Die Kinder beherrschen in der Regel das Lesen und Schreiben der einzelnen Buchstaben und Zahlen, haben aber Schwierigkeiten bei Worten und Sätzen.

    Rechenschwäche

    Eine Rechenschwäche liegt dann vor, wenn die Rechenfähigkeit im Vergleich zu den Leistungen in den anderen Fächern stark beeinträchtigt ist. Man vermutet hinter der Rechenschwäche – ähnlich wie bei der Lese-Rechtschreib-Schwäche – grundlegende Störungen im Wahrnehmungsbereich, und zwar in der Erfassung räumlicher Beziehungen, der Rechts-links-Orientierung und des Körperschemas. Als spezifische Wahrnehmungsschwächen werden Beeinträchtigungen bei der Wahrnehmung von Form-, Größen und Mengenkonstanzen bezeichnet.

    Psychosomatische und affektive Störungen

    Eine dritte Gruppe von gesundheitlichen Störungen sind die psychosomatisch-affektiven. In der psychiatrischen Literatur wird zwischen neurotischen und reaktiven Störungen mit psychischer Symptomatik und körperlicher Symptomatik unterschieden. Zeigt sich die Leitsymptomatik vorwiegend im emotionalen Bereich, dann wird von einer psychischen Symptomatik gesprochen. Die wichtigsten Erscheinungsformen in diesem Bereich sind die folgenden:

    Angst- und Affektsyndrome

    Hierunter werden Angstzustände gefasst, die als krankhaft angesehen werden, weil die Intensität der Angstempfindung ungewöhnlich hoch ist, die alterstypischen Aktivitäten eingeschränkt sind und die Inhalte und Objekte der Ängste ungewöhnlich sind. Angst und Ängstlichkeit nehmen mit dem Älterwerden verschiedene Ausdrucksformen an, die mit der Entwicklungsstufe eines Kindes korrespondieren. So wird im Säuglingsalter überwiegend von der Acht-Monats-Angst gesprochen, im Vorschulalter von der Trennungsangst, später der Schulangst und in der Adoleszenz von Angstneurosen. Bei Schulangst oder Schulphobie sind starke Schulverweigerungstendenzen, körperliche Beschwerden wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen und Übelkeit und die Neigung zu Angstzuständen und depressiven Verstimmungen erkennbar.

    Die Angstneurose wird als eine Kombination von körperlichen und psychischen Angstsymptomen verstanden, die keiner realen Gefahr zuzuschreiben sind, sondern „eingebildet“ sind. Die Angst ist diffus und kann sich bis zur Panik steigern. Als Folge ergibt sich häufig ein sozialer Rückzug der Kinder. Als Reaktion zeigen sich auch vegetative Erscheinungen, wie beschleunigte Atmung und Herztätigkeit, Blutdrucksteigerung, Schweißausbrüche und Verdauungsstörungen. Die Verbreitung ist schwer abzuschätzen. Es gibt aber Hinweise darauf, dass in den letzten zehn Jahren durch die öffentliche Diskussion globaler Themen wie Kriegsgefahr, Terroranschläge und Umweltverschmutzung Zukunftsängste und damit auch spezifische Formen von Angstzuständen bei Kindern zugenommen haben.

    Depressive Syndrome

    Depressive Störungen im Kindesalter unterscheiden sich nicht wesentlich von denen Erwachsener. Sie setzen sich zusammen aus emotionalen Symptomen (Gefühle tiefer Traurigkeit, Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit, Mutlosigkeit und Lustlosigkeit), kognitiven Symptomen (Gedanken eigener Wertlosigkeit und Unzulänglichkeit, Selbstzweifel, Selbstvorwürfe, Selbstbestrafung, Selbstentwertung), motivationalen Symptomen (Erlahmung des Aktivitäts- und Antriebsniveaus und der Entscheidungsfähigkeit) und körperlichen Symptomen (Müdigkeit, Erschöpfung, Appetitlosigkeit und Schlafstörungen). Depressive Störungen zeigen sich altersspezifisch und drücken sich bei jüngeren Kindern unter zehn Jahren häufig in Trennungsängsten (bei Besuch des Kindergartens oder bei der Einschulung) und in Schulverweigerung aus, bei älteren Kindern in Verstimmungen, Leistungsabfall und Rückzugstendenzen.

    Medikamenten- und Drogenkonsum

    Nach elterlichem Vorbild greifen Kinder heute auch schon bei geringfügigen körperlichen Beschwerden sehr schnell zu Medikamenten. Häufig tun sie dies auch, um in unangenehmen Lebenssituationen Entlastung und Ablenkung oder Anregung und Leistungssteigerung zu erfahren. Viele Eltern begründen diesen Schritt mit „Verhaltensauffälligkeiten“ der Kinder, wobei Konzentrationsstörungen, Schulversagen, Zappeligkeit, Kopf- und Magenschmerzen sowie Schlafstörungen am häufigsten genannt werden. Wir schätzen, dass von zwanzig Prozent der Kinder im Grundschulalter regelmäßig, mindestens wöchentlich, Schmerzmittel und teilweise auch andere Medikamente eingenommen werden, um damit die Leistungsfähigkeit zu stabilisieren und Schmerzempfindungen vorzubeugen.

    Auch der Konsum von Drogen, von legalen und illegalen Stoffen zur Manipulation des zentralen Nervensystems, kommt bei Kindern immer häufiger vor. Das Einstiegsalter in den Zigaretten- und Alkoholkonsum hat sich in den letzten zehn Jahren auf immer früher verlagert. So haben zwei Prozent der Jugendlichen nach eigenen Angaben schon vor dem zehnten Lebensjahr regelmäßige Alkoholerfahrungen. Im Alter von zehn bis elf Jahren wächst der Anteil von Einsteigern um jeweils sieben Prozent an. Das Ergebnis ist, dass bis zum Alter von elf Jahren schon 16 Prozent und bis zum Alter von zwölf Jahren 36 Prozent Kinder regelmäßige oder gelegentliche Alkoholkonsumenten sind. Ganz ähnliche Trends zeigen sich beim Zigarettenkonsum, der altersmäßig noch früher als der Alkoholkonsum einsetzt. Mit einem frühen Einstieg ist die Wahrscheinlichkeit verbunden, das Konsummuster über den ganzen weiteren Lebensweg aufrechtzuerhalten.

    Neue Herausforderungen für die Gesundheitsförderung

    Die kurze Darstellung des Spektrums von körperlichen und psychischen Krankheiten macht deutlich, dass die akuten Infektionskrankheiten, die früher häufigen „Kinderkrankheiten“, nur noch selten auftreten. Die bei den Erwachsenen vorherrschenden chronischen körperlichen Erkrankungen sind dank einer sehr guten Diagnose, Behandlung und Nachsorge ebenfalls vergleichsweise selten. Alle diese Krankheiten zusammen belasten etwa zwanzig Prozent der Kinder. Problematisch ist dabei die folgende Beobachtung: Die meisten der heute vorherrschenden gesundheitlichen Störungen liegen im Schnittbereich zwischen Körper, Psyche und Umwelt, sie entstehen durch die Fehlanpassung von physiologischen, seelischen, sozialen und ökologischen Systemen. Viele dieser Störungen haben eine genetische, in der Persönlichkeit tief verankerte Komponente, die aber nur deshalb zum Zuge kommen kann, weil psychische, soziale und ökologische Schutzfaktoren verloren gegangen sind. Bei vielen Kindern ist der elementare Prozess der körperlichen, psychischen und sozialen Auseinandersetzung mit ihren inneren und äußeren Lebensbedingungen aus dem Rhythmus geraten, sie haben in diesem Sinn ihre Lebenstüchtigkeit und ihre Kompetenz eingebüßt, sich mit der Realität so auseinander zu setzen.

    Fehlernährung und Bewegungsmangel als Schlüsselprobleme

    Für Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung ergeben sich aus dieser Bestandsaufnahme neuartige Herausforderungen. Neben die gezielte Vorbeugung gegen die Ausgangsbedingungen von akuten Infektionskrankheiten und chronischen körperlichen Krankheiten muss auf eine gut abgestimmte und konzeptionell überzeugende Gesamtlinie der Gesundheitsförderung für Kinder geachtet werden. Es bietet sich an, nach einem gemeinsamen Nenner für die vielfältigen bio-, psycho- und öko-sozialen Störungsbilder der Gesundheit zu suchen und sich nicht in krankheits- und symptombezogenen Einzelinitiativen zu verzetteln.

    Dieser gemeinsame Nenner liegt unserer Auffassung nach in den beiden Ausgangsfaktoren Fehlernährung und Bewegungsmangel. Sie stehen in einem direkten oder zumindest indirekten Zusammenhang mit vielen der Gesundheitsbeeinträchtigungen und Krankheiten, die heute bei Kindern zu verzeichnen sind. Über eine Beeinflussung des Bewegungs- und Ernährungsverhaltens lassen sich auch Probleme ansprechen und bearbeiten, die mit anderen Dimensionen des nicht gelingenden Prozesses der Bewältigung von inneren und äußeren Herausforderungen zusammenhängen, insbesondere den Problemen des schlecht trainierten Immunsystems, der fehlenden Anregung und Schulung der Sinne, der Verbesserung der motorischen Koordination, des Abbaus von Aufmerksamkeitsdefiziten und Hyperaktivität und der Stärkung von Konfliktfähigkeit und Frustrationstoleranz. Bewegungsmangel und Fehlernährung ihrerseits hängen in ihrer Verursachung und in ihren Erscheinungsformen eng zusammen:

    • Der Bewegungsmangel hängt mit den wenigen räumlichen Möglichkeiten des freien und offenen Spielens zusammen, die sich in den durch Straßenverkehr und Zersiedelung geprägten Wohnvierteln beobachten lassen. Hinzu kommt eine teilweise übervorsichtige und ängstliche Haltung der Mütter und Väter, die ihren Kindern nicht den Freiraum für die selbstständige Erkundung der Umwelt lassen, den sie für ihre Entwicklung eigentlich benötigen. Hintergrund hierfür sind auch die veränderten häuslichen Lebensbedingungen mit einer starken Konzentration des Familienlebens auf die Wohnung, verstärkt durch Massenmedien wie Fernsehen, Radio und Computer. Auch die Motorisierung der Familienhaushalte trägt das ihre dazu bei, dass sich Kinder viel zu wenig bewegen. Sie werden in vielen Familien zu Kindertagesstätten, Kindergärten, Musikschulen und später Grundschulen gefahren und haben dadurch nur wenig Gelegenheit, sich selbst im Wohnviertel und darüber hinaus aus eigener Kraft zu bewegen.
    • Das veränderte Ernährungsverhalten hängt mit der Umstellung des Lebensrhythmus der Familien zusammen. Nur noch etwa in der Hälfte der Familienhaushalte wird regelmäßig gekocht und gemeinsam gegessen. Immer mehr setzt sich Fertigkost vom Typus „Fast Food“ durch, die einen übergroßen Anteil von Fett und Kohlehydraten und einen mangelnden Bestand an Ballaststoffen, Vitaminen und Mineralien aufweist, und deswegen bei vielen Kindern objektiv zu Fehlernährung führt. Bei Kindern ab dem Grundschulalter kommt noch hinzu, dass innerhalb und außerhalb der Schule Schnellrestaurants beliebte Treffpunkte im Freundeskreis sind und wegen der Bedeutung der Gleichaltrigengruppe sich fast kein Kind mehr der ,,McDonaldisierung“ der Nahrungszufuhr entziehen kann. Hierdurch kommt es zu unregelmäßigen, mit dem Biorhythmus der Kinder meist nicht abgestimmten Abfolgen der Nahrungsaufnahme und zu einer unausgewogenen Kombination der Nahrungsbestandteile. Die in der Werbung für Kinder angepriesene „nährstoffangereicherten“ Lebensmittel tragen zu einer weiteren Förderung von falschen Essgewohnheiten bei und bringen in vielen Familien den Nahrungshaushalt durcheinander.

    Bewegungsmangel und Fehlernährung leisten den genannten Krankheiten und Gesundheitsstörungen Vorschub, besonders die bisher nur im Erwachsenenalter beobachtet wurden. Das gilt für die erwähnten psychosomatischen Störungen, Herz-Kreislauf- Probleme, Bluthochdruck, Koordinationsprobleme und Übergewicht. Mangelnde Bewegung und falsche Ernährung treten bei vielen Kindern auch in Kombination auf, wenn zum Beispiel viele Stunden täglich vor dem Fernseher, Videogerät oder Computer verbracht werden und parallel dazu unkonzentriert und ohne festen Rhythmus Fertiggerichte und Fast-Food-Produkte konsumiert werden. Auch der wachsende Anteil von untergewichtigen Kindern weist auf den aus dem Rhythmus geratenen Ernährungs- und Bewegungshaushalt hin. Schon im Grundschulalter treten etwa zehn Prozent der Jungen und 15 Prozent der Mädchen Diäten an, um ihr Gewicht zu regulieren. Vor allem die Mädchen haben den Eindruck, ihr Gewicht sei zu hoch, sie führen das aber nicht auf ihr langfristiges Entnährungs- und Bewegungsverhalten zurück, sondern ausschließlich auf die Menge der Nahrungszufuhr. Diäten sind meist ein deutliches Alarmsignal für aus der Kontrolle geratene Körperbeherrschung und führen nur in den seltenen Fällen zu einem Wiedergewinn einer ausgeruhten körperlichen und psychischen Konstitution.

    Anregung des Bewegungsverhaltens

    Eine entscheidende Störquelle für eine gelingende Balance von Risiko- und Schutzfaktoren bei Kindern ist der Mangel an alters- und körperangemessener Bewegung. Bewegung reguliert einerseits die Nahrungszufuhr und den Kalorienverbrauch, sie trägt andererseits aber auch zum Stressabbau und zur Abfuhr innerer Spannungen und Aggressionen bei. Angemessene Bewegung ist so gesehen das wichtigste Medium der körperlichen und psychischen Entwicklung, es ermöglicht die Erkundung und Aneignung der sozialen und physikalischen Umwelt, sorgt für die Koordination aller Sinneserfahrungen und ist der Motor für die gesamte körperliche, psychische und soziale Entwicklung eines Kindes.

    Alle sensiblen Konzepte der Gesundheitsförderung setzen heute auf die Akzeptanz des kindlichen Bewegungsdrangs, eine lebendige und herausfordernde Umsetzung und Förderung von Aktivität und handelnder Tätigkeit mit zugleich altersangemessener psychischer Herausforderung von Kreativität und Selbstbehauptung. Dazu gehört die Kunst, Aggressionspotentiale spielerisch aufzunehmen, zu kanalisieren und frei zu geben, etwa durch Musik, Kunst und Theater, aber auch durch Abenteuerspielplätze, Hüttenbau und Gruppenspiele.

    Die ökologische Entwicklungstheorie von Uri Bronfenbrenner kann als Hintergrundtheorie dieser Ansätze verstanden werden. Sie hat darauf hingewiesen, dass die Ausschaltung, Unterdrückung und Nichtinanspruchnahme der menschlichen Organe alle Sinne krank macht, während die Entfaltung durch die Auseinandersetzung mit einer herausfordernden sozialen und physikalischen Umwelt eine stärkende und aufbauende Wirkung hat. Sie setzt sich für die Gestaltung von Umwelten ein, die eine Mannigfaltigkeit von wohl dosierten Reizen für alle Sinne bereithalten. Die „Erlebnispädagogik“ hat praktische Beispiele für die pädagogische Umsetzung solcher Konzepte beigesteuert. Sie plädiert für pädagogisch und psychologisch gut strukturierte Konzepte der Förderung von Erlebnis, Abenteuer, Verantwortlichkeit und Kreativität.

    Bewegungsförderung als Herausforderung der Sinne

    Die Konsequenz aus diesen Erkenntnissen ist, in Kindergärten und Grundschulen, aber auch in anderen kommunalen Räumen das freie und naturnahe Spielen zu fördern. Dabei müssen Kindern gezielte Risikomöglichkeiten eingeräumt werden. Es geht nicht darum, ihnen nur mehr organisierte Bewegungsspiele vom Typus des Mannschaftssports anzubieten, sondern vor allem darum, ein nachhaltiges und abenteuerliches Freispiel zu ermöglichen. Die persönlichen und sozialen Ressourcen von Kindern können nur entwickelt werden, wenn sie auf wohl dosierte Widerstände stoßen.

    Gesundheitsressourcen sind Fitness, Stärkung des Immunsystems und der Herz-Kreislauf-Leistungsfähigkeit im körperlichen Bereich sowie Zuversicht, Optimismus, positives Selbstkonzept und Selbstvertrauen im persönlichen Bereich. Im sozialen Bereich müssen Unterstützung und Anerkennung in der Gruppe hinzukommen. Ein stabiles Selbstkonzept von Kindern kann nur durch Aktivitäten gefördert werden, bei denen Kinder ihre eigenen Stärken erkennen und sich ihrer bewusst werden können, Eigenaktivität und Selbsttätigkeit herausgefordert werden, eine vorschnelle Hilfeleistung vermieden und jeder auch noch so kleine Erfolg positiv bewertet wird. Wenn Kinder in ihren Familien diese Herausforderungen nicht in genügendem Ausmaß erfahren, dann ist es die Aufgabe der öffentlichen Erziehungseinrichtungen Kindergarten und Grundschule, ausgleichend tätig zu werden.

    Der Mangel an öffentlichen, gestaltbaren Flächen und Räumen wirkt sich auf die Entwicklung von Kindern ungünstig aus. Sie brauchen Räume, die sie sich aneignen, besetzen, gestalten und verändern können. Nur hierdurch kann die Stimulation der Sinne, das Erleben von öffentlichem Handeln mit der Erfahrung von Unbekanntem und Fremdsein aufgebaut werden. Im sozialen Bereich Kompetenzen aufbauen heißt auch, Ängste zu überwinden, sich zu präsentieren, also eine Form der Behauptung und der Selbstbehauptung einzuüben. In einem öffentlichen Raum sind immer fremde und unbekannte Menschen, es stellen sich neuartige und irritierende Situationen ein. Zugleich kann hier Zugehörigkeit und Ortsverbundenheit erfahren werden. Deswegen dürfen die Räume nicht perfekt sein, sondern müssen die Einflüsse von Kindern ermöglichen.

    Der Beitrag ist eine überarbeite Fassung von Ausschnitten aus dem Buch „Einführung in die Kindheitsforschung“, Weinheim 2003. Mit freundlicher Genehmigung des BELTZ Verlages.

    Prof. Dr. Klaus Hurrelmann ist Hochschullehrer für Sozial- und Gesundheitswissenschaft an der Universität Bielefeld und Direktor des WHO-Collaborating Centers Child and Adolescent Health Promotion

    Dr. Heidrun Bründel ist Diplompsychologin an der Bildungs- und Schulberatung in Gütersloh