Kategorie: Archiv

  • fK 3/02 Petri

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Das Drama der Vaterentbehrung

    Vom Chaos der Familie zu einer neuen „Geschlechterdemokratie“

    von Horst Petri

    „Little Criminals“. In dem kanadischen Film von Sterphen Surjik (1995) hat die Welt für den Helden Des ihre Konturen verloren. Er macht das Beste daraus, indem er zu einem Teufel in Kindsgestalt mutiert. Sein Diebesgut verhökert er an einen Hehler, donnert mit geklauten Autos durch die Gegend, befördert sie kurzerhand in einen Kanal, wenn der Sprit verbraucht ist, und lacht auch noch zu seinen Späßen, wenn er ein Holzhaus abfackelt. Ein kleiner Wilder, elf Jahre alt. Hinter der Koboldsmaske die Seele eines eiskalten Engels. Durch ein zufällig belauschtes Gespräch zwischen seiner Mutter und der Polizei erfährt er zum erstenmal, wer sein Vater ist: einer von vielen Erziehern des Heims, in dem die Mutter als junges Mädchen untergebracht war. Wer weiß das schon so genau? Jetzt ist der Durchbruch von verdrängter Einsamkeit, Verzweiflung und Wut nicht mehr aufzuhalten. Aus nichtigem Anlass erschießt Des den Stiefvater seines einzigen Freundes – ein symbolischer Akt der Vatertötung.

    Der Film durchbricht das Klischee von der Vaterlosigkeit erwachsener Verbrecher, indem er die subtile psychologische Studie auf ein Kinderschicksal lenkt. So früh kann, das ist seine Botschaft, die Vaterentbehrung eine Kinderseele zerstören. Wie ernst sie zu nehmen ist, belegen die täglichen Presseberichte und Kriminalstatistiken über Kinder unterhalb der Strafmündigkeitsgrenze, die in wachsendem Ausmaß mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Sie stellen Jugendbehörden, Gerichte und die Öffentlichkeit vor ein neues gesellschaftliches Phänomen, das eine allgemeine Ratlosigkeit verbreitet. Nur langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass ein großer Teil dieser Kinder vaterlos aufwächst. Dieser Umstand erklärt die Gefühlskälte und das Fehlen von Schuld- und Schamgefühlen bei ihren Taten. Im Gegenteil. „Bevor ich vierzehn Jahre alt bin, kann ich tun und lassen, was ich will.“ Diesen Trumpf, den Des in dem Film mit zynischer Ironie immer wieder gegen die Gesellschaft ausspielt, wird zum Credo von Teilen einer jungen Generation, die auf den Mangel an vorgelebter Autorität mit der Entfesselung ihrer Triebwelt reagiert.

    Wir leben mit einem gespaltenen Bewusstsein. Während das skizzierte Szenario trotz aller Aufgeregtheit als soziales Randphänomen entsorgt wird, feiert die Gesellschaft unbekümmert die Fortschritte von individueller Freiheit, Emanzipation und Selbstverwirklichung. Wenn sie das Szenario als Spiegel der eigenen Situation sehen könnte, würde sie spüren, wie heiß der Vulkan inzwischen geworden ist, auf dem sie tanzt. Im Zentrum der Befreiungsideologie steht seit langem die Aufkündigung des patriarchal definierten Geschlechtervertrages. So überfällig sie war und der Frauenbewegung als unzweifelhaftes Verdienst anzurechnen ist, so sichtbar werden allmählich die verheerenden Folgen für die nachwachsenden Generationen. Jede revolutionäre Erneuerung schafft zunächst eine chaotische Übergangsperiode und hat ihren Preis. Viele Anzeichen deuten darauf hin, dass sie seit einiger Zeit in ihre kritische Phase eingetreten ist. In der Krankheitslehre bezeichnet Krise den Punkt, an dem sich der Weg in die Heilung oder in den Tod entscheidet. Auch eine gesellschaftliche Krise enthält die Chance zu einer strukturierenden Ordnung des Chaos, aber auch die Gefahr einer weiteren Destabilisierung.

    Der Geschlechterkampf bewegt sich heute noch auf einer eskalierenden Spirale wechselseitiger Entfremdung. Damit schlägt die ursprünglich konstruktive Kritik der Frauenbewegung in kontraproduktive Destruktion um. Es ist eine schlichte Tatsache, dass im Rahmen der Befreiungsbewegung von Frauen und Männern die Konsequenzen für die Kinder entweder nahezu ausgeblendet oder durch ideologische Argumente gerechtfertigt wurden, die sich heute als grobe Täuschungen erweisen. Das ernsthafteste Problem, das die Geschlechtertrennung produziert hat, ist die definitive Vaterentbehrung. Durch den emanzipatorischen Umbau der Familie und die dabei radikal vollzogene Dekonstruktion des Vaterbildes wächst seit zirka dreißig Jahren eine wachsende Zahl von Kindern ohne ihre Väter auf – ein Trend, der sich weiter beschleunigt. Um Missverständnissen vorzubeugen: Die Darstellung handelt nicht von berufsbedingten Zeiten der Vaterabwesenheit, auch nicht von Trennungs- und Scheidungsvätern, die durch einen lebendig gelebten Kontakt zu ihren Kindern die Kontinuität der Beziehung garantieren. Im Zentrum steht die endgültige Vaterlosigkeit durch unbekannte Erzeuger, durch den Tod des Vaters, aber vor allem durch die Flucht der Väter oder ihre systematische Ausgrenzung durch Mütter nach Scheidungen und Trennungen.

    Die entwicklungspsychologische Bedeutung des Vaters

    Zum Verständnis des Dramas der Vaterentbehrung ist zunächst an einige zentrale Vaterfunktionen zu erinnern. Die Entwicklungspsychologie unterscheidet heute drei für die Vater-Kind-Beziehung entscheidende Zeiträume: die Triangulierungsphase, die erste und die zweite ödipale Phase.

    (1) Die Triangulierungsphase (erstes bis drittes Lebensjahr)

    Solange sich die Humanwissenschaften auf die Erforschung der frühen Mutter-Kind-Beziehung konzentrierten, blieb der Vater eine zu vernachlässigende Größe. Dieses Defizit wurde erst in den letzten drei Jahrzehnten ausgeglichen. Die neuere Säuglings- und Kleinkindforschung konnte nachweisen, wie schwierig, schmerzhaft und angstbesetzt der notwendige Ablösungsprozess des Kleinkindes aus der frühen Symbiose mit der Mutter ist, und wie stark es hin- und hergerissen wird zwischen seinen Wünschen nach Abgrenzung und Individuation einerseits und dem unbedingten Wunsch, die Geborgenheit der frühen Mutter-Kind-Einheit zu erhalten, andererseits. Erst dieser aufregende Befund machte den Blick auf die Bedeutung des Vaters frei. Nach dem Triangulierungskonzept beginnt die eigentliche Dreiecksbeziehung Mutter-Vater-Kind bereits in der Ablösungsphase zwischen dem neunten und vierzehnten Lebensmonat. Der sog. „Dritte“ bietet dem Kind den notwendigen Halt, wenn es bei der Ablösung von der Mutter durch seine Trennungsangst und Ambivalenz in eine Krise gerät. Die Anlehnung an den Vater hilft ihm, seine Symbiosewünsche mit der Mutter aufgeben zu können. Neben dieser »Pufferfunktion« kommt entscheidend hinzu, dass das Kind in der Dreieckskonstellation zwei voneinander getrennte Liebesobjekte zur Verfügung hat, die Mutter und den Vater. Sie bieten zwei verschiedene Identifizierungsmöglichkeiten, eine weibliche und eine männliche. Dadurch wird der Reifungsprozess des Kindes entscheidend vorangetrieben. Erst durch die Integration beider Anteile kann es ein ganzheitliches, weiblich-männliches Selbstbild aufbauen.

    Zusammenfassend kann man für die wichtige Triangulierungsphase formulieren: Das Familiensystem ist im Gleichgewicht, wenn es der Mutter gelingt, auf die Bedürfnisspannungen des Kindes zwischen seinen Symbiosewünschen und Autonomiebestrebungen einfühlend zu reagieren, und wenn der Vater durch ausreichende Anwesenheit dem Kind genügend Sicherheit bietet, damit es sich aus der mütterlichen Hülle befreien kann. Entscheidend im Sinne der Systemgesetze ist aber auch die Beziehung der Eltern in dieser Zeit. Nur wenn der Mann seine Frau als Partnerin akzeptiert und sie gleichzeitig in ihrer Mutterrolle bestätigt, ist sie innerlich ausgeglichen genug, um das Kind freigeben zu künnen. Umgekehrt wird der Mann seine Vaterrolle umso besser ausfüllen, je mehr er sich von seiner Frau geliebt und in seinem väterlichen Engagement nicht ausgegrenzt fühlt. Eine gelungene Triangulierung stellt also einen Kreislauf wechselseitig positiver Bezogenheit innerhalb des Beziehungsdreiecks dar.

    (2) Die erste ödipale Phase (viertes bis sechstes Lebensjahr)

    Es kann hier nicht der Ort sein, den von Freud formulierten Ödipuskomplex, der dieser Phase ihren Namen gab, und der bekanntlich das inzestuös-sexuelle Begehren des gegengeschlechtlichen Elternteils von drei- bis sechsjährigen Kindern zum Inhalt hat, erneut abzuhandeln. Stattdessen soll ein Entwicklungsaspekt betont werden, der für die Vater-Kind-Beziehung während dieser Zeit prägender sein dürfte. Nach der Ablösung von der Mutter erfährt sich das Kind zum erstenmal als eigenständiges Wesen, das mit neuen Anforderungen einer zunächst fremden Umwelt konfrontiert wird. Da es noch nicht über genügend Erfahrungen und Techniken verfügt, um die daraus resultierenden Gefahren und die mit ihnen verbundenen Ängste aus eigener Kraft zu bewältigen, ist es weiterhin auf Schutz und Hilfe durch die Eltern angewiesen. Die Entwicklungsaufgabe in dieser Zeit, die Umwelt aktiv zu erforschen, sich in ihr zu orientieren und zu behaupten, setzt ein ausreichendes Gefühl der Sicherheit und des Selbstvertrauens über die eigenen Fähigkeiten voraus.

    Die Rolle des Vaters bei der Bewältigung dieses Entwicklungsschrittes kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Anders als die Mutter, die dem Kind hauptsächlich durch ihre Emotionalität und durch sprachliche Kommunikation den notwendigen Rückhalt gibt, vermittelt der Vater ihm die Welt durch aktive Konfrontation, Ermutigung, Förderung und gesellschaftlich vorgegebene Normensysteme. Diese durch fundierte Studien herausgefundenen Unterschiede elterlicher Beziehungsangebote und Erziehungsstile erweisen sich psychologisch in idealer Weise als komplementär. Sie ergänzen emotionale, soziale, kognitive und instrumentelle Anreize zu einer notwendigen Einheit. Dabei wird der Vater in seiner handlungsorientierten und moralischen Vorbildfunktion als positives Objekt verinnerlicht und in den Gewissensinstanzen, dem sog. Über-Ich, verankert.

    (3) Die zweite ödipale Phase (zwölftes bis sechzehntes Lebensjahr)

    Die Pubertät als Übergang zwischen Kindheit und Erwachsensein und als Schnittstelle zwischen Familie und Gesellschaft ist eine Zeit der Unruhe, der Orientierungslosigkeit und des revolutionären Aufbruchs. Die so genannte Identitätskrise in der Pubertät stellt Mädchen wie Jungen gleichermaßen vor die Frage, ob sie den Schritt ins Erwachsenenleben jemals bewältigen werden. Besonders in heutiger Zeit ist die Zukunft der jungen Generation durch ernsthafte Krisen blockiert, worauf viele Jugendliche mit Angst, Resignation, Verzweiflung oder Aggression reagieren. In dieser Situation benötigen sie die Väter stärker als die Mütter. Auch hier lässt sich wieder auf das Gesetz von den komplementären Mutter- und Vaterrollen verweisen. Während die Mutter in ihren biologischen und sozialen Funktionen ab der Geburt die wichtigere Person darstellt, teilen sich die Eltern im idealtypischen Fall während der ersten ödipalen Phase die unterschiedlichen Erziehungsaufgaben. Für den Vater gipfeln sie in seiner Veranwortung für die Kinder in der Pubertät und Adoleszenz.

    Trotz der veränderten Selbstbilder von Frauen und Männern und ihres sozialen Kontextes repräsentiert der Vater eindeutiger zentrale Aspekte der Öffentlichkeit, in die Jugendliche jetzt selbständig hineinwachsen sollen. Von der Art, wie er für seine Kinder in der Pubertät die Weichen stellt und sie in die Welt entlässt, hängt entscheidend ihre Bewährung vor den neuen Lebensaufgaben ab.

    Darüber hinaus wird in der Pubertät mit dem Schritt zur Geschlechtsreife das Gefühl für die eigene psychosexuelle Identität erst grundlegend konstituiert. Nur wenn die Tochter durch die Identifikation mit dem Vater und durch seine Bestätigung ein weibliches Selbstbild und ein positives Männerbild verinnerlichen kann, und der Sohn zu seiner eigenen männlichen Identität findet, werden beide beim Eintritt in die Gesellschaft und in die Welt der Sexualität über ein stabiles Selbstgefühl als Frau oder als Mann verfügen.

    Die Folgen der Vaterentbehrung

    Entwicklungspsychologisch ist einleuchtend, dass je nach Dauer und Intensität der väterlichen Verfügbarkeit die Identifizierungsmöglichkeiten zur Errichtung innerer Vaterbilder variieren. Nach den drei entscheidenden Lebensphasen ist es daher zweckmäßig, zwischen einem frühen, mittleren und späten Vaterverlust zu unterscheiden. Je früher das Kind auf die Haltestrukturen des Vaters verzichten muß, umso gefährdeter ist es in seiner gesamten weiteren Entwicklung. Entsprechend ausgeprägt ist auch das Trauma, das mit jeder Vaterlosigkeit verbunden ist.

    Des, der elfjährige Junge aus dem zitierten Film ist in der Schwere seiner Störungen ein typisches Beispiel für den frühen Vaterverlust im Sinne einer primären Vaterlosigkeit. Charakteristisch für den mittleren Verlust in der ersten ödipalen Phase ist eine Stagnation der nachfolgenden Reifungsschritte. Die Defizite sind aber, je nach den Umweltbedingungen, oft deswegen leichter auszugleichen als beim primären Vaterverlust, weil die Verfügbarkeit des Vaters in dieser Zeit wichtige Grundsteine für die Errichtung eines inneren Vaterbildes und die psychische Struktur des Kindes, wie die Ausbildung einer Gewissensinstanz, soziale Kompetenz und kognitive Fähigkeiten gelegt hat, die im Sinne des Realitätsprinzips günstige Vorbedingungen zur Nachreifung und Bewältigung späterer Lebensaufgaben stellen.

    Die späte Vaterentbehrung in der Pubertät legt die Annahme eines vergleichsweise milden Traumas nahe. Tatsächlich zeigt die Untersuchung von Scheidungskindern in diesem Alter den geringsten Grad an psychischer Belastung und psychosozialen Langzeitschäden. Wenn man jedoch die Besonderheiten der Pubertät und Adoleszenz berücksichtigt, sind solche Forschungsergebnisse kein Anlass zur Beruhigung. Sie basieren auf Durchschnittserfahrungen an größeren Gruppen, sagen aber nur wenig über die Verarbeitung des Traumas im Einzelfall aus. Außerdem erfassen sie nur die gröberen Störungen, während das subtile Leiden in empirischen Studien meist unentdeckt bleibt. Bei keiner erlebten Trennung oder Scheidung in der Pubertät lassen sich dramatische Entwicklungen ausschließen und in ihrer Langzeitwirkung zuverlässig einschätzen. In der Praxis ist man immer wieder überrascht, mit welchem Ausmaß an Depressionen, Resignation und Verzweiflung gerade Jugendliche auf die Trennung der Eltern mit dem definitiven Verlust des Vaters reagieren, wobei soziales Versagen bis hin zu kriminellen Entgleisungen nicht ausgeschlossen sind. Wie wir gesehen haben, bildet der Vater in der Sinn- und Orientierungskrise der Pubertät einen wichtigen Brückenkopf zur Außenwelt. Unter seinem Verlust brechen diese Stützen plötzlich weg, und der Jugendliche wird noch stärker in die Strudel seiner Verwirrungen hineingezogen.

    Im Zusammenhang mit der Vaterentbehrung ist der Begriff des Traumas essentiell. Nach Auffassung des modernen Fachgebiets der Psychotraumatologie werden Traumata durch einmalige oder chronische Lebensereignisse erzeugt, durch die ein Individuum in seinen normalen Möglichkeiten zur Bewältigung einer krisenhaften Situation absolut überfordert ist, wodurch es zu einem Zusammenbruch entscheidender Regulationsmechanismen für das innere Gleichgewich kommt.

    Zu den wichtigsten traumatischen Ereignissen zählen: Mutterentbehrung, sexueller Missbrauch und Misshandlung von Kindern, Vergewaltigung, KZ-Haft, Folter, schwere Kriegserlebnisse, Flüchtlingsschicksal, Geiselhaft, Opfer von Natur- und technischen Katastrophen und tragische Verkehrsunfälle. Es ist auffallend, dass der Verlust des Vaters in solchen Auflistungen bis heute nicht auftaucht. Am Beispiel der angeborenen Motivsysteme, die erst durch die neuere Säuglingsforschung genauer differenziert wurden, lässt sich jedoch, hier sehr verkürzt, nachweisen, dass jede Vaterentbehrung ein schweres Trauma darstellt. Dabei sind folgende Motive besonders betroffen: das Motiv der Bindung, das Motiv von Schutz und Sicherheit, das Motiv der Orientierung, das Motiv der Selbstbehauptung und Selbstbewahrung und das Motiv der Selbstwertschätzung. Nur wenn diese Motive durch die ständige Rückkoppelung mit der Umwelt bestätigt und weiterentwickelt werden, entsteht daraus ein ganzheitliches Gefühl für die Kontinuität und Kohärenz im Selbst als Grundlage eines stabilen Selbst-Bewusstseins und einer eigenen Identität.

    Wenn man zu diesem Konzept der Motivsysteme einige Funktionen des Vaters in Beziehung setzt, wird die traumatische Wirkung seines Verschwindens evident. Der Vater ist neben der Mutter die früheste und lebenswichtigste Bindungsperson des Kindes; er repräsentiert Schutz und Sicherheit gegenüber den Bedrohungen der Außenwelt; durch seine stärkere gesellschaftliche Verankerung bietet er dem Kind spätestens ab der ersten ödipalen Phase prägende Orientierungen bei dessen Lebensentwurf an; für Mädchen wie für Jungen sind die Identifizierungen mit dem Vater und die Verinnerlichung eines positiven Vaterbildes notwendige Bestandteile der Selbstbehauptung und Selbstbewahrung; und schließlich dienen Bestätigung, Besorgnis und Förderung durch den Vater in entscheidender Weise der Selbstwertschätzung, ohne die eine Selbstverwirklichung nicht gelingt.

    Jede Vaterentbehrung stellt also eine Kombination aus akutem und chronischem Trauma dar. Der Trennungsschock und der anschließend dauerhafte Verzicht auf den Vater greifen maßgeblich in die psychischen Reifungsprozesse ein und behindern den Aufbau eines stabilen Selbst durch die Verletzung seiner Motivsysteme. Dabei geht neben dem Vater auch immer ein Teil des eigenen Selbst verloren. Die Erschütterung des Selbsterlebens führt immer auch zu einem Kommunikations- und Bindungsverlust und zu einer Beeinträchtigung des Weltverständnisses. Damit kommt es zu einer Entfremdung von sich und den anderen, die die völlige Entwurzelung des Subjekts besiegeln kann.

    Die Traumaforschung hat uns eine Vorstellung darüber vermittelt, wie ein von Angst, seelischem Schmerz, narzisstischer Verletzung, Wut, Depression und Einsamkeit gezeichnetes Subjekt auch in seinen Ich-Fähigkeiten eingeschränkt wird. Das Ich als zentrale innere Instanz für Kognition, Lernen, Denken und planendes Handeln gerät durch seine Überflutung mit ungeordneten Gefühlskräften in einen Zustand der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit, die seine Funktionen bis zur völligen Apathie lahmlegen können.

    Nach allem lassen sich die als wissenschaftlich gesicherten Auswirkungen eines Vaterverlustes in ihrem Trend kurz zusammenfassen:

    (1) Für den intellektuellen Bereich, der sich durch Schulnoten, Leistungstests, Berufsabschlüsse und am beruflichen Erfolg überprüfen lässt, besteht in der Forschung weitgehende Übereinstimmung über die negative Wirkung der Vaterentbehrung. Davon sind Jungen und Mädchen gleicherweise betroffen.

    (2) Für die eigene Geschlechtsrollenentwicklung verweisen alle Befunde auf die entscheidende Funktion der Mutter. Wenn ihr weibliches Selbstbild ungestört bleibt und sie das männlich-väterliche Prinzip weiterhin akzeptiert, können sowohl Mädchen als auch Jungen ein stabiles sexuelles Identitätsgefühl und befriedigende Partnerbeziehungen entwickeln. Anderenfalls drohen für Mädchen und Frauen die Gefahren des sexuellen Missbrauchs in der Kindheit, frühe Schwangerschaften, frühe Ehen und schwere Partnerprobleme; Jungen und Männer sind häufig durch sexuelle Störungen, Bindungslosigkeit zu Frauen, Don Juanismus oder andere Partnerschwierigkeiten belastet.

    (3) Für die Gesellschaft am besorgniserregendsten sind die sozialen Folgen der Vaterentbehrung, die sich bei Jungen am nachhaltigsten niederschlagen. Wenn das für sie so wichtige männliche Identifikationsobjekt entfällt, bleibt ihre Gewissensbildung unterentwickelt. Dadurch kann sich das bei ihnen stärker als bei Mädchen ausgeprägte Triebpotential der Aggression zu einer gefährlichen, weil ungesteuerten Kraft entwickeln. Deswegen ist bei ihnen der Weg von der Verwahrlosung zur Gewaltkriminalität, oft im Zusammenhang mit Alkohol- oder Drogenabhängigkeit, nicht weit. Die Zahlen, die über die verschiedenen Formen sozialer Entgleisung bei Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden vorliegen, sind in der Tat alarmierend.

    (4) Schließlich sind die ernsthaften seelischen Erkrankungen zu nennen. Untersuchungen an erwachsenen Patienten zeigen eine Häufung vaterloser Schicksale bei Neurosen, Depressionen, schweren Persönlichkeitsstörungen, Schizophrenie, Drogen- und Alkoholsucht und bei Selbstmordversuchen und Selbstmorden. Für alle diese Erkrankungen sind ein tiefes Misstrauen in die Verlässlichkeit menschlicher Bindungen und ein starker Selbsthass, weil man sich selbst nicht für liebenswert hält, charakteristisch.

    Die genannten Störungen bedeuten nicht nur Leiden für die Betroffenen, sondern eine hohe Belastung des Gemeinwesens. Deswegen plädiert der Mentor der deutschen Väterforschung Fthenakis für eine dringliche Verbesserung der gesellschaftlichen Rahmenbedingen und des sozialen Netzwerks zur Reorganisation der Familie nach einem Vaterverlust. Seine Schlußfolgerung: „Eine Familie ohne Vater ist demnach nicht per se als defizitär anzusehen“, kann ich jedoch nicht teilen. Sie entspringt nach meiner Auffassung einem Wunschdenken, wie es auch in der Öffentlichkeit besteht. Das Defizit, das ein verlorengegangener Vater hinterlässt, bedeutet immer Schmerz, Trauer und Einsamkeit, bedeutet ein Trauma. Ob und wie es sich ausgleichen und verarbeiten lässt, ist die Herausforderung an eine Kultur, die die Vaterentbehrung als kollektives Phänomen begreifen lernen und als Teil der eigenen Ordnung anerkennen und integrieren muß.

    Vaterentbehrung und Umwelt

    Die Schwere des beschriebenen Traumas hängt nicht allein vom Zeitpunkt des Vaterverlustes ab, sondern entscheidend auch von den fördernden oder hemmenden Einflüssen des sozialen Umfeldes. Neben der Restfamilie (Mutter, Geschwister, Verwandtschaft) bilden Stiefväter, Ersatzväter, Freundschaften, spätere Partnerschaften und die gesamten sozialen Rahmenbedingungen ein weites soziales Netzwerk. Seine Qualität entscheidet über jede Art der Lebensbewältigung und im Fall eines Traumas über die heilenden oder zusätzlich belastenden Einflüsse bei seiner Überwindung.

    In der Scheidungs- und Vaterdeprivationsforschung besteht jedoch Einigkeit darüber, dass bei einem Vaterverlust die Mutter im sozialen Netzwerk des Kindes die wichtigste Beziehungsperson darstellt. Sie hat die größte Last bei der Verarbeitung des Traumas für das Kind zu tragen. Sie muss – meist allein – die vielfältigen Bedürfnisse des Kindes befriedigen, muss deren Verletzung, Trauer, Trennungsschmerz und Wut nach der Vaterentbehrung auffangen, muss die eigenen aus der Tiefe andrängenden Gefühlskräfte unter Kontrolle bringen, die bei ihr selbst durch den Partnerverlust aufgewühlt werden, und muss die Kinder vor deren zerstörerischem Potential schützen. Wahrlich, eine heroische Aufgabe! An ihr zu scheitern ist menschlich. Aber das Scheitern ist mit Schuld- und Versagensgefühlen verbunden, wodurch das innere Gleichgewicht noch stärker erschüttert wird. Wenn dann noch der von feministischer Seite ausgehende Erwartungsdruck hinzukommt, die Ideologie, die Mutter müsse und könne das alles alleine bewältigen und sogar besser als mit einem anwesenden Vater, kann die Hilflosigkeit und Ohnmacht in panische Ängste, schwere Depressionen und Verzweiflung umschlagen. Außerdem wird die seelische Überforderung sehr häufig durch die Verschlechterung der sozialen und ökonomischen Lebenssituation nach Ausfall des Vaters noch gesteigert. Unter all diesen Voraussetzungen sind dem Durchbruch der Irrationalität keine Grenzen gesetzt.

    Die häufigsten Gefahren einer mangelnden Affekt- und Triebkontrolle liegen in einer Einfühlungsverweigerung in das Leiden der Kinder; im Gegenteil können diese zu physischen und psychischen Opfern eines Medea gleichen Rachekomplexes werden; die Projektion der eigenen Schuldgefühle auf den Mann rechtfertigt, auch vor den Kindern, seine Verfolgung und Entwertung und stürzt diese in schwere Loyalitätskonflikte; außerdem werden die Kinder häufig als Bündnispartner im Kampf gegen den Vater, als Partnerersatz, als narzisstische Substitute zur Stabilisierung der inneren Leere der Mutter oder als Sündenböcke missbraucht und müssen neben ihrem eigenen Gefühlschaos noch die Überflutung mit den mütterlichen Ängsten, Depressionen und anderen psychischen Problemen nach dem Trennungsverlust verarbeiten; dabei kommt es leicht zur Parentifizierung, zur Elternersatzbildung der Kinder, die als Tröster und Beschützer die Erwachsenenrolle gegenüber der kindlich regredierten Mutter übernehmen sollen.

    Abhängig von der seelischen Disposition der Mutter und ihrer Verarbeitung des Partnerverlustes weisen alle diese Verschiebungen und Überwerfungen im Mutter-Kind-Verhältnis auf die zusätzlichen Belastungen hin, die Kinder neben der Vaterentbehrung zu bewältigen haben. In einer systemischen Formel ausgedrückt: ein Paardrama ist ein Vater-Kind-Drama ist ein Mutter-Kind-Drama. Damit wird Müttern, ob freiwillig oder unverschuldet, eine Hypothek aufgeladen, die kaum jemals ohne schwerwiegende Konflikte für sie selbst und die Kinder abgetragen werden kann. Nach allen vorliegenden Erfahrungen gibt es daher keinen Grund, das Los der Mütter nach einem Vaterverlust schönzureden. Ein Vaterverlust ist nach neuestem Forschungsstand auch durch keine noch so gute Bemutterung zu kompensieren. Das bedeutet: Trotz der vielfältigen Entlastungen durch ein enges Netz von Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungseinrichtungen bleiben die Elementarbeziehungen des Kindes die zu seinen Eltern. Sie konstituieren seine Bindungsfähigkeit und die Ausdifferenzierung seiner psychischen Struktur und stiften als äußere und verinnerlichte Objekte die Grundlagen seines Selbstgefühls und seiner Identität. Der Zusammenbruch dieses ursprünglichen Systems der Einheit von Eltern und Kindern und seine Reorganisation durch alternative Familienmodelle kann immer nur zu Teillösungen führen. Nach den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte müssen wir jenseits aller Utopien diese Tatsache realisieren lernen. Besonders die zur Ideologie geratene Auffassung, die Mutter könne allein den Ausfall des Vaters kompensieren, entstammt einem illusionären Wunschdenken im Rahmen einer missverstandenen Emanzipation. In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff „alleinerziehende Mutter“ ein Euphemismus. Mit der Erziehung ist es nicht getan. Entscheidend für die psychische Entwicklung des Kindes sind seine emotionalen Beziehungen, nach denen sich der Erfolg jeder Erziehung erst bemisst. Im Sinne einer ganzheitlichen Persönlichkeit benötigt das Kind dazu das komplementäre Bindungs- und Beziehungsgefüge zur Mutter und zum Vater. Die geschilderten Veränderungen im Mutter-Kind-Verhältnis nach einem Partner- bzw. Vaterverlust gelten als wichtige Bestätigung dieser entwicklungspsychologischen Grundannahme.

    Geschlechterdemokratie im 21. Jahrhundert

    Im breiten Spektrum der Möglichkeiten, das Trauma der Vaterentbehrung zu lindern, spielt die gesellschaftspolitisch aktuelle Debatte über eine neue „Geschlechterdemokratie“ ein zentrale Rolle. Vordergründig scheint sie durch die zunehmenden Scheidungsraten und die sichtbar gewordenen Grenzen des Geschlechterkampfes zustande gekommen zu sein. Der tiefere Grund liegt möglicherweise in der langsamen Auflösung einer kollektiven Verdrängung, eines Tabus, das bisher die Vaterentbehrung umgeben hat. Dazu müssen wir uns klarmachen, dass die Zahlen über nichteheliche, Trennungs- und Scheidungskinder die Tatsache verdecken, dass sich das wahre Ausmaß des Vaterverlustes in der Gesamtbevölkerung gar nicht bestimmen lässt, erstens, weil ein großer Teil der über Achtzehnjährigen bereits durch Scheidung vaterlos aufgewachsen ist und zweitens weil eine erhebliche Bevölkerungsgruppe noch zur Kriegsgeneration zählt, die durch 5,25 Millionen kriegstoter Soldaten, darunter Millionen von Vätern, belastet ist. In dem 1963 von A. Mitscherlich veröffentlichten Buch „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“, trifft man auf die Ungeheuerlichkeit, dass er die reale Vaterlosigkeit aus seiner sozialpsychologischen Analyse ausdrücklich ausklammert und die so genannte „Unsichtbarkeit“ der Väter allein aus den industriellen Arbeitsbedingungen ableitet. Diese Verleugnung erfolgte zu einer Zeit, als der millionenfache Vaterverlust sowohl durch den Ersten als auch verstärkt durch den Zweiten Weltkrieg noch als klaffende Wunde durch die Bevölkerung ging. Sie war so schmerzhaft und gleichzeitig von unsäglichen Schuldgefühlen über die Verbrechen des Dritten Reiches begleitet, dass es, thesenhaft formuliert, zu einer kollektiven Verdrängung des Traumas kam, das bis in die jüngste Zeit weder wissenschaftlich noch in der Öffentlichkeit aufgearbeitet wurde. So blieb auch unreflektiert, dass es die real vaterlose Nachkriegsgeneration war, die in der 1968iger Bewegung der traditionellen Familie ideologisch und faktisch „den Krieg erklärte“ und damit wiederum eine Kindergeneration gezeugt hat, von der große Teile ihre Väter diesmal nicht durch einen militärischen, sondern durch den Krieg der Geschlechter verloren haben. Diese vaterverlassenen Kinder von Vätern ohne Vater stellen Teile der heutigen jungen Vatergeneration dar.

    In der Traumaforschung nennt man eine solche Tradition die „unbewußte Weitergabe eines Traumas von Generation zu Generation“. Seine kollektive Verleugnung hat in Teilen der radikalen Frauenbewegung sogar zu der paradoxen Umkehrung nach dem Grundsatz geführt: „Ohne Vater ist alles viel besser“. Da sich bei der derzeitigen Unübersichtlichkeit und dem Chaos in den Geschlechterbeziehungen das Drama der Vaterentbehrung ausweiten wird, ist es dringend an der Zeit, das Tabu, durch das sich kollektive Abwehrformen aus Gleichgültigkeit, Desinteresse, Gefühllosigkeit, Gewöhnung und Abstumpfung herausbilden, aufzulösen. Nur wenn der Vaterverlust nicht weiter im kollektiven Unbewussten abgespalten bleibt, sondern als Katastrophe für die Betroffenen und für den Frieden der sozialen Gemeinschaft bewusst gemacht wird, können präventive Maßnahmen greifen.

    Ein erster, fast revolutionär zu bezeichnender Reformschritt dazu war das Inkrafttreten des „Neuen Kindschaftsrechts“ im Juli 1998, von dessen zentralen Zielen man eines mit der Formulierung auf den Punkt bringen könnte: „Jedes Kind hat ein Recht auf beide Eltern“.

    Nur ein Emanzipationsbündnis von Frauen und Männern –von Müttern und Vätern – so ihr Grundsatz, ist in der Lage, über die formalisierten Bedingungen der Gleichberechtigung hinaus ein tieferes Gefühl für die Gleichwertigkeit beider Geschlechter zu schaffen.

    Erst wenn ein tieferes Gefühl für die Gleichwertigkeit beider Gechlechter im Bewusstsein der Öffentlichkeit und in den gesellschaftlichen Institutionen breit verankert ist, lässt sich die Polarität der Geschlechter zu Gunsten einer komplementären Beziehung nach demPrinzip wechselseitiger Anerkennung und Fürsorge auflösen. Die amerikanische Psychoanalytikerin Jessica Benjamin war eine der ersten, die mit Nachdruck die Überwindung der Spaltung zwischen Frauen und Männern propagierte. Sie setze ein solidarisches Handeln voraus, durch das ein Gleichgewicht in der Verteilung der familiären und beruflichen Rollenaufgaben erst erreicht werden könne. Es handelt sich bei diesem Konzept einer „Geschlechterdemokratie“ um ein Großprojekt für das 21. Jahrhundert. Es setzt nicht nur bei jedem einzelnen Bereitschaft und Eigenschaften wie Konfliktfähigkeit, Toleranz und Versöhnungsbereitschaft voraus; es erfordert auch einen gesellschaftlichen Umbau auf vielen Gebieten, am einschneidensten in der Gestaltung der Arbeitswelt. Wenn die unversöhnte Beziehung der Geschlechter in eine produktive Gemeinsamkeit einmünden und zu einer neuen Kultur des Dialogs führen soll, werden alte und liebgewordene Prinzipien aufgegeben und durch innovative ersetzt werden müssen.

    So steht am Beginn des neuen Jahrhunderts mit seinen familiären Katastrophen die Hoffnung auf die evolutionäre Kraft der menschlichen Vernunft und der Psyche, die in absehbarer Zukunft das Demokratiebewusstsein vorantreiben und zur Erfindung tragfähiger Familienstrukturen beitragen werden. Nur durch sie lässt sich die transgenerationale Weitergabe des Traumas der Vaterentbehrung unterbrechen.

    Gekürzte Fassung des gleichnamigen Beitrags, erschienen in: Psychoanalytische Familientherapie, 2. Jahrgang, Nr. 2, 2001, Heft 1. Wir danken dem Psychosozial-Verlag für die Genehmigung.

    Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.

    Prof. Dr. Horst Petri ist Kinder- und Jugendpsychiater und Psychoanalytiker in Berlin

  • fK 4/02 Rezensionen

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Buchrezensionen

    Kindeswohl noch nicht bestmöglich gesichert

    „In fachlicher Perspektive aber besteht kein Zweifel, dass es mit der jetzigen Regelung des § 50 FGG nicht getan ist.“ Das Fazit einer sehr beeindruckenden, ausführlichen Abhandlung zum Thema Kindeswohl und Kindeswille.

    Mit hartnäckiger Genauigkeit belegt Maud Zitelmann: Die Umsetzung des Kindeswohls lässt trotz der Reform des Kindschaftsrechts noch immer sehr zu wünschen übrig.

    Die Erziehungswissenschaftlerin begibt sich mit ihrem Thema auf ein Terrain, das von mehreren Fachwissenschaften besiedelt ist. Dazu streift sie die historische Entwicklung der Begriffe Kindeswohl und Kindeswille und unterzieht das verfügbare wissenschaftliche Material jedes Fachgebiets einer gründlichen Analyse. Minuziös taucht sie in die Welt der Rechtssprechung, der Psychologie und der (Sozial-)Pädagogik ein. Sie beleuchtet die Begriffe Kindeswohl und Kindeswille aus den unterschiedlichsten Perspektiven – verständlich auch für denjenigen, der einer bestimmten Fachsprache nur in Ansätzen mächtig ist.

    Zitelmanns Präzision gipfelt in ihren detaillierten Forderungen. Neben einer Begleitforschung zu vielen Aspekten, verlangt sie eine professionelle, sorgfältigere Überprüfung des Kindeswillens. Sie will die Garantie, dass er gemäß dem Willen des Gesetzgebers in der Praxis auch tatsächlich in gerichtliche Entscheidungen einbezogen wird. Für Zitelmann bedarf es einer Vereinheitlichung der Position: Interessenvertretung des Kindes. Diese soll nicht nur „Sprachrohr“ für den Kindeswillen sein. Sie soll als „einflussreiche, interagierende Mittlerin zwischen den Welten“ gleichzeitig auf das Kindeswohl abzielen. Dazu braucht es nach Zitelmann Menschen, die engagiert sind und interdisziplinär orientiert, die vor allem vom Kinde aus denken und zugunsten von Kindern auf ihre Beliebtheit verzichten können.

    Ein Fachbuch, das der Leser – trotz der einschüchternden Fußnotenberge auf jeder Textseite – gern lesen wird, weil das Kind als Subjekt glaubwürdig im Mittelpunkt steht.

    Stephanie Müller

    Maud Zitelmann: Kindeswohl und Kindeswille im Spannungsfeld von Pädagogik und Recht. Votum Verlag, Münster 2001, 431 S., 24,80 Euro

    Chance liegt in verbesserter Interdisziplinarität

    Wo es um das Kindesinteresse geht, stoßen Juristen auf der einen und Psychologen wie Pädagogen auf der anderen Seite an die Grenzen ihres Fachgebiets. In Fällen, die das Sorgerecht, das Umgangsrecht, Herausgabe oder Adoption betreffen, sollen sie bestmöglich für Kinder entscheiden. Dazu müssen sie fachübergreifend mit den Begriffen Kindeswohl und Kindeswille arbeiten. Beide sind zugleich unscharf, aber von großer Bedeutung für das Schicksal von Menschen.

    Dettenborn will mit seinem Buch für Praktiker die Kluft zwischen den beteiligten Disziplinen verringern und den Erklärungswert der Begriffe Kindeswohl und Kindeswille steigern. Er bietet dem Leser eine übersichtlich gegliederte Analyse und füllt Worthülsen mit Inhalt, indem er die Erkenntnisse der Familienrechtspsychologie zugrunde legt. Aktualität gewinnen seine Ausführungen besonders dadurch, dass er eines der großen Streitthemen aufgreift: Die Bedeutung des Parental Alienation Syndrom (PAS).

    Ein Buch für jeden, der bereit ist, die Sprache des jeweils anderen Fachgebiets zu verstehen, um sich für die Interessen von Kindern sensibilisieren zu lassen.

    Stephanie Müller

    Harry Dettenborn: Kindeswohl und Kindeswille. Ernst Reinhardt Verlag, München 2001, 145 S., 19,90 Euro

  • fK 4/02 Kinderrechte aktuell

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Wir sind die Kinder dieser Welt

    Botschaft der Kinderdelegierten vom Weltkindergipfel in New York

    Wir sind die Kinder dieser Welt.

    Wir sind die Opfer von Ausbeutung und Missbrauch.

    Wir sind Straßenkinder.

    Wir sind Kriegskinder.

    Wir sind die Opfer und Waisen von HIV/AIDS.

    Uns wird eine gute Ausbildung und Gesundheitsfürsorge verweigert.

    Wir sind die Opfer von politischer, wirtschaftlicher, kultureller, religiöser und umweltpolitischer Diskriminierung.

    Wir sind die Kinder, deren Stimmen nicht gehört werden: es ist Zeit, uns Beachtung zu schenken.

    Wir wollen eine kindergerechte Welt, denn eine geeignete Welt für uns ist eine geeignete Welt für jeden.

    In dieser Welt sehen wir Respekt für die Kinderrechte

    Regierungen und Erwachsene, die ein wirkliches und nachhaltiges Engagement für das Prinzip der Rechte für Kinder zeigen und die die Kinderrechtskonvention auf alle Kinder anwenden

    Sichere und gesunde Lebensumfelder für Kinder in Familien, Gemeinden und Nationen

    Wir sehen ein Ende der Ausbeutung, des Missbrauchs und der Gewalt

    Gesetze, die Kinder vor Ausbeutung und Missbrauch schützen, werden verabschiedet und von allen respektiert

    Zentren und Programme, die den missbrauchten Kindern helfen, ihr Leben wieder aufzubauen

    Wir sehen ein Ende von Kriegen

    Regierungschefs, die Konflikte durch Friedensgespräche lösen, statt mit Streitkräften

    Flüchtlingskinder und Kinder, die Opfer von Kriegen sind, werden beschützt und haben die gleichen Chancen wie alle anderen Kinder

    Abrüstung, die Abschaffung des Waffenhandels und ein Ende des Einsatzes von Kindern als Soldaten

    Wir sehen die Bereitstellung einer Gesundheitsfürsorge

    Erschwingliche und leicht zugängliche lebensrettende Medizin und Behandlung für alle Kinder

    Starke und verlässliche Partnerschaften zwischen allen werden etabliert, um eine bessere Gesundheit für Kinder zu gewährleisten

    Wir sehen die Auslöschung von HIV/AIDS

    Bildungssysteme, die Programme zur HIV-Prävention enthalten

    Kostenlose Tests und Beratungszentren

    Informationen über HIV/AIDS, die frei erhältlich sind für die Öffentlichkeit

    Für AIDS-Waisen und Kinder, die mit HIV/AIDS leben, wird gesorgt und sie haben dieselben Möglichkeiten wie alle anderen Kinder

    Wir sehen den Schutz der Umwelt

    Bewahrung und Rettung der natürlichen Ressourcen

    Bewusstmachung der Notwendigkeit, in einer Umwelt zu leben, die gesund und förderlich ist für unsere Entwicklung

    Leicht zugängliche Umgebung für Kinder mit besonderen Bedürfnissen

    Wir sehen ein Ende des Teufelskreises der Armut

    Komitees gegen die Armut, die Klarheit über die Ausgaben schaffen und Aufmerksamkeit auf die Nöte von allen Kindern lenken

    Streichung der Schulden, die den Fortschritt für Kinder behindern

    Wir sehen die Bereitstellung von Bildungsmöglichkeiten

    Gleichberechtigung sowie kostenloser und obligatorischer Zugang zu qualitativ hochwertiger Bildung

    Schulumgebungen, in denen Kinder gern lernen

    Bildung für das Leben, die über das Schulische hinausgeht und Lehren über Verständnis, Menschenrechte, Friede, Akzeptanz und aktive Staatsbürgerschaft beinhaltet

    Wir sehen die aktive Beteiligung von Kindern

    Erhöhtes Bewusstsein und Respekt von Menschen aller Altersstufen vor den Rechten jedes Kindes zu voller und ernsthafter Partizipation im Geist der Kinderrechtskonvention

    Kinder, die auf allen Ebenen aktiv beteiligt sind an Entscheidungen und in der Planung, Ausführung, Überwachung und Auswertung aller Dinge, die die Rechte des Kindes betreffen

    Wir verpflichten uns zu einer gleichberechtigten Partnerschaft im Kampf für Kinderrechte. Und während wir versprechen, euch bei Aktionen, die ihr im Namen der Kinder unternehmt, zu unterstützen, bitten wir euch auch um euer Engagement und Unterstützung bei den Vorhaben, die wir unternehmen – denn die Kinder dieser Welt werden missverstanden.

    Wir sind nicht die Ursache der Probleme, wir sind die Mittel, die gebraucht werden, um sie zu lösen.

    Wir sind keine Ausgaben, wir sind Investitionen.

    Wir sind nicht nur junge Leute, wir sind Menschen und Bürger dieser Welt.

    Bis andere ihre Verantwortung für uns akzeptiert haben, werden wir für unsere Rechte kämpfen.

    Wir haben den Willen, das Wissen, die Sensibilität und die Hingabe.

    Wir versprechen, uns gegenseitig mit Würde und Respekt zu behandeln. Wir versprechen, offen und einfühlsam gegenüber unseren Unterschieden zu sein.

    Wir sind die Kinder der Welt, und trotz unserer unterschiedlichen Hintergründe, teilen wir eine gemeinsame Realität.

    Wir sind geeint in unseren Bemühungen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

    Ihr nennt uns die Zukunft, aber wir sind auch die Gegenwart.

    Auszug aus der Botschaft des Kinderforums, die von den rund 400 Kinderdelegierten auf dem Weltkindergipfel der Vereinten Nationen vom 8.-10. Mai 2002 in New York verabschiedet wurde.

  • fK 4/02 Müller2

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    PAS-Streit gefährdet Kindeswohl

    Ein Bericht von Stephanie Müller

    Für die Einen muss das Eltern-Kind-Entfremdungs-Syndrom (PAS) in Scheidungsprozessen stärker berücksichtigt werden. Für die Anderen stellt es eine überflüssige, unwissenschaftliche Größe dar. Aus dem Dschungel der gegenseitigen Vorwürfe gibt es zur Zeit keinen Ausweg. Die Kinder haben nichts davon.

    Wo unproduktiv gestritten wird, werden wertvolle Energien verschenkt. Das gemeinsame Ziel wird am Ende nicht erreicht. So auch in der deutschen Fachwelt, wenn es um das PAS (Parental Alienation Syndrome) geht. Im Vordergrund soll die Verwirklichung des Kindeswohls stehen, ein sensibler Begriff. In der Auseinandersetzung sind die Bedürfnisse der Kinder aus dem Mittelpunkt gerückt, gekämpft wird auch mit Entrüstung, Rechtfertigung und Polemik.

    PAS heißt der Zankapfel, um dessen Wichtigkeit und Nutzen Juristen, Psychiater und Therapeuten ringen. Im Zentrum steht ein Verhalten, das angeblich vorwiegend Mütter einsetzen, wenn sie gegen den ehemaligen Partner um das gemeinsame Kind kämpfen. Gemeint ist die Beeinflussung des Kindeswillens, die krankhafte Hetze gegen den verhassten Ex.

    In PAS-Fällen gibt es einen entfremdenden Elternteil. Nämlich den, bei dem das Kind wohnt. Von diesem Elternteil wird das Kind manipuliert, programmiert, kurz: es wird einer Gehirnwäsche unterzogen, bis es den anderen Elternteil nicht mehr sehen möchte. Dem Kind erscheint das Elternpaar aufgespaltet in einen ausschließlich guten und einen ausschließlich schlechten Elternteil.

    Das Eltern-Kind-Entfremdungssyndrom ist in den USA bereits seit Mitte der 1980er Jahre bekannt. Sein Erfinder ist der Kinderpsychiater Prof. Richard Gardner. Er schätzt, dass PAS in etwa 90 Prozent aller strittigen Sorgerechtsfälle auftritt.

    Die Berliner Fachanwältin für Familienrecht, Ingeborg Rakete-Dombek, kann die Ausführungen Gardners kaum ernst nehmen. Für sie war es auch schon ohne Gardners PAS-These eine Tatsache, dass der Kindeswille beeinflusst sein kann und dass diese Möglichkeit in Verfahren vor Gericht genau zu prüfen ist. Sie wirft dem Amerikaner zudem vor, die Dinge zu vereinfachen: „PAS ist alter Wein in neuen Schläuchen. Und wissenschaftlich nicht fundiert. Gardner zitiert nur sich selbst. Er sagt, PAS liegt dann und dann vor und setzt eine sehr niedrige Schwelle an. Er sagt, das sei für das Kind krank machend und damit eine Kindeswohlgefährdung. Dadurch kommt er auf § 1666 BGB, zum Entzug der elterlichen Sorge. Und dann kann er einfach sagen, der, der das macht, dem wird die elterliche Sorge entzogen. Dem Anderen wird sie übertragen, das Kind wird von hier nach da versetzt. Und das ist in dieser Vereinbarung Unsinn.“

    Die Rechtsanwältin ist der Meinung, dass die ablehnende Haltung eines Kindes gegenüber einem Elternteil seinen Ursprung auch im begründeten Willen des Kindes selbst haben kann. Kinder, so Rakete-Dombek, würden sich aus dem Streit der Eltern am liebsten heraushalten. „Wenn die merken, die Konflikte nehmen Überhand und es gibt jedes mal einen Konflikt, dann entscheiden die sich einfach irgendwann und sagen: ‚Das stinkt mir jetzt. Ich sage jetzt, ich bleibe da, wo ich bin‘. Das muss man auch ernst nehmen. Weil das für die Kinder den Loyalitätskonflikt einfach zunächst beendet.“

    Die Familientherapeutin und PAS-Kennerin Wera Fischer sieht in dieser Form der Argumentation das große Missverständnis, aufgrund dessen sich die bisweilen feindselige Debatte um das Syndrom überhaupt nur entwickeln konnte.

    „Gegen PAS wird häufig argumentiert mit Fällen, die keine PAS-Fälle sind. Man sagt: ‚Aber die Ursache für die ablehnende Haltung liegt doch ganz woanders‘. Es gibt viele andere Gründe, die die ablehnende Haltung des Kindes hervorrufen können, aber das ist mit PAS dann einfach nicht beschrieben und auch nicht gemeint“, so Fischer.

    Befragt zur Häufigkeit von PAS kann die Therapeutin keine konkreten Angaben machen. Sie weiß jedoch, dass die ganz schweren Fälle nur einen äußerst geringen Anteil darstellen.

    Mit Gardners Angaben von rund 90 Prozent PAS-Vorkommen in allen strittigen Sorgerechtsfällen bleiben ganze 10 Prozent, mit denen falsch argumentiert werden könnte. Wird in deutschen Fachkreisen um dieses Zehntel gestritten?

    Wohl kaum. Dieser Ansicht ist auch Prof. Dr. Jörg Michael Fegert vom Universitätsklinikum in Ulm. Er bezieht seine Kritik direkt auf die Fälle des Eltern-Kind-Entfremdungssyndroms: „Über PAS wird, finde ich, zurecht gestritten, weil PAS eine unheimlich bequeme Plädierformel ist und deshalb auch im juristischen Schrifttum gern aufgegriffen wird. Aber es gibt kaum empirische Grundlagen. PAS ist nicht untersucht, ist auch, wenn man Gardners Literatur liest, empirisch nicht bestätigbar.“ Für den Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie gibt es zwei wesentliche Argumente, die den PAS-Begriff unbrauchbar machen. Das erste bezieht sich auf seine Unwissenschaftlichkeit, das zweite auf die missbräuchliche Anwendung.

    Fegert hält PAS zunächst für eine überflüssige Kategorie: „Ich halte sie deshalb für so unnötig, weil wir in der Fachliteratur für die vehementen Effekte von Beeinflussung, die ich gar nicht bestreiten will, aber die sehr selten sind, eigentlich Begriffe haben.“ Diesen Begriffen liegen nach Fegert diagnostische Kataloge zugrunde. Mit ihnen kann beispielweise bestimmt werden, ob bei einem Erwachsenen, dessen Kind Anzeichen von Beeinflussung erkennen lässt, eine psychische Erkrankung vorliegt.

    „Das sind schwere psychopathologische Phänomene. Die sind erkennbar und die sind abzugrenzen von dem Alltagsphänomen, nämlich dass Kinder im Loyalitätskonflikt häufig versuchen, es beiden Eltern recht zu machen. Das ist manchmal noch nicht mal so sehr Einfluss, sondern dass die Kinder auch antizipieren und versuchen sich zu überlegen, was wäre welchem Elternteil recht. Und das führt natürlich bei Eltern zu Verwirrung, weil sie dem einen Elternteil das und dem andern Elternteil jenes sagen“, sagt Fegert.

    Der Wissenschaftler ist sich sicher: „Selbst Leute die sich auf das PAS berufen, merken, wenn sie näher hingucken, wie schwach die Definition ist. Es gibt einfach keine Kriterien. Deshalb kann es für alles und gegen alles verwandt werden.“ Er beanstandet weiter, dass bereits der Begriff Syndrom nicht zutreffend sei, um das von Gardner beschriebene PAS korrekt zu benennen: „Hauptkritik daran: Es ist kein Syndrom im medizinischen Sinne. Für einen Wissenschaftler ist ein Syndrom ein Komplex von Symptomen, der beschreibbar ist und der ab einem gewissen Schweregrad dann regelhaft auftritt. Und diese Definitionen liegen alle nicht vor. Gardner beschreibt Situationen und sagt, es sei enorm häufig, weil es eine allgemeine Beschreibung ist. Und deshalb kann das jeder für sich heranziehen.“

    Aus wissenschaftlicher Perspektive kann mit Begriffen nur dann gearbeitet werden, wenn sie exakt definiert sind. „Es ist sehr viel wichtiger“, so Fegert, „über präzise, beobachtbare Sachen zu reden, weil es den Konflikt auch ein bisschen entschärft, wenn man über Dinge reden kann, die man präzisieren kann. Während, wenn ich PAS sage, dann mach ich eigentlich so einen allgemeinen Schuldvorwurf. Weil das PAS eigentlich eine Kausalattribution macht, die man nicht gleich nachvollziehen kann. Es verquickt Symptome mit einer Ursachenannahme.“

    Die Familientherapeutin Fischer, die auch als Verfahrenspflegerin tätig ist, weist diesen Unschärfevorwurf entschieden zurück. Sie geht davon aus, dass er nur daher rührt, dass die Diagnose PAS immer wieder mit anderen möglichen Diagnosen vermischt wird. Eine Katze, die sich in den Schwanz beißt.

    PAS wird diskutiert. In den USA. Im europäischen Ausland. In Deutschland. PAS existiert. Durch Gardner. Durch Therapeuten und Juristen, die damit arbeiten. Und nicht zuletzt durch verschiedene Vätergruppierungen, die – nach Meinung der PAS-Kritiker – daraus einen Großteil ihrer Identität schöpfen.

    „Wenn sie auf eine Seite wie www.paPPa.com gehen, dann wissen sie einfach, dass PAS ein zentraler Punkt der Identitätsstiftung in der Väterbewegung ist. Wäre ich jetzt betroffener Vater und würde die entsprechenden Homepages durchgucken, würde ich sehr schnell lernen, dass diese drei Buchstaben PAS ein wunderbarer Hinweis auf Literatur, auf Vernetzung mit ähnlich Betroffenen sind. In den neunziger Jahren haben wir durch das Internet zunehmend ein Phänomen, dass sich plötzlich Patientengruppen, Elternverbände, Betroffenenverbände über bestimmte Labels identifizieren. Jetzt treten plötzlich Väter auf und sagen: ‚Ich habe PAS‘. Weiles im Internet so wichtig ist, um Gleichgesinnte zu finden, muss man dem Ding einen Namen geben“, sagt Fegert.

    Die Familienrechtlerin Rakete-Dombek sieht das sehr ähnlich, bleibt jedoch nicht bei den Vätern stehen: „Das ist einfach eine Schiene für geschädigte Väter, klar. Die stürzen sich darauf wie verrückt.

    Es gibt sicher auch Fälle, wo die Mütter ungerecht sind. Ich hab das Kind und du zahlst. Also jeder kämpft mit seinen Mitteln. Jeder wie er kann.“

    Fegert weist weiter darauf hin, dass ihm keinerlei Stellungnahmen familientherapeutischer Verbände bekannt sind, die das PAS als Arbeitsbegriff anerkennen. „PAS“, so der Psychiater, „ist ein Phänomen von Einzelpersonen, die damit ein gutes Geschäft machen, meistens über Parteiengutachten, die ich prinzipiell für unethisch halte. Da sind Leute, die schreiben für teures Geld für Väter gutachterliche Stellungnahmen, die nachher vor Gericht eigentlich kaum verwandt werden können, weil sie natürlich nicht als unabhängiges Gutachten von beiden Seiten anerkannt werden. Insofern fügen wir den Kindern weiteren Schaden zu, weil sie dann eigentlich noch mal untersucht werden müssen. Ich halte es a priori für unethisch. Wichtig ist, wenn es zu einer Begutachtung kommt, dass sie im Auftrag des Gerichts geschieht und dann im Prinzip nach empirischen Gesichtspunkten vorgeht.“

    Wo bleibt das Kind und sein Wille? Was ist Kindeswohl?

    Diese Fragen stellen sich ganz praktisch, wenn das Kind ablehnendes Verhalten zeigt.

    „Es geht darum zu verstehen, warum das Kind wie handelt und reagiert und wie mit den Wünschen des Kindes umzugehen ist. Und da, wo das Kind die innere Freiheit verloren hat, seine Bedürfnisse hinsichtlich beider Eltern offen zu äußern und diese zugunsten eines Elternteils verleugnet, da gilt es heraus zu finden, was das Kind braucht, um beide Elternbeziehungen wieder leben zu können anstatt sich auf eine Elternseite zu schlagen“, so die Familientherapeutin Fischer. Sie geht davon aus, dass die innere Freiheit des Kindes der Rachsucht eines Elternteils zum Opfer gefallen ist. PAS!

    Solange keine Suggestion beziehungsweise bei keinem Elternteil eine psychopathologische Erkrankung diagnostiziert wird, erklärt der Ulmer Kinderpsychiater das ablehnende Verhalten eines Kindes hingegen folgendermaßen: „Viele Kinder reagieren im Übergang, zum Beispiel bei einem Umgang oder bei einer Beurlaubung, einfach mit Belastung. Nicht deshalb, weil es so schlimm beim Vater oder bei der Mutter war, sondern weil dieser Wechsel und das Wahrnehmen, dass die Eltern nicht mehr zusammen sind, belastend sind. Häufig werden diese normalen Belastungsphänomene von beiden Elternseiten verzerrt wahrgenommen und als Beleg dafür genommen, dass es dem Kind beim anderen schlecht geht. Wenn man in so eine Situation dann solche rhetorischen Keulen wie PAS oder Traumatisierung hineingibt, dann eskaliert man den Konflikt und schadet den Kindern.“

    Zwei Fronten stehen sich gegenüber. Unversöhnlich. Verfangen in einem Streit, in dem sie das Kind aus den Augen verlieren. Vordergründig scheint es um Rechthaberei zu gehen. Dahinter steht vermutlich Sorge und eine große Hilflosigkeit der Helfer. Sie sollen Kindeswille erkennen und über Kindeswohl urteilen. Sie suchen den reinen Kindeswillen und werden ihn niemals unbeeinflusst auffinden. Sie treffen Entscheidungen aufgrund von Annahmen, die sich erst in der Zukunft bewähren können. Entscheidungen, von denen die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes abhängig ist. Sie müssen sich damit abfinden, dass sie mit jedem Kind einem neuen Menschen mit ganz eigenem Willen begegnen. Einem Willen, der anerkennenswert und zugleich sehr leicht gefährdet ist.

    Stephanie Müller ist Sonderpädagogin und Journalistin

  • fK 4/02 Müller

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Kinder mit Behinderungen

    Kaja weiß, was sie will

    Reportage von Stephanie Müller

    Für nicht sprechende Kinder ist es schwer, ihren Willen verständlich auszudrücken. Sie sind abhängig von der geduldigen und aufmerksamen Zuwendung ihres Gegenüber. Die 6-jährige, schwer behinderte Kaja ist von Menschen umgeben, die ihr einen Weg in ein möglichst selbst bestimmtes Leben ebnen wollen.

    Kaja blickt mit ihren dunklen Augen müde ins Leere. Mit vornüber gebeugtem, gekrümmtem Oberkörper hängt sie in ihrem Rollstuhl. Ihre linke Wange liegt auf einer Vorrichtung, die an einen kleinen, rechteckigen Tisch erinnert. Sie ist an einer Metallstange an ihrem Rollstuhl befestigt und ragt bis knapp über ihre Oberschenkel. Kajas rechter Arm baumelt schlaff an der Seite herunter, als wolle er von ihrer Erschöpfung erzählen. Dabei warten alle gespannt darauf, dass das kleine Mädchen etwas sagt. Irgend etwas. Aber Kaja will nicht.

    Kaja hat schon einen langen Tag hinter sich. Früh am Morgen war sie mit ihrer Mutter zu einem Röntgentermin ins Hamburger Universitätsklinikum aufgebrochen. Dort musste sie sehr lange warten, bis sie endlich an der Reihe war. Inzwischen ist es kurz nach vier und Kaja ist gerade zurückgekehrt. Ihre Mutter ist mit ihr direkt in ihre Schule am Hirtenweg gefahren. Nun sitzen beide im Beratungszimmer von Brigitte Hoffmann-Schöneich. Die Sonderpädagogin ist Spezialistin für nicht sprechende Kinder, ihr Fachgebiet die so genannte Unterstützte Kommunikation. Sie spürt die individuellen Mitteilungsmöglichkeiten von Kindern mit einer Behinderung auf und berät Eltern und Erzieher über den Einsatz von elektronischen Kommunikationshilfen.

    Die tischähnliche Vorrichtung, auf der Kaja noch immer ihren Kopf ausruht, ist eine solche Hilfe. Sie heißt Alpha-Talker. Auf quadratischen Tasten, die viel größer sind als die einer Schreibmaschine, sind Bild- und Schriftsymbole abgebildet. Durch das Drücken einzelner Tasten oder deren Kombination können verschiedene Sprechinhalte ausgedrückt werden. Im Alpha-Talker wird die Information elektronisch verarbeitet: Es ertönt eine Stimme, die die Mitteilung gut hörbar als natürliche Sprache wiedergibt. Programmiert wird das Gerät von Eltern und Pädagogen. In Absprache geben sie dem Kind Kommunikationsinhalte vor, die es beherrschen kann und die in unmittelbarer Beziehung zu seinem Alltag stehen. So gibt es beispielsweise eine Taste für „Nein!“, Tasten für die Namen von Mitschülern und Kombinationen für „viel“ oder „wenig Essen-Wollen“. Mit dem Alpha-Talker ist es möglich, sich grammatikalisch korrekt auszudrücken. Doch dazu bedarf es viel Übung. Kaja muss zunächst andere Probleme überwinden.

    Jemand klopft an die Tür des Beratungszimmers. Ein kurzes Zucken durchfährt Kajas Lider. Plötzlich sind ihre Augen wieder hellwach. Die Tür geht auf. Es ist Ruth Brüns. Brigitte Hoffmann-Schöneich ruft: „Na, da kommt ja Ruth. Kaja, Ruth ist da!“

    Kaja lacht. Ein großes, stilles Lachen. Ihre Augen funkeln unternehmungslustig.

    Ruth Brüns arbeitet für den Hamburger Verein „mittendrin“, einem freien Träger, der sich für die Förderung selbstbestimmten Lebens für Menschen mit Behinderungen einsetzt. Sie betreut Kaja seit kurzer Zeit zweimal wöchentlich für einige Stunden.

    Ihre gemeinsame Zeit beginnt in Kajas Schule. Von dort aus macht Ruth Brüns mit der 6-Jährigen Spaziergänge oder sie gehen gemeinsam zu Kaja nach Hause. Je nachdem, was Kaja will.

    Ruth Brüns begrüßt Kaja und möchte wissen, wie es ihr geht. Dafür nimmt sie sich viel Zeit. Sie stellt dem Mädchen immer wieder Fragen und wartet jede einzelne Antwort geduldig ab. Ruth Brüns nimmt selbst die allerkleinste Äußerung Kajas auf und interpretiert sie als eine gezielt gerichtete Botschaft. Mit detektivischer Genauigkeit versucht sie, diese Botschaft zu verstehen.

    Für Brigitte Hoffmann-Schöneich erfüllt die Beobachtung nicht sprechender Kinder einen wertvollen Zweck. „Beobachten ist für mich die wichtigste Diagnostik“, sagt die Sonderpädagogin, die in der Arbeit mit der Unterstützten Kommunikation ihre Nische gefunden hat. Auch die Eltern spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Sie leben mit ihrem Kind und kennen es vom ersten Tag an. Brigitte Hoffmann-Schöneich gesteht ihnen große Kompetenzen zu: „Eltern sind die Fachleute für das Kind.“

    Dennoch berichtet sie auch von Eltern, die verzweifelt sind, weil sie ihr Kind nicht verstehen können. Bei einem Kind ohne Behinderung wissen Eltern zumeist intuitiv, welches Bedürfnis es hat. Bei Kindern wie Kaja kann das zunächst schwierig sein. Hier fehlt nicht einfach nur die Sprache. Auch Mimik und Gestik gestalten sich anders als bei Kindern ohne Behinderung. So muss zum Beispiel ein Lachen nicht zwingend Freude ausdrücken. Es kann bedeuten, dass das Kind in seiner Behinderung verhaftet ist und augenblicklich keinerlei Kontrolle über seinen Gesichtsausdruck hat.

    Kajas Mutter hebt ihre Tochter aus dem Rollstuhl und setzt sie sich auf ihren Schoß. Da passiert es. Plötzlich beginnt Kajas Körper wild zu zappeln. In diesem Moment zeigt sich, wie schwer es dem Mädchen mit dem frechen Lockenzopf fällt, die Bewegung ihrer Arme und Beine zu koordinieren. Immer wieder durchfahren seinen Körper krampfartige Zuckungen und halten es in Stellungen gefangen, die schon beim Zusehen Schmerz hervorrufen.

    Kaja hat eine schwere zerebrale Bewegungsstörung, der eine Hirnschädigung zugrunde liegt. Das bedeutet, in ihrem Gehirn sind bestimmte Funktionen eingeschränkt, die für die Steuerung ihrer Muskulatur verantwortlich sind. Bei Kaja ist die Spannung ihrer Muskeln zu hoch. Gezielte Bewegungen erfordern daher eine besondere Konzentration und viel Zeit. Sie bedeuten eine unvorstellbare Anstrengung.

    Kajas Mutter nimmt ihre Tochter fest in den Arm, bis das Aufbäumen des zierlichen Körpers ein Ende hat. Warum ist es gerade jetzt passiert? Weil Kaja sich vor Freude gerade zu sehr aufgeregt hat? Vielleicht.

    Kajas Mutter bindet eine weiße Stoffwindel um den Hals ihrer Tochter und gibt ihr aus einem rot gepunkteten Plastikbecher ein wenig Wasser zu trinken. Dazu gibt es bunte Gummifruchtbonbons. Während Kaja ihre Süßigkeit lutscht, erklären die drei Frauen, wie Kaja mit ihrer Umwelt kommuniziert, wenn sie gerade nicht ihren Talker benutzt. Für ein „Ja!“ lässt Kaja ihren Kopf auf die Brust sinken, für ein „Nein!“ wendet sie ihn in Richtung der rechten Schulter nach hinten ab.

    Im Moment setzt Kaja ihr Gerät nicht allzu häufig ein, um sich mitzuteilen. Für ihre Mutter scheint das kein Problem zu sein: „Sie weiß viel auf ihrem Talker, aber das geht so nach Lust und Laune. Ich weiß meistens schon, was sie meint“, sagt sie und lächelt Kaja dabei ins Gesicht, als erwarte sie von ihr eine Bestätigung.

    Ein Problem gibt es erst, wenn Kaja auf Menschen trifft, die sie nicht kennen und auch nicht wissen, was ihre Behinderung bedeutet. In dieser Situation ist sie auf ihre Kommunikationshilfe angewiesen. Nur durch sie kann sie ihren Willen so ausdrücken, dass andere ihn verstehen.

    Prof. Dr. Rüdiger Walburg vom heilpädagogischen Institut der Christian-Albrechts-Universität in Kiel ist Direktor des Fachbereichs Geistigbehindertenpädagogik. Für ihn muss ein geeignetes Kommunikationssystem zwei Dinge leisten: „Es ist nicht so entscheidend, welches Konzept man hat, es muss nur überzeugend von demjenigen, der es lehrt, also vom Lehrer oder von der Lehrerin und von den Eltern vertreten werden. Und es muss von der Gesellschaft verstanden werden.“

    Für Prof. Walburg steht die Förderung der Kommunikationsfähigkeit an oberster Stelle, wenn es um den Kindeswillen geht: „Das ist die einzige Form, um auch wirklich Kindeswillen deutlich machen zu können.“ Er weist darauf hin, dass der Begriff des Kindeswillen in der Geistigbehindertenpädagogik nicht explizit vorkommt: „Wir sprechen da immer von den special needs, also von den individuellen Bedürfnissen, die man hat.“

    Prof. Walburg unterscheidet gefühlte, ausgesprochene und erfüllbare Bedürfnisse: „Wenn ich mir ein behindertes Kind ansehe, kann es also sein, dass es eine Menge fühlt, es aber nicht aussprechen kann. Es hat Bedürfnisse, hat einen Willen, kann diesen aber nicht mitteilen.“

    Ist ein Kind in der Lage, seine Wünsche zu äußern, handelt es sich nach Walburg um ausgesprochene Bedürfnisse. Und an dieser Stelle muss die Gesellschaft entscheiden, ob sie diese Bedürfnisse für erfüllbar erklärt. „In der Pädagogik müssen wir die Kinder zumindest in die Lage versetzen, dass sie ihren Willen in irgendeiner Weise mitteilen können“, ergänzt der Wissenschaftler.

    Noch immer gibt es jedoch Diskussionen, ob Kindern mit schwersten Behinderungen ein Wille zuerkannt werden soll. Für Prof. Walburg kein Thema: „Für mich ist jeder Mensch, der geboren wird, eine Person. Und weil er Person ist, hat er auch einen Willen.“

    Brigitte Hoffmann-Schöneich hat eine Erklärung für so manches Schweigen bei Kindern mit Behinderungen. Sie entlarvt die angebliche Willenlosigkeit als ein pädagogisches und damit gesellschaftliches Problem: „Wenn die Kinder merken, sie können ihren Willen nicht ausdrücken, resignieren sie. Sie werden ganz still.“ Über Kaja sagt sie: „Sie hätte nicht so einen Willen entwickelt, wenn die Eltern den Willen nicht so gefördert hätten.“

    Sie kennt Fälle, in denen die Eltern sich wundern, warum das Leben mit ihrem Kind nach der Einführung eines Talkers nicht einfacher wird. Für sie ist es zutiefst ungewohnt, dass ihr Kind sich plötzlich einmischt und es ihm möglich ist, seinen Willen kundzutun.

    Ebenso gibt es Kinder, deren Bedürfnisse nach Versorgung schon erfüllt werden, bevor sie auch nur ansatzweise geäußert werden konnten. Diese Kinder, so Brigitte Hoffmann-Schöneich, hätten weder gelernt ihren Willen wahrzunehmen noch die Fähigkeit erworben Entscheidungen zu treffen.

    Kaja weiß, was sie will. Nur kann sie es manchmal nicht zeigen. Ihre Behinderung erlaubt ihr häufig nicht, ihren Blick, ihren Arm und ihre Hand erfolgreich zu koordinieren. Es ist ihr dann unmöglich, eine gewählte Taste auf dem Alpha-Talker zu treffen und den nötigen Druck auszuüben, damit die entsprechende Funktion ausgelöst wird. Ihre Botschaft wird nicht übermittelt.

    Die drei Frauen beraten deshalb über eine mechanische Hilfe, die Kaja den Umgang mit ihrem Gerät erleichtern soll. Frau Hoffmann-Schöneich schlägt eine Schiene mit einer Art verlängertem Zeigefinger vor. Doch so einfach ist es nicht. Die Schiene würde so fest an Kajas Hand sitzen, dass sie sie unmöglich den ganzen Tag tragen könnte. Außerdem stellt sie eine Behinderung für die Zeit dar, in der Kaja ihre Hände für andere Dinge benötigt.

    Kaja sitzt nun wieder in ihrem Rolli. „Was wollen wir denn heute Nachmittag machen, Kaja?“, fragt Ruth Brüns gespannt. Nichts geschieht. Stille. Hat Kaja nicht verstanden? Alle warten auf ein Zeichen. Nach langer Zeit, die sich wie eine kleine Ewigkeit anfühlt, setzt Ruth Brüns erneut an. Sie macht Kaja verschiedene Vorschläge, wie und wo die Freizeit genutzt werden könnte. Kaja legt den Kopf nach hinten und lacht lautlos.

    Ihre Mutter versucht unterstützend einzuwirken. Sie befreit ihre Tochter vom Zeitdruck der erwarteten Antwort: „Du erzählst mal, was du machen möchtest. Kannst ja mal überlegen. Und wir anderen unterhalten uns noch ein bisschen.“

    Nun hat Kaja ihre Ruhe. Sie kann sich eine Antwort überlegen und ihre Äußerung vorbereiten. Keine halbe Minute später bewegt Kaja ihren rechten Arm. Die leicht verkrampften Finger der rechten, abgewinkelten Hand sind zu einer Faust geformt, nur der Zeigefinger ist in Aktion. Kaja schwenkt ihn gerade durch die Luft und steuert ihn auf den Alpha-Talker zu.

    Sie findet mit viel Mühe zu einer Taste und drückt sie kraftlos. Nichts geschieht. Sie gibt aber nicht auf. Kaja drückt wieder und wieder.

    „Spielsachen!“ ertönt eine Stimme aus dem Gerät. Kaja möchte mit Spielsachen spielen. Ruth Brüns drückt auch eine Taste: „Wo?“ Kaja teilt mit, dass sie in der Schule spielen möchte. Und so steht ganz plötzlich ihr Wille gegen die Wünsche der Erwachsenen. Inzwischen ist es nämlich schon spät. Draußen ist es dunkel und kalt. Kajas Mutter muss ihre anderen Kinder versorgen und möchte Ruth Brüns und Kaja am liebsten im Auto mit nach Hause nehmen. Auch Ruth Brüns ist sich unsicher. Da Kaja jedoch extra um eine Willensäußerung gebeten worden war, wird am Ende eine halbe Stunde Spielzeit in der Schule ausgehandelt. Anschließend wollen Ruth Brüns und Kaja mit dem Bus nach Hause fahren.

    Kaja will ihre Spielzeit in einem speziellen Gehwagen verbringen. Dieser erlaubt es ihr, sich trotz ihrer Körperbehinderung selbständig fortzubewegen. Egal wie schnell sie ihre Beine und Füße koordinieren kann. Egal wie schwer es ihr fällt, das Gleichgewicht zu halten. Kaja will laufen. Am liebsten schnell. Sie spielt begeistert „Weglaufen vor Ruth“.

    Als die Spielzeit um ist, will Ruth Brüns Kaja zurück in ihren Rollstuhl setzen. Kaja will nicht. Sie will bleiben. Sie zappelt und streckt sich. Sie rutscht immer wieder aus der Sitzschale heraus und bäumt ihren Körper – diesmal sehr gewollt – immer wieder auf. „Also gut, Kaja, noch eine Runde, aber dann müssen wir nach Hause“, lenkt Ruth Brüns ein.

    Beim zweiten Versuch lässt Kaja sich bereitwillig ihre Jacke anziehen und in den Rollstuhl helfen. Ruth Brüns schiebt sie im Rollstuhl vor die Tür. Obwohl die beiden inzwischen weit über die Zeit sind, setzt die Sozialarbeiterin ihre Bemühungen fort: „In welche Richtung soll ich dich jetzt fahren? Wo geht es nach Hause?“ Kaja benötigt unendlich viel Zeit. Wieder einmal ist nicht klar zu erkennen, ob Kaja sich geäußert hat beziehungsweise was sie mitteilen wollte.

    Vielleicht kann Kaja sich gar nicht gezielt äußern. Ist es nur Zufall, wenn sie eine stimmige oder richtige Antwort gibt? Werden ihre Äußerungen von den ihr nahe stehenden Erwachsenen einfach nur in deren Sinne interpretiert?

    Brigitte Hoffmann-Schöneich denkt aus einer anderen Richtung. Sie ist der Meinung, dass es unerlässlich ist, sich dem nicht sprechenden Kind zuzuwenden und hinter jeder Äußerung eine Botschaft zu suchen. Darüber hinaus ist es wichtig, dem Kind mit Behinderung Kommunikationshilfen an die Hand zu geben. Auch wenn es sie noch nicht beherrschen kann. Sie sagt: „Nur wenn jemand etwas hat, kann er lernen, was es bedeutet.“ Besonders wichtig ist dabei, dass das Kind, bevor es die Bedeutung der einzelnen Tasten seines Talkers begreift, etwas ganz anderes lernt. Es geschehe schon etwas, so Brigitte Hoffmann-Schöneich, wenn Kaja nur die Erfahrung macht, dass die Betätigung des Alpha-Talkers Reaktionen bei anderen Menschen hervorruft. Die Sonderpädagogin erklärt, welche Basiskenntnisse Kaja dadurch erwirbt: „Sie versteht, dass sie dran ist. Sie versteht, dass sie eine Mitteilung macht. Sie versteht, dass die anderen aufmerksam sind.“

    Ruth Brüns schiebt Kaja vor sich her durch die Dunkelheit. Für kurze Zeit wendet sie ihre Aufmerksamkeit von ihr ab und erzählt über ihre Arbeit mit Kaja und verschiedene andere Dinge. Sie ist ganz in das Gespräch vertieft, als ganz unerwartet eine Stimme sagt: „Joghurt!“ „Wie bitte, was war denn das? Hast du etwas gesagt?“, Ruth Brüns ist sofort bei der Sache.

    „Joghurt!“ „Ach ja. Ja klar, du hast Hunger. Wir sind gleich zu Hause. Dann bekommst du bestimmt etwas zu essen.“ Und wieder: „Joghurt!“

    Ruth Brüns überlegt. Plötzlich fällt ihr ein, dass Kajas Mutter sie und Kaja extra darauf hingewiesen hatte, dass noch Schokolade im Rucksack am Rollstuhl sei. Ruth Brüns schaut nach. Wenig später hält sie Kaja eine ausgewickelte Schokoladenkugel hin und lässt sie abbeißen. Kaja kaut und wirkt sehr zufrieden.

    Als sie an Kajas Haustür ankommen, hat das Mädchen den kompletten Süßigkeitenvorrat verputzt. Jetzt lacht sie mit leicht schokoladen-verschmiertem Mund. So, als sei sie mit Stolz erfüllt, ihr Zuhause präsentieren zu können. In dem kleinen Reihenhaus ist alles hell erleuchtet. Die Tür geht auf. Ruth und Kaja treten ein. Sie werden schon erwartet. Kajas Brüder, ihre Mutter, ihr Onkel und Akascha, der große, schwarze Hund empfangen die beiden. Kajas Papa ist noch nicht zu Hause. Er arbeitet viel.

    Auch für Kaja geht ein arbeitsreicher, anstrengender Tag zu Ende. Fleißig hat sie trainiert, anderen Menschen zu zeigen, was sie möchte. Manchmal gelingt es ihr und manchmal ist alle Mühe umsonst. Manchmal möchte sie einfach nur schweigen und manchmal auf einer Forderung bestehen. Das Wichtigste ist, das sie von Menschen umgeben ist, die ihr zuhören. Denn Kaja weiß, was sie will.

    Informationen zum Thema Unterstützte Kommunikation sowie Kontaktadressen zur Nutzung des Beratungsangebots unter www.ISAAC-online.de. ISAAC ist die International Society for Augmentative and Alternative Communication, ihre deutschsprachige Sektion die Gesellschaft für Unterstützte Kommunikation e.V..

    Stephanie Müller ist Sonderpädagogin und Journalistin

    fK: Es gibt Kinder mit schweren Behinderungen, die sich selbst verletzen. Was hat dieses Verhalten mit Kindeswille zu tun? Was bedeutet dieses Verhalten?

    Rüdiger Walburg: Bei selbstverletzendem Verhalten gibt es eigentlich nur ein Antwort: Selbstverletzendes Verhalten ist für denjenigen, der das zeigt, eine sinnvolle Handlung. Nur das gilt: Es ist sinnvoll. Es macht Sinn für ihn. Es macht nicht Sinn für mich, aber für ihn.

    Und den Sinn muss man rauskriegen. Denn der Sinn ist ja auch Wille. Dann kann ich herausfinden, was er braucht. Ich muss so intervenieren, dass ich ihm das Verhalten nicht verbiete. Ich muss an die Stelle etwas anderes setzen – eine Form von Kompensation. Ihm also beibringen, du kannst deinen Unmut auch anders zeigen. Du musst nicht mit dem Kopf gegen die Wand hauen. Es gibt andere Möglichkeiten.

    Prof. Dr. Rüdiger Walburg ist Direktor des Fachbereichs Geistigbehindertenpädagogik im heilpädagogischen Institut der Christian-Albrechts-Universität Kiel

    Literatur:
    Wilhelm Pfeffer
    Förderung schwer geistig Behinderter – eine Grundlegung
    Würzburg, 1988

  • fK 4/02 Lorz

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Der Vorrang des Kindeswohls

    nach Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention in der deutschen Rechtsordnung

    von Alexander Lorz

    Jahrzehntelange internationale Bestrebungen zur Verbesserung der Rechtsstellung des Kindes führten am 20. November 1989 auf völkerrechtlicher Ebene zur Verabschiedung der UN-Kinderrechtskonvention (im Folgenden: KRK). Dieser in seinem Ratifikationsstand einzigartige Menschenrechtsvertrag, der auch von der Bundesrepublik unterzeichnet und ratifiziert wurde und damit für sie am 5. April 1992 in Kraft getreten ist, erhebt das Kind grundsätzlich zum Subjekt der Völkerrechtsordnung und statuiert darüber hinaus zahlreiche Einzelgarantien. In Art. 3 Abs. 1 KRK heißt es:

    Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel, ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist

    Obwohl sich diese Bestimmung direkt an deutsche Behörden und Gerichte, ja auch Gesetzgebungsorgane wendet, heißt das aber nicht notwendigerweise, dass sie tatsächlich dazu geeignet ist, ihr innerstaatliches Handeln unmittelbar zu determinieren. Denn es handelt sich bei ihr zunächst um eine reine Völkerrechtsnorm, und die Wechselwirkungen zwischen völkerrechtlichen und innerstaatlichen Normen entziehen sich den gewohnten Regeln der innerstaatlichen Normenhierarchie. Zahlreiche Fragen sind damit aufgeworfen: Ist das Abkommen auch innerstaatlich oder nur völkerrechtlich verbindlich? Welche Verpflichtungen ergeben sich für die innerstaatlichen Organe? Ist insbesondere der Rechtsanwender verpflichtet, Art. 3 Abs. 1 KRK unmittelbar bei seiner Entscheidungsfindung heranzuziehen? Kann gar das Kind den Kindeswohlvorrang in Deutschland einklagen?

    Die vorliegende Untersuchung nähert sich der Frage nach den innerstaatlichen Rechtswirkungen des Art. 3 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention in drei Schritten. Zunächst ist diese Bestimmung auf völkerrechtlicher Ebene näher einzuordnen. Dabei ergibt sich, dass sie zum Kreis der unmittelbar anwendbaren Völkerrechtsnormen gehört, die vom Rechtsanwender bei der Entscheidungsfindung auch ohne weitere Umsetzungsakte herangezogen werden müssen. Die Erklärung der Bundesregierung, wonach die UN-Kinderrechtskonvention kein unmittelbar anwendbares Völkerrecht beinhalten soll, steht diesem Ergebnis nicht entgegen, da sie je nach rechtlicher Kategorisierung entweder eine unbeachtliche Interpretationserklärung oder einen unzulässigen Vorbehalt darstellt.

    Vor der Untersuchung der Wirkungen des Art. 3 Abs. 1 KRK im deutschen Rechtsraum ist im zweiten Teil die Frage aufzuwerfen, ob das deutsche Recht bereits einen bereichsunabhängigen Kindeswohlvorrang kennt; dann nämlich wäre die Frage nach den Wirkungen der Kinderrechtskonvention obsolet. Einen solchen Kindeswohlvorrang begründen aber weder das deutsche Verfassungsrecht noch einfaches Gesetzesrecht. Auch eine exemplarische Betrachtung der Rechtsprechung zeigt, dass sich der Rechtsanwender nicht immer und jedenfalls nicht vorrangig am Kindeswohl orientiert.

    Damit ist eine genaue Untersuchung der Rechtswirkungen des Art. 3 Abs. 1 KRK im dritten Teil unumgänglich. Die Kindeswohlbestimmung verpflichtet nicht nur den Gesetzgeber zur weiteren Umsetzung der Kinderrechtskonvention, sondern auch schon vor dieser Umsetzung den Rechtsanwender zur vollumfänglichen Berücksichtigung des Kindeswohlvorrangs. Das Kindeswohl erscheint hier sowohl als zwingender Auslegungs- und Abwägungsgesichtspunkt wie auch als verbindliche Ermessensleitlinie.

    Ferner eröffnet Art. 3 Abs. 1 KRK in weitem Umfang Rechtsschutzmöglichkeiten. Zwar lassen sich aus dieser Bestimmung keine konkreten Leistungsansprüche herleiten, doch begründet sie zumindest eine Klagebefugnis des Kindes gegenüber allen es belastenden Maßnahmen, die möglicherweise gegen den Kindeswohlvorrang verstoßen.

    Auszug aus einem Rechtsgutachten, vorgestellt auf dem 4. KinderrechteTag der National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland am 15.11.2002 in Köln

    Prof. Dr. R. Alexander Lorz ist Lehrstuhlinhaber für Deutsches und Ausländisches Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

  • fK 4/02 Zitelmann

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Das Kindeswohl ist ein Zukunftsprojekt

    Kathrin Barbara Zatti im Gespräch mit Maud Zitelmann

    Zatti: «Kindeswohl» tönt etwas altmodisch, ist es überhaupt noch ein zeitgemässes Konzept?

    Zitelmann: Da das Kindeswohl-Konzept inhaltlich nicht detailliert festgelegt ist, bleibt es offen für Veränderungen, neue Sichtweisen und neue Erkenntnisse darüber, was ein Kind braucht. Um das für ein einzelnes Kind herauszufinden, muss man sich in seine Gefühls- und Beziehungswelt hineinversetzen, aber auch wieder aus dieser Identifikation lösen können – um dann aus fachlicher Sicht zu fragen, worunter dieses Kind leidet, was es braucht. Diejenigen Menschen, die das Wohl des Kindes schützen sollen, Fachleute, Richterinnen, Anwälte des Kindes, müssten beides können. Das entsprechende Können und Wissen wird aber kaum gelehrt. Viel Leid und Elend bleiben unerkannt, stattdessen schlägt man ideologische Schlachten um das Kindeswohl. Wer mit Kindern zu tun hat, muss den Fall aus deren Perspektive verstehen lernen. Dazu braucht es das Fachwissen verschiedener Disziplinen. So gesehen ist das Kindeswohl ein Zukunftsprojekt.

    Zatti: Über was für ein Wissen müssten diejenigen Menschen verfügen, welche über das Wohl von Kindern entscheiden?

    Zitelmann: Sie brauchen Wissen über die Entwicklung von Kindern, ihre Grundbedürfnisse, über seelische Verletzungen und das Risiko der Wiederholung von Traumata. Sie sollten die Trends auf dem Wissenschaftsmarkt und Konzepte der Praxis kritisch unter die Lupe nehmen können. Gerade im Gericht, wo für das Kind existentielle Entscheidungen getroffen werden, haben wir es aber in psychologischer und pädagogischer Hinsicht bestenfalls mit informierten Laien zu tun. Und das genügt nicht.

    Zatti: Was für eine Rolle spielen Gutachten?

    Zitelmann: Es ist grundsätzlich sicher eine positive Entwicklung, dass der Kindesschutz seit den 1970er-Jahren nicht mehr allein dem gesunden Menschenverstand der Richter(innen) überlassen bleibt. Wir Erwachsenen würden ja auch keinen Zahnarzt nur mit «gesundem Menschenverstand» an unsere Zähne lassen. Ein Problem ist allerdings das Fehlen verbindlicher Qualitätsstandards. Auch kann ein psychologisches Gutachten nicht weitere umsichtige Ermittlungen des Gerichtes erübrigen. Doch werden oft nicht einmal jene Fachkräfte im Kindesschutzverfahren vom Richter persönlich befragt, die das Kind im Kindergarten oder Heim betreuen, die ihm die Tränen trocknen und die Nase putzen, denen es seine Wünsche, Bedürfnisse und Nöte direkt mitteilt.

    Zatti: Sie haben sich eingehend mit dem Kindeswohl und dem Kindeswillen auseinandergesetzt. Wie hängen diese beiden Konzepte zusammen?

    Zitelmann: Die Juristen sagen treffend, der Kindeswille ist ein integraler Bestandteil des Kindeswohls. Zugleich hat das Kindeswohl aber unter bestimmten Umständen auch eine Ersatzfunktion für den Willen des noch unmündigen Kindes. Dabei wird das Kindeswohl allmählich durch die rechtliche Anerkennung der eigenverantwortlichen Entscheidungen des Kindes abgelöst. Wann dies der Fall ist, und in welchen Bereichen, das hängt vom Alter und der Entwicklung des Kindes ab, wobei unter anderem auch individuelle Fähigkeiten und Vorerfahrungen bedeutsam sind.

    Zatti: Inwieweit spielen unterschiedliche Vorerfahrungen eine Rolle?

    Zitelmann: Ein Kind, das erlebt hat, dass eine Person für es sorgt, die weiss, es schreit, weil es Hunger hat, die weiss, wann es gewickelt werden muss, die auf sein Lächeln reagiert, die es auch in seinen Regungen wie Ärger oder Wut liebevoll begleitet – so ein Kind wird lernen, seine eigenen Bedürfnisse richtig zu interpretieren, seine Umwelt wahrzunehmen und eigenverantwortlich zu handeln. Ein Kind, das hingegen in seiner Familie seelisch verletzt wurde, macht oft gegenteilige Erfahrungen, indem seine Bedürfnisse überhaupt nicht beachtet werden beziehungsweise sein Wille mit Gewalt gebrochen wird. Wenn ein vernachlässigtes Kind zum Beispiel allein in der Wohnung ist, schreit, tobt und wimmert – aber niemand kommt, es zu beruhigen und zu trösten, dann bleibt sein Willen ohne jede Resonanz. Bei der Misshandlung hingegen kann man vom «Willen-Brechen» sprechen. Gerade in der frühen Kindheit misshandeln Eltern oft in Situationen, in denen das Kind sich selbständig macht, mit «Nein» und Trotz reagiert. Diese Kinder erfahren, dass es sehr schmerzhaft, ja fast tödlich sein kann, einen eigenen Willen zu haben. Die Folge können u.a. extreme Überanpassungen und ein Verhalten sein, das als Pseudo-Autonomie bezeichnet wird.

    Zatti: Wie sieht es bei Kindern aus, die sexuell ausgebeutet wurden?

    Zitelmann: Auch in der konkreten Missbrauchssituation wird der Wille des Kindes gebrochen. Zudem aber kommt es oft zu massiven Manipulationen. Viele dieser Kinder erfahren, dass sie emotionale Zuwendung nur erhalten, wenn sie die sexuellen Attacken des Erwachsenen über sich ergehen lassen. Mehr noch, sie sollen den eigenen Missbrauch wollen. Damit steht der Kindeswille nicht mehr im Dienst der eigenen Bedürfnisse, sondern im Dienst des Missbrauchers.

    Zatti: Was hat das für Konsequenzen?

    Zitelmann: Die Folge ist ein pädagogischer Balanceakt. Gerade bei diesen seelisch verletzten Kindern darf ihr Wille nicht erneut ignoriert werden. Erwachsene dürfen aber auch nicht ihre Verantwortung auf das Kind abschieben und sich blindlings auf den Kindeswillen berufen, etwa wenn das Mädchen oder der Junge bei den misshandelnden Eltern bleiben will.

    Wir dürfen nicht das Ernst-Nehmen des Kindes und seines Willen als Legitimation missbrauchen, um nicht für das Wohl des Kindes verantwortlich sein zu müssen. Würden wir das Kindeswohl pauschal durch den Kindeswillen ersetzen, wäre das eine Katastrophe für den Kinderschutz. Heime und Pflegestellen wären leer, wenn wir die Kinder, sobald sie das wünschen, zu Hause lassen oder heimschicken. Denn erst nach Jahren, und nur wenn ein Kind genügend Chancen hatte, um neue Bindungen aufzubauen oder wenigstens ein Gefühl der Zugehörigkeit zu sozialen Eltern zu entwickeln, wird es sagen: Nein, ich will von diesen Eltern nicht mehr fort. Und diesen mühsamen Beziehungsaufbau gilt es dann auch rechtlich zu schützen, indem wir dem Kind keine neuen Trennungs- und Verlusterfahrungen zumuten.

    Zatti: Wie muss man es machen, damit das Kind nicht eine Wiederholung der Missachtung seines Willens erfährt?

    Zitelmann: Es gehört zu jeder Erziehung, dass Erwachsene auch ohne oder sogar gegen den erklärten Willen von Kindern entscheiden und handeln. Und zwar im Interesse der Kinder selbst. Es kann gerade nicht darum gehen, den Kindern die volle Verantwortung für ihr Leben selbst aufzubürden – Kinder also zu behandeln wie Erwachsene, denn das sind sie nicht. Das bedeutet aber noch keine Missachtung der Person des Kindes und seines Willens. Zu dieser Missachtung kommt es, wenn das Kind erst gar nicht informiert und gehört wird, wenn man über seinen Kopf hinweg verhandelt und entscheidet – wenn die getroffenen Entscheidungen dem Kind nicht einmal von den Entscheidungsträgern persönlich mitgeteilt und verantwortet werden.

    Eine im Heim lebende Jugendliche sagte dazu einmal: «Wenn Erwachsene nicht tun können, was das Kind will, weil es für das Kind gefährlich ist, sollen sie es auch nicht tun. Aber dann sollen sie dafür etwas anderes tun!» So hat ein Kind, das von den misshandelnden Eltern getrennt werden muss, vielleicht immerhin eine beste Freundin, die es weiter sehen möchte. Oder eine Lehrerin, die ihm wichtig ist. Man kann dann zwar nicht das Zusammenleben mit den Eltern ermöglichen, aber man kann sagen: «Ich organisiere, dass die Lehrerin zu Besuch kommt. Wir sehen zu, dass du mit dieser Freundin eine Woche in die Ferien kannst, auch wenn du im Heim bist.» Das ist anstrengend, aber das verstehe ich unter «dafür etwas anderes tun».

    Zatti: Das scheint für Erwachsene oft schwierig zu sein.

    Zitelmann: Es braucht Zeit und Fingerspitzengefühl. Das Kind muss zudem auch die Freiheit haben, keinen Willen zu äussern, in Ruhe gelassen zu werden. Wir kennen ja so eine Art von Zwangsritualen: Da die Kinder im Rahmen der Hilfeplanung des Jugendamtes einbezogen werden müssen, sitzen dann oft acht Erwachsene mit einem Kind an einem Tisch, reden über das Kind und fragen es zwischendrin: Und was willst du? Das ist natürlich eine Pseudobeteiligung. Wirkliche Beteiligung ist zeitaufwendig, kostet Energie, braucht pädagogisch gestaltete Gesprächssituationen.

    Zatti: Und es kostet sicher auch Geld?

    Zitelmann: Das mag auch einer der Gründe sein, dass eine reale Beteiligung oft nicht geschieht. Aber ich denke, es gibt auch eine Scheu vor den Kindern. Sachverständige kosten ja auch Geld, und doch zögert kein Mensch, Sachverständige hinzuzuziehen. Das Vermeiden einer wirklichen Beteiligung der betroffenen Mädchen und Jungen hat bei vielen Menschen wohl mit einer bestimmten inneren Distanz zu tun.

    Zatti: Woher kommt das?

    Zitelmann: Der Hauptgrund ist wohl, dass Erwachsene das Leid der Kinder nicht aushalten. Dazu kommt, dass die eigene Verantwortung Angst macht, wenn man sie ernst nimmt. So hält man sich das Ganze ein Stück weit vom Leib und redet lieber über das Kind. Und nicht mit dem Kind. Manche denken auch: Wenn ich das Kind erst frage, muss ich auch tun, was es will. Sie scheuen also vor der Erwachsenenrolle zurück. Ein weiterer Grund kann sein, dass man durch die Distanz zum Kind die eigene Kindheit in Schach zu halten versucht. Wir finden bei vielen Professionellen im Kindesschutzbereich eigene Kindheitsgeschichten, die einer Aufarbeitung bedürfen. Das muss nicht immer eine Therapie sein, aber auch andere selbstreflexive Formen werden in der Ausbildung kaum angeboten. So wie überhaupt Studiengänge fehlen, in denen systematisch nötige Grundlagen und Handlungskompetenzen im Kindesschutz vermittelt werden – für angehende Fachleute in der Pädagogik, der Psychologie, dem Recht. Das müssten wir entwickeln, eben für das Zukunftsprojekt Kindeswohl.

    Gekürzte Fassung eines Interviews, zuerst veröffentlicht in: Netz, Schweizerische Zeitschrift für das Pflegekinderwesen, Heft 3/2002. Wir danken der Pflegekinder-Aktion Schweiz für die Genehmigung.

    Dr. Maud Zitelmann ist Erzieherin und Diplom-Pädagogin. Neben ihrer Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Erziehungswissenschaften an der Universität Frankfurt arbeitet sie in der Ausbildung von Verfahrenspfleger(inne)n.

  • fK 4/02 Ziegenhain

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Entwicklung des kindlichen Willens

    Emotionale und kognitive Faktoren in entwicklungspsychologischer Perspektive

    von Ute Ziegenhain

    Bereits Babys haben Bedürfnisse und durchaus feste Vorstellungen und Überzeugungen darüber, was sie wollen. Dies lässt sich beispielsweise an ihrem Ärger ablesen, wenn ihnen etwas nicht gelingt oder wenn sie etwas nicht bekommen, das sie haben möchten. Es lässt sich auch aus ihrer Überraschung erschließen, wenn etwas Unerwartetes geschieht. Der Ausdruck von solchen Vorstellungen und „Willensbekundungen“ ist allerdings vom Verständnis des Kindes über die Situation zu unterscheiden. Das Verständnis einer Situation umfasst Bedürfnisse und Gefühle, Absichten oder Vorstellungen eines Kindes ebenso wie die Fähigkeit, die Bedürfnisse, Gefühle, Absichten und Vorstellungen anderer Menschen zu verstehen. All das wirkt sich auf sein Verhalten aus. Dabei ist dieses Verständnis der Situation entwicklungsabhängig, d.h. es unterscheidet sich in Abhängigkeit vom Alter des Kindes.

    Wie zeigen Kinder, was sie verstehen und was sie wollen?

    Die folgenden Altersangaben geben nur eine grobe Orientierung. Sie entstammen unterschiedlichen Untersuchungen, die hier nach Alter geordnet wurden. Im übrigen sind immer auch individuelle Unterschiede von Kindern zu berücksichtigen.

    Erstes Lebensjahr

    Bereits Neugeborene haben eine Präferenz für Vertrautes gegenüber Unvertrautem. Sie kommen mit dieser Disposition auf die Welt. Sie ziehen außerdem Personen bzw. das menschliche Gesicht und die Stimme Gegenständen vor. Allerdings lässt sich daraus nicht schließen, dass sie zwei Personen (begrifflich) voneinander unterscheiden können. Vielmehr scheinen sie eher zwischen Eigenschaften von Menschen zu unterscheiden. Ihre emotionalen Ausdrucksverhaltensweisen sind noch eher reflexhafte Reaktionen auf das Ausmaß an Stimulation, dem sie ausgesetzt sind. Ihre Reaktionen sind zudem eher global und diffus. Negative emotionale Reaktionen lassen sich beispielsweise in diesem frühen Alter noch nicht als Furcht oder Ärger differenzieren, sondern als Verstörung. Emotionales Verhalten im Neugeborenenalter ist weder kontextuell noch wird es mit einer subjektiven Bedeutung verknüpft.

    Jenseits der Neugeborenenperiode ist emotionales Verhalten in Aspekten von Vergnügen, Vorsicht oder Frustration mit dem Inhalt der jeweiligen Situation und mit Bedeutungselementen verknüpft. Vorläufer des Verständnisses über Gefühle und Befindlichkeiten anderer Menschen zeigen sich früh. Vermutlich dürften bereits drei Monate alte Säuglinge einen fröhlichen Gesichtsausdruck von anderem emotionalen Ausdrucksverhalten unterscheiden. Fünf Monate alte Säuglinge sind in der Lage, zwischen verschiedenen Gefühlsäußerungen (Lächeln, Stirnrunzeln) zu unterscheiden. Zu diesem Zeitpunkt lässt sich allerdings noch nicht klar erschließen, inwieweit damit auch eine emotionale Reaktionsfähigkeit verbunden ist. Bei sechs Monate alten Säuglingen lassen sich differenzierte Emotionen, wie Ärger oder Überraschung, deutlich ablesen. Dabei drücken die Kinder nicht nur mit ihrem Gesichtsausdruck, sondern mit ihrem gesamten Verhalten den jeweiligen Gefühlsausdruck stimmig aus. Ihr Verhalten lässt sich damit zumindest für freudige, interessierte, traurige oder ärgerliche Reaktionen bereits als spezifisch und bedeutungsvoll interpretieren. Allerdings dürften sich solche Emotionen systematisch erst im letzten Drittel des ersten Lebensjahres als präzise, unmittelbare und mit spezifischer Bedeutung versehene Reaktionen beobachten lassen. Neben Freude, Ärger oder Traurigkeit taucht auch Furcht erst zu diesem Zeitpunkt als deutliche Reaktion auf. Zudem lassen sich auf dieser Entwicklungsstufe erstmals auch negative Emotionen wie Furcht und Ärger als deutlich voneinander abgegrenzte Verhaltensreaktionen unterscheiden.

    Die Fähigkeit am Ende des ersten Lebensjahres, emotionale Reaktionen mit spezifischer Bedeutung und Inhalt zu verknüpfen geht auch mit neuen kognitiven Kompetenzen einher. Dazu gehören die Objekt- bzw. Personenpermanenz. Das ist die Fähigkeit, sich Dinge und Menschen auch dann vorstellen zu können, wenn sie nicht anwesend sind. Dazu gehört außerdem, dass das Langzeitgedächtnis funktionsfähig wird. Der damit verbundene zunehmende Zugriff auf vorangegangene Erfahrungen steuert die Aufmerksamkeit des Kindes. Schließlich ist das Kind gegen Ende des ersten Lebensjahres in der Lage, sich selbst vom Erwachsenen zu unterscheiden, ebenso wie es sein Verhalten von dem des Erwachsenen unterscheiden kann. Dieses rudimentäre Bewusstsein spiegelt sich beispielsweise darin, dass es zunehmend nonverbal kommuniziert und die Bezugsperson mit Zeigegesten beispielsweise auf interessante Gegenstände aufmerksam macht (Joint Attention). Rudimentäres Verständnis einer Selbst-Anderen-Unterscheidung zeigt sich zudem in sozial rückversichernden Blicken des Kindes, wenn es sich der Aufmerksamkeit der Bezugsperson versichert oder aber bei Verunsicherung. Emotionale Signale der Bezugsperson, wie Freude oder Gefahr bzw. Ängstlichkeit werden adäquat erfasst und beeinflussen die Verhaltensreaktionen des Kindes. Das Kind orientiert sich besonders in unvertrauten Situationen systematisch an Verhalten und Ausdruck der Bezugsperson. Ist der Gesichtsausdruck der Mutter angesichts eines nahenden Hundes ängstlich, wird auch das Kind ängstlich und krabbelt nicht weiter bzw. zur Mutter zurück.

    Diese rudimentäre Unterscheidungsfähigkeit zwischen dem Selbst und der Umwelt lässt sich als Voraussetzung interpretieren, überhaupt eine Beziehung zwischen eigener Erfahrung und Umwelt herzustellen. Damit wird letztlich ein Form sozialen Lernens ermöglicht. Das Kind lernt, individuell unterschiedlich, angemessene emotionale Reaktionsweisen, die vermutlich auch die Ausbildung eigener emotionaler Reaktionen fördern. Die Bedeutung eigener Erfahrung und das Verhalten anderer Menschen werden miteinander verknüpft.

    Kindergarten- und Vorschulalter

    Mit etwa zwei bis drei Jahren erkennen Kinder die Selbstwertrelevanz von Handlungen und deren Ergebnissen. Sie fühlen sich betroffen, wenn sie etwas falsch gemacht haben oder schämen sich, wenn sie bei etwas Verbotenem ertappt werden. Sie beginnen, sich an sozialen Standards zu orientieren. Kognitiv setzt dies voraus, dass sie sich intuitiv der Wirkung ihres eigenen Verhaltens auf andere Menschen bewusst sind. Außerdem reagieren Kinder dieses Alters nicht einfach mehr nur auf die emotionalen Befindlichkeiten anderer Menschen. Sie sind vielmehr aktiv in der Lage, andere Menschen sowohl zu trösten, aber auch zu verletzen. Bereits hier aber zeigen sich große individuelle Unterschiede zwischen Kindern darin, wie sie auf die Gefühle und Befindlichkeiten anderer Menschen reagieren.

    Dies hängt wesentlich mit ihren bisherigen Vorerfahrungen zusammen und dabei insbesondere mit ihren Beziehungsvorerfahrungen mit den Eltern. In Untersuchungen zeigte sich, dass Kinder insbesondere dann andere Kinder bei Kummer trösteten, wenn die Eltern klare Verhaltensregeln zeigten und diese auch unter Berücksichtigung der Perspektive des anderen Kindes begründeten. Wenn Eltern kindliche Signale ignorieren, emotionale Befindlichkeiten falsch oder unangemessen benennen oder nicht ernst nehmen, werden bestimmte positive Gefühlsäußerungen bei Kindern unterdrückt, ihre Selbstwahrnehmung wird verzerrt und ihre emotionale Beteiligung wird flacher. Wenn Eltern demgegenüber schwer vorhersagbar reagieren, entwickeln Kinder emotional heftige Reaktionen und fordern anhaltende Aufmerksamkeit. Werden Kinder misshandelt, sind sie anderen Kindern gegenüber aggressiver als nicht-misshandelte Kinder. Misshandelte Kinder reagieren zudem auf den Kummer eines anderen Kindes nicht bzw. negativ, nämlich ängstlich oder aggressiv. Schließlich fällt es Kindern aus ungünstigen Familienverhältnissen schwer, insbesondere positive Gefühle adäquat den passenden Ereignissen zuzuordnen.

    Unabhängig von individuellen Unterschieden entwickeln Kinder zunehmend mehr psychologisches Verständnis. Diese Fähigkeiten setzen gleichermaßen neue emotionale und kognitive Kompetenzen voraus. Dazu gehört die Fähigkeit, auch über nicht vorhandene und hypothetische Situationen nachzudenken. Die Kinder stellen sich Wünsche oder Überzeugungen vor oder handeln „als ob“. Sie können diese vorgestellten Wünsche oder Überzeugungen klar von der Realität unterscheiden und sie können sie auf „andere“ übertragen. Beispielsweise zeigt sich dies im Spiel, wenn die Puppe bestimmte Ziele verfolgt oder Wünsche hat. Kinder dieses Alters können sich auf einer psychologischen Verständnisebene vorstellen, was ein anderer Mensch wahrnimmt und was er wünscht. Sie können sich in die Gefühle des anderen hineinversetzen, und zwar wahrscheinlich dadurch, dass sie die tatsächliche Situation mit den vermutlichen Wünschen des anderen vergleichen. Die emotionale Gefühlsqualität dieser Teilhabe an den Gefühlen oder Intentionen eines anderen Menschen ist Empathie. Dabei ist wesentlich, dass das Gefühl des anderen Menschen als dessen Gefühl erkannt wird. Das Kind erfasst das Gefühl eines anderen Menschen, auch wenn dieses Gefühl nicht seinem eigenen entspricht. Damit geht wiederum die kognitive Kompetenz einher, sich selbst vom anderen unterscheiden zu können. Diese wird durch die Entwicklung eines Selbstkonzeptes ermöglicht, wie es sich in der neu erworbenen Fähigkeit des Selbst-Erkennens im Spiegel zeigt. Solcherart psychologisches Verständnis unterscheidet sich von bloßer Gefühlsansteckung, die sich bereits beim Neugeborenen beobachten lässt.

    Mit vier und fünf Jahren sind Kinder dann zunehmend in der Lage, einfache Gefühle, wie Fröhlichkeit oder Traurigkeit als Konsequenz der Überzeugungen und Wünsche zu erfassen, die diese Gefühle verursachen. Sie verstehen andere Menschen überwiegend als Handelnde, die ihre Ziele verfolgen. Nach diesem Verständnis sind Menschen fröhlich oder traurig in Abhängigkeit davon, ob sie ihre Ziele erreichen oder nicht.

    Vorschul- und Schulalter

    Zwischen etwa vier und zehn Jahren erschließt sich Kindern zunehmend ein psychologisches Verständnis für komplexere Gefühlsqualitäten. Dazu gehören selbstwertrelevante Gefühle wie Stolz, Scham oder Schuldgefühle. Dies setzt erneut erweiterte kognitive Kompetenzen voraus. Danach wird das Erleben von Menschen nicht mehr nur in Abhängigkeit von erfolgreichem bzw. nicht erfolgreichem Handeln aufgefasst. Vielmehr verstehen Kinder nun zunehmend, dass die Einschätzung und Bewertung von Verhalten und Handeln das Erleben und die Gefühle in einer Situation beeinflussen. Dabei scheint es zunächst, dass die Einschätzung und Bewertung anderer ihr eigenes Erleben beeinflusst. Kinder sind stolz, wenn die Eltern sie loben, weil sie sich beispielsweise um das jüngere Geschwisterkind gekümmert haben. Sie schämen sich, wenn die Eltern verärgert und enttäuscht sind, weil sie gelogen haben. Zunehmend verstehen sie, dass auch sie selbst ihr eigenes Verhalten nach sozialen Normen oder Verhaltensstandards einschätzen. Auch ohne elterliche Intervention verspüren sie Schuldgefühle, wenn sie jemanden gekränkt haben

    Untersuchungen legen nahe, dass das Verständnis von Kindern dieser Altersstufe für soziale Normen und Standards individuell unterschiedlich ist und von der Art der elterlichen Vermittlung dieser Normen abhängt. Dabei scheinen Erklärungen und Appelle an kindliche Einsicht beispielsweise das psychologische Verständnis für Verantwortlichkeit und Schuldgefühle zu fördern. Allerdings ist solches Verständnis nicht ausschließlich „sozial konstruiert“. Vielmehr fließen gleichermaßen die eigenen Erfahrungen von Kindern mit solchen selbstwertrelevanten Gefühlen in ihr Verständnis einer Situation ein.

    Jugendalter

    Mit Erreichen des Jugendalters schließlich entspricht das psychologische Verständnis der Jugendlichen zunehmend dem von Erwachsenen. Nach dem kognitiven Entwicklungsmodell von Piaget sind Jugendliche mit Beginn der formal-operatorischen Phase in der Lage, theoretische Vorstellungen über hypothetische Sachverhalte nach formal-logischen Regeln zu entwickeln. Dazu gehört auch, miteinander unvereinbare Standpunkte oder Befindlichkeiten zu erfassen und gegeneinander abzuwägen. Allerdings sind diese Fähigkeiten auch auf dieser Altersstufe individuell unterschiedlich ausgebildet.

    Gemischte Gefühle

    Bereits Kinder im Kindergarten- und Vorschulalter drücken gemischte Gefühle aus. Häufig lässt sich dies in Interaktionen von Geschwistern beobachten. Dabei pendeln ältere Geschwister beispielsweise zwischen liebevollen und feindseligen Gefühlen hin und her. Zärtliche Gefühle gegenüber dem jüngeren Geschwister werden nicht selten von negativen Gefühlen abgelöst und auch ausgedrückt. Kindern im Kindergarten- und Vorschulalter ist es aber kognitiv noch nicht möglich, zwei Gefühlsqualitäten zu erfassen, die sie entweder gleichzeitig oder nacheinander erleben. Sie können Situationen beschreiben, in denen bestimmte einfache Gefühle hervorgerufen werden. Sie „leugnen“ aber, dass es möglich ist, zwei Gefühle gleichzeitig zu fühlen. Für ihr psychologisches Verständnis beispielsweise der Trennung der Eltern bedeutete das, dass sie ihre verständlicherweise ambivalenten Gefühle diesen gegenüber jeweils nur getrennt voneinander erfassen können.

    Zwischen sechs und acht Jahren beginnen Kinder Situationen zu beschreiben, die zwei verschiedene Gefühle hervorrufen können. Dabei folgt allerdings ein Gefühl auf das andere: „Ich habe mich gefreut, dass Papa gekommen ist, und dann war ich sauer, weil er nicht immer da ist.“ Auch Kinder dieses Alters bezweifeln also noch, dass man gleichzeitig mehrere Gefühle haben kann. Erst mit etwa sieben oder acht Jahren beginnen Kinder auch Situationen zu beschreiben, in denen sie zwei Gefühle gleicher Qualität erleben, und zwar zwei positive oder zwei negative Gefühle: „Wenn Dein Bruder Dich schlägt, bist Du sauer und auch traurig.“ Ab zehn Jahren können Kinder dann zwei Gefühle unterschiedlicher Qualität miteinander integrieren: „Ich habe mich schlecht gefühlt wegen all der Verantwortung, aber ich war glücklich, dass ich so gut war.“ Mit etwa elf Jahren gelingt es ihnen schließlich kognitiv zu erfassen, dass eine Situation unterschiedliche Gefühle hervorrufen kann: „Ich war glücklich, meinen Vater zu sehen, aber sauer, dass er uns verlassen hat.“

    Verbergen von Gefühlen

    Kinder sind häufig Situationen ausgesetzt, in denen der spontane Ausdruck ihrer Gefühle nachteilig für sie ist bzw. ihnen von den beteiligten Erwachsenen – direkt oder indirekt – untersagt wird. Für den Umgang mit Kindern insbesondere in für sie konflikthaften Situationen und bei psychischer Belastung bedeutet dies, dass ihr Verhalten oder ihr Gesichtsausdruck nicht immer einfache Rückschlüsse auf ihre Befindlichkeit zulässt.

    Dabei unterliegt die Fähigkeit von Kindern, ihre Gefühle zu verbergen, gleichermaßen einem Entwicklungsverlauf als auch jeweils individuellen Unterschieden. Bereits bei einjährigen Kindern, die zurückweisende oder feindselige Beziehungsvorerfahrungen gemacht haben, entspricht ihr neutrales und vordergründig unbekümmertes Verhalten in einer belastenden Situation nicht ihrer – physiologisch messbaren – inneren Erregung. Mit etwa drei bis vier Jahren gelingt es allen Kindern, unter bestimmten Umständen ihre wahren Gefühle zu verbergen. Allerdings geschieht dies eher hölzern und es ist gewöhnlich für einen Beobachter sichtbar, dass das gezeigte Gefühl nicht dem tatsächlich empfundenen Gefühl entspricht. Die Kinder scheinen noch eher den Forderungen und Wünschen der Eltern nachzugeben. Mit etwa sechs Jahren aber scheinen sie allmählich zu verstehen, dass das Verbergen von Gefühlen auch einer Funktion dient, nämlich der, sich entweder selbst zu schützen, wie beispielsweise davor, ausgelacht zu werden, oder der, andere Menschen zu schützen. Beispielsweise verbergen Kinder ihren Kummer bei der Trennung von einem Elternteil, um diesem wiederum Kummer oder Schuldgefühle zu ersparen. Mit der weiteren Entwicklung wird die Fähigkeit von Kindern, ihre spontane Gefühle mit einem „sozial adäquateren“ Gefühl zu überdecken, dann zunehmend verfeinert. Aber auch älteren Kindern ebenso wie Erwachsenen gelingt es nicht immer, ihren spontanen Gefühlsausdruck mit einem anderen zu überdecken. Vielmehr kommt es bisweilen zu sogenannten Überblendungen von Gefühlen, wenn spontanes und „sozial adäquates“ Gefühl gleichzeitig ausgedrückt werden.

    Der Artikel ist die überarbeitete Fassung eines Beitrags in: Salgo, Zenz, Fegert, Bauer, Weber, Zitelmann (Hrsg.), Verfahrenspflegschaft für Kinder und Jugendliche. Ein Handbuch für die Praxis, Köln 2002. Wir danken dem Bundesanzeiger Verlag für die Genehmigung.

    Dr. Ute Ziegenhain ist Entwicklungspsychologin und Pädagogin. Sie ist leitende Pädagogin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm.

  • fK 4/02 Maywald

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Kindeswohl und Kindesrechte

    von Jörg Maywald

    Das so genannte Kindeswohl ist vermutlich der am meisten strapazierte und zugleich am heftigsten umstrittene Begriff, wenn es darum geht, Entscheidungen für Kinder und mit Kindern zu treffen und zu begründen.

    Was, wann und unter welchen Umständen im wohl verstandenen Interesse eines Kindes oder Jugendlichen liegt, darüber gehen die Meinungen bei Richtern, Anwälten, Medizinern, Psychologen, Pädagogen, Sozialarbeitern und nicht zuletzt bei Eltern oder Elternteilen häufig weit auseinander. Als Konstante im zumeist dissonanten Konzert der unterschiedlichen Positionen kann allenfalls ausgemacht werden, dass die Kinder und Jugendlichen selbst zu der Frage, was in ihrem besten Interesse liegt, häufig nicht einmal gehört werden.

    Kindeswohl: ein unbestimmter Rechtsbegriff

    Einerseits ist das Kindeswohl zu Recht die zentrale Norm und der wichtigste Bezugspunkt im Bereich des Kindschafts- und Familienrechts. Auf den wenigen Seiten des mit „Elterliche Sorge“ überschriebenen Fünften Titels des Vierten Buchs des Familienrechts im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) wird allein mehr als zwanzig Mal der Begriff des Kindeswohls bemüht.

    Gemäß § 1666 BGB stellt eine mögliche Gefährdung des Kindeswohls die zentrale Begründungsnorm und damit das Einfallstor dar für einen legitimen Eingriff des Staates in das grundgesetzlich verbürgte Elternrecht.

    In § 1697 a BGB wird das Wohl des Kindes zum allgemeinen Prinzip richterlicher Entscheidungen erhoben. Dort heißt es: „Soweit nicht anderes bestimmt ist, trifft das Gericht in Verfahren über die in diesem Titel geregelten Angelegenheiten diejenige Entscheidung, die unter Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten sowie der berechtigten Interessen der Beteiligten dem Wohl des Kindes am besten entspricht.“

    Auch im Sozialrecht ist das Kindeswohl ganz oben angesiedelt. In § 1 Abs. 3 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG, SGB VIII) heißt es u.a., dass „Jugendhilfe (…) Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl schützen (soll)“.

    Andererseits steht an keiner Stelle eines Gesetzes, was unter dem Kindeswohl eigentlich zu verstehen ist. Handelt es sich hierbei doch um einen so genannten unbestimmten Rechtsbegriff, der sich einer allgemeinen Definition entzieht und der daher einer Interpretation im Einzelfall bedarf. Die Rechtsanwender – Richter und Anwälte – sind auf außerjuristische Erkenntnisse insbesondere aus den Medizin- und Sozialwissenschaften angewiesen.

    Auf dem Weg zu einem allgemeingültigen Kindeswohlbegriff

    Hier jedoch – in den Humanwissenschaften – sah es lange Zeit nicht besser aus. Zwar behaupten die dort tätigen Fachkräfte immer wieder im Einzelfall zu wissen, was das Beste für ein Kind sei. Vor die Aufgabe gestellt, allgemeine und verbindliche Kriterien des Kindeswohls anzugeben, haben aber auch sie allzu oft kapituliert. Bestenfalls wurde der Versuch unternommen, durch die Angabe negativer Bedingungen, bei deren Vorliegen das Kindeswohl keinesfalls gesichert sei, einen Ausweg aus der Misere zu finden.

    Welche Konsequenzen sind hieraus zu ziehen? Sollten wir möglicherweise überhaupt aufgeben, nach einer Definition des Begriffs Kindeswohl zu suchen? Handelt es sich nur um eine Schimäre, der wir nachjagen? Sollten wir zulassen, dass sich jede Profession, jede Interessengruppe, letztlich jeder Einzelne einen eigenen Begriff zulegt, nach dem Motto „anything goes“? Löst sich der Begriff des Kindeswohls auf in den unterschiedlichen Perspektiven der jeweils Beteiligten?

    Eine extreme Relativierung oder gar Aufgabe des Kindeswohl-Begriffs käme einer Kapitulation der gesellschaftlichen Verantwortung gegenüber Kindern gleich. Dies wäre weder zu rechtfertigen noch zu verantworten und mit fatalen Folgen besonders für diejenigen Kinder verbunden, die des besonderen Schutzes bedürfen: Kinder in hoch strittigen Trennungs- und Scheidungskonflikten, vernachlässigte, misshandelte, missbrauchte Kinder.

    Für eine allgemeingültige Bestimmung des Begriffs Kindeswohls ist der Bezug sowohl auf die Grundbedürfnisse als auch auf die Grundrechte des Kindes notwendig, ein Wechselbezug also zwischen dem, was Kinder brauchen und dem, was Kindern zusteht. Ein Wechselbezug zwischen deskriptiven Beschreibungen und normativen Setzungen dessen, was für eine gesunde Entwicklung des Kindes unabdingbar ist.

    Ein am Wohl des Kindes (Best Interest of the Child) ausgerichtetes Handeln wäre demzufolge dasjenige Handeln, das die an den Grundbedürfnissen und Grundrechten von Kindern orientierte jeweils am wenigsten schädigende Handlungsalternative wählt.

    Grundbedürfnisse von Kindern

    Zur Sicherung des Kindeswohls ist die Befriedigung elementarer Bedürfnisse unabdingbar. Erste Versuche einer Konkretisierung basaler kindlicher Bedürfnisse sind in der Kindeswohl-Trilogie von Goldstein, Freud und Solnit (1974, 1982, 1988) zu finden. Zu den grundlegenden Bedürfnissen rechnen sie Nahrung, Schutz und Pflege, intellektuelle Anregungen und Hilfe beim Verstehen der Innen- und Außenwelt. Außerdem brauche das Kind Menschen, die seine positiven Gefühle empfangen und erwidern und sich seine negativen Äußerungen und Hassregungen gefallen lassen. Sein Selbstgefühl und seine Selbstsicherheit im späteren Leben bleibe abhängig von seiner Stellung innerhalb der Familie, d.h. von dem Gefühl geschätzt, anerkannt und als vollwertiges Familienmitglied betrachtet zu werden.

    Von Fegert (2002) stammt der Versuch, sechs Grundbedürfnisse (Basic Needs of Children) zu identifizieren und die negativen Folgen bei deren Nichtbeachtung zu beschreiben. Hierzu gehören

    (1) Liebe, Akzeptanz und Zuwendung: Der Mangel an emotionaler Zuwendung kann zu schweren körperlichen und psychischen Deprivationsfolgen bis hin zum psychosozialen Minderwuchs und „failure to thrive“ (nicht organisch bedingten Gedeihstörungen) führen

    (2) Stabile Bindungen: Bindungsstörungen zeigen sich bei kleinen Kindern zunächst in Auffälligkeiten der Nähe-Distanz-Regulierung und können später zu massiven Bindungsstörungen führen

    (3) Ernährung und Versorgung: als Folgen einer Mangel- oder Fehlernährung treten Hunger, Gedeihstörungen und langfristig körperliche sowie kognitive Entwicklungsbeeinträchtigungen auf

    (4) Gesundheit: Mängel im Bereich der Gesundheitsfürsorge führen zu vermeidbaren Erkrankungen mit unnötig schwerem Verlauf, z.B. infolge von Impfmängeln, Defektheilungen etc.

    (5) Schutz vor Gefahren von materieller und sexueller Ausbeutung: psychisch können diese Belastungen zu Anpassungs- bzw. posttraumatischen Störungen führen, die durch eine Fülle von Symptomen und teilweise langfristige Erkrankungsverläufe gekennzeichnet sind

    (6) Wissen, Bildung und Vermittlung hinreichender Erfahrung: Mängel in diesen Bereichen führen zu Entwicklungsrückständen bis hin zu Pseudodebilität.

    Ein weiterer Versuch einer positiven Bestimmung des Kindeswohls stammt von Brazelton und Greenspan. In ihrem Beitrag „Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern“ beziehen sie ergänzend zu Fegert die soziale und kulturelle Dimension ein (siehe den Artikel von Resch und Lehmkuhl in diesem Heft).

    Grundrechte von Kindern

    Kinder sind Träger eigener unveräußerlicher Grundrechte. Die in der UN-Kinderrechtskonvention niedergelegten Mindeststandards haben zum Ziel, die Würde, das Überleben und die Entwicklung aller Kinder auf der Welt sicherzustellen. Der Kinderrechteansatz basiert auf folgenden Prinzipien:

    (1) Das Prinzip der Kinder als Träger eigener Rechte

    (2) Das Prinzip der Unteilbarkeit der Rechte: alle Rechte sind gleich wichtig

    (3) Das Prinzip der Universalität der Rechte: alle Kinder haben gleiche Rechte

    (4) Die vier allgemeinen Prinzipien der Kinderrechtskonvention

    • Das Recht auf Nicht-Diskriminierung (Artikel 2)
    • Der Vorrang des Kindeswohls (Artikel 3)
    • Das Recht auf Leben und bestmögliche Entwicklung (Artikel 6)
    • Berücksichtigung des Kindeswillens (Artikel 12)

    (5) Das Prinzip der Verantwortungsträger: Familie, Gesellschaft und Politik tragen Verantwortung für die Verwirklichung der Kinderrechte

    In den 54 Artikeln der Kinderrechtskonvention werden Kindern umfassende Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte zuerkannt. Die in dem „Gebäude der Kinderrechte“ wichtigsten Rechte finden sich in den Artikeln 2, 3, 6 und 12.

    Schutzrechte

    Der Artikel 2 enthält ein umfassendes Diskriminierungsverbot. Alle Rechte gelten für jedes Kind, unabhängig von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler, ethnischer oder sozialer Herkunft, Vermögen, Behinderung, Geburt oder sonstigem Status des Kindes, seiner Eltern oder seines Vormunds.

    Weitere Schutzrechte finden sich in Artikel 8: Schutz der Identität; Artikel 9: Schutz vor Trennung von den Eltern; Artikel 16: Schutz der Privatsphäre; Artikel 17: Schutz vor Schädigung durch Medien; Artikel 19: Schutz vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung, Misshandlung oder Vernachlässigung einschließlich des sexuellen Missbrauchs; Artikel 22: Schutz von Kinderflüchtlingen; Artikel 30: Schutz von Minderheiten; Artikel 32: Schutz vor wirtschaftlicher Ausbeutung; Artikel 33: Schutz vor Suchtstoffen; Artikel 34: Schutz vor sexuellem Missbrauch; Artikel 35: Schutz vor Entführung; Artikel 36: Schutz vor Ausbeutung jeder Art; Artikel 37: Schutz in Strafverfahren und Verbot von Todesstrafe und lebenslanger Freiheitsstrafe; Artikel 38: Schutz bei bewaffneten Konflikten.

    Förderrechte

    In Artikel 3 ist der Vorrang des Kindeswohls festgeschrieben, demzufolge das Wohl des Kindes bei allen Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen öffentlicher oder privater Einrichtungen vorrangig zu berücksichtigen ist. Alle, die für die Entwicklung eines Kindes Verantwortung tragen, sind verpflichtet, das Kind entsprechend seinem Entwicklungsstand bei der Wahrnehmung seiner Rechte zu unterstützen.

    Artikel 6 enthält das Recht auf Leben und Entwicklung. Die Vertragsstaaten verpflichten sich, das Überleben und die Entwicklung des Kindes in größtmöglichem Umfang zu gewährleisten.

    Ergänzende Förderrechte sind festgelegt in Artikel 10: Recht auf Familienzusammenführung; Artikel 15: Recht auf Versammlungsfreiheit; Artikel 17: Zugang zu den Medien; Artikel 18: Recht auf beide Eltern; Artikel 23: Recht auf Förderung bei Behinderung; Artikel 24: Recht auf Gesundheitsvorsorge; Artikel 27: Recht auf angemessenen Lebensstandard; Artikel 28: Recht auf Bildung; Artikel 30: Recht auf kulturelle Entfaltung; Artikel 31: Recht auf Ruhe, Freizeit, Spiel und Erholung; Artikel 39: Recht auf Integration geschädigter Kinder.

    Beteiligungsrechte

    Nach Artikel 12 hat jedes Kind das Recht, in allen Angelegenheiten, die es betreffen, unmittelbar oder durch einen Vertreter gehört zu werden. Die Meinung des Kindes muss angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife berücksichtigt werden.

    Weitere Beteiligungsrechte der Kinder sind niedergelegt in Artikel 13: Recht auf freie Meinungsäußerung sowie auf Informationsbeschaffung und -weitergabe und in Artikel17: Recht auf Nutzung kindgerechter Medien.

    Verfahrensregeln

    Neben den so genannten materiellen Rechten sind eine Reihe von Verfahrensregeln von Bedeutung. Hierzu gehören neben der Definition des Begriffs „Kind“ (alle Menschen von 0-18 Jahren) die Verpflichtung der Staaten zur Umsetzung (Artikel 4) und zur Bekanntmachung der Kinderrechte (Artikel 42), die Einsetzung eines UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes (Artikel 43), die Berichtspflicht über die Maßnahmen zur Verwirklichung der Kinderrechte (Artikel 44) sowie die Mitwirkungsmöglichkeiten von Nicht-Regierungsorganisationen (Artikel 45).

    Deutschland hat die UN-Kinderrechtskonvention 1992 ratifiziert, allerdings nicht uneingeschränkt. In einer Interpretationserklärung wurden Vorbehalte besonders im Hinblick auf die rechtliche Situation solcher Kinder formuliert, die aus Krisengebieten nach Deutschland geflohen sind. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben demnach nicht die gleichen Rechte wie die deutschen Kinder. Auf Grund ausländerrechtlicher Vorschriften ist ihr Wohl beispielsweise in puncto Bildung und Gesundheitsfürsorge nachrangig gegenüber anderen Erwägungen.

    Kinderrechte und Elternrechte – Spannungsfeld aber kein Gegensatz

    Die Anerkennung des Kindes als Träger eigener Rechte ist Ausdruck für einen tief greifenden Wandel im Verhältnis der Erwachsenen zu den Kindern. Hier zeigt sich der Übergang zu einem neuen Generationenverhältnis. An die Stelle der Unterordnung des Kindes unter den Willen und die Macht der Eltern tritt eine Beziehung auf der Basis gleicher Grundrechte, in der die Würde und die Rechte des Kindes neben denen der Erwachsenen einen selbstverständlichen Platz einnehmen.

    Dieser Perspektivenwechsel darf aber nicht zur Folge haben, tatsächlich bestehende Unterschiede zwischen Erwachsenen und Kindern einfach einzuebnen: Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Auf Grund ihres Alters, auf Grund ihrer sich noch entwickelnden körperlichen und geistigen Fähigkeiten und Möglichkeiten bedürfen Kinder des besonderen Schutzes und der besonderen Fürsorge. Kinder brauchen eigene Kinderrechte. Sie brauchen ein Recht auf Kindheit, und zwar auf einen Schon- und Spielraum, in dem Verantwortlichkeit wachsen und eingeübt werden kann.

    In dieser Spannung zwischen Gleichheit einerseits – Kinder sind Menschen – und Differenz andererseits – Kinder haben altersbedingte spezifische Bedürfnisse – liegt das besondere Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern. Immer mehr setzt sich deshalb durch, das Elternrecht ausschließlich als pflichtgebundenes, treuhänderisches Recht zu verstehen, das seine Grenze am Wohl des Kindes findet. Elternrecht heißt heutzutage vor allem Elternverantwortung. Diese Verantwortung beinhaltet das Recht und die Pflicht der Eltern, „das Kind bei der Ausübung (seiner) anerkannten Rechte in einer seiner Entwicklung entsprechenden Weise angemessen zu leiten und zu führen“ (Artikel 5 der UN-Kinderrechtskonvention).

    Dr. Jörg Maywald ist Soziologe, Geschäftsführer der Deutschen Liga für das Kind und Sprecher der National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland

    Literaturhinweise:
    Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.)
    Übereinkommen über die Rechte des Kindes. UN-Kinderrechtskonvention im Wortlaut mit Materialien
    Bonn 2000

    Salgo, Zenz, Fegert, Bauer, Weber, Zitelmann (Hg.)
    Verfahrenspflegschaft für Kinder und Jugendliche
    Ein Handbuch für die Praxis
    Köln 2002

    International Save the Children Alliance
    Child Rights Programming
    London 2002

  • fK 4/02 Resch

    Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

    Was Kinder brauchen

    Zur Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit: Grundbedürfnisse und Forderungen an die soziale Umwelt

    von Franz Resch und Ulrike Lehmkuhl

    Auch in dem hochentwickelten Kulturland Deutschland, in dem nahezu jedes Kind ausreichend zu essen hat, in irgendeine Form von Zuhause eingebettet ist und eine basale Schulbildung erhält, finden sich bei genauerem Hinsehen eine Reihe von Mängeln, die die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern negativ beeinflussen können.

    In einer Gesellschaft, in der das soziale und emotionale Klima schärfer geworden ist, in der Eltern und Kinder zunehmend zu einer demokratischen Minderheit werden und der Druck der Arbeitswelt im Alltag deutlich spürbar wird, kommt es nicht selten zu einer Beeinträchtigung des emotionalen Klimas in den Familien, die sich in Genervtheit und Ungeduld mangelnder Einfühlung emotionaler Kälte oder sogar Gewalttätigkeit im Umgang mit Kindern ausdrücken kann. Solche Verschlechterungen des Binnenklimas in Familien, die unter psychischem, sozialem oder ökonomischem Druck stehen, sind nicht zu bagatellisieren! Der emotionale Austausch und die feinfühlige Erziehung von Kindern bilden eine wesentliche Grundvoraussetzung für eine positive Persönlichkeitsentwicklung. Brazelton und Greenspan (2002) haben erst jüngst in einer Veröffentlichung sieben Grundbedürfnisse von Kindern zusammengefasst, deren Respektierung der Entwicklung von emotional stabilen, willensstarken, einfühlsamen und sozial verantwortlichen Persönlichkeiten Vorschub leistet.

    Das Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen

    Das erste der sieben Grundbedürfnisse ist das Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen. Die Entwicklung der kindlichen Seele, die Selbstwertung des Kindes vollzieht sich also in einer interaktionellen Matrix. Das Werden der kindlichen Persönlichkeit ist ein Weg von außen nach innen, von der Interaktion mit wichtigen Menschen der Umgebung zum inneren Konstrukt dieser Interaktion. Dieser Weg ist aber ebenso ein Weg von innen nach außen, indem das Kind durch seine Temperamentlage, seine Gefühlsregulation und Ausdrucksfähigkeit die soziale Umgebung beeinflussen, für sich einnehmen oder von sich stoßen kann.

    Der Mensch bedarf also von Natur aus eines gesicherten sozialen Rahmens für seine Entwicklung. Nur in liebevollen Beziehungen, die von Erwachsenen getragen werden, kann dieser Rahmen stabilisiert werden. Wenn die Überlegenheit des Erwachsenen nicht zur Gestaltung von Handlungsräumen für die Kinder herangezogen wird, sondern als Macht gegenüber den Kindern zur Durchsetzung eigener Ziele dient, dann ist das Band der Beziehung zerrissen, dann wird eine solche Erziehung ihren Zweck verfehlen. Frühe Beziehungen haben einen natürlichen Kern: Papoušek (1994) und Grossmann (2001) beschreiben jene intuitive elterliche Fürsorge, die als angeborene Fähigkeit ermöglicht, kindliche Signale aus Tonus, Haltung und Mimik so zu lesen, dass sie sich gegenüber dem Kind angemessen verhalten können. Instruktive, also das Erlernen und Üben fördernde elterliche Einflüsse sind immer in den Kontext emotionalen Vertrauens eingebunden.

    Bindung als eine besondere Art einer gefühlshaft getragenen Beziehung zwischen dem Kind und bevorzugten Bezugspersonen ist nicht nur eine Eigenschaft des Kindes oder des betreffenden Erwachsenen, sondern eine zwischenmenschliche Qualität, die von beiden Interaktionspartnern getragen und ausdifferenziert wird. So erscheint es keineswegs verwunderlich, dass Störungen solcher intuitiver elterlichen Fürsorge, wie sie durch Verzweiflung, Überforderung, psychische Probleme hervorgerufen wird, das Kind in seiner emotionalen Entwicklung nachhaltig beeinflussen. Wird aber die Bezugsperson selbst zum Verursacher von seelischen Traumen für das Kind, wie wir das im Rahmen von Misshandlung oder sexuellem Missbrauch erkennen müssen, dann wird dem Kind die sichere Basis der Vertrauensbeziehung plötzlich entzogen, wodurch nachhaltige Wirkungen auf die Gedächtnisfunktion, die Gefühlssteuerung und die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes erfolgen.

    Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit und Sicherheit

    Das zweite Grundbedürfnis von Kindern ist daher das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit, Sicherung und Regulation. Es liegt in der Verantwortung von elterlichen Personen, die bereits in der Schwangerschaft schädlichen Einflüsse wie Rauchen, Drogen- und Alkoholgenuss einzustellen. Die Ernährung von Kindern sollte auf eine Optimierung der körperlichen Funktionen gerichtet sein, Gewalt gegenüber dem Kind und andere grenzverletzende Verhaltensweisen sollten unterbleiben, weil diese immer mit nachhaltigen Schäden nicht nur für den Körper, sondern auch für die Seele des Kindes verbunden sind.

    Die Deutsche Liga für das Kind hat sich seit Jahren für die Ächtung von Gewalt in der Erziehung eingesetzt und wird auch nachhaltig in ihren Programmen und Veranstaltungen die Gefahren von Gewalt in der Erziehung des Kindes hervorheben. Körperliche Bedrohungen, Vergiftungen, Beeinträchtigungen der Sicherheit und Störungen der kindlichen Regulation wirken sich nicht nur seelisch, sondern auch in der Entwicklung des Gehirns aus. Da das Gehirn in seinem grundsätzlichen Bauplan nicht nur nach genetischen Informationen seine Entwicklung vorantreibt, sondern auch Informationen aus der Außenwelt und der Innenwelt des Körpers in die funktionellen Systeme neuronaler Netzwerke integriert, spielt die Gestaltung von Erfahrungsräumen eine fundamentale Rolle. Alle persönlichen Erlebnisse, Eindrücke und Gefühle, ob Freude, Sicherheit und Geborgenheit oder Angst, Kummer und Verlassenheit, sie hinterlassen ihre Spuren im Substrat des Gehirns. Unter dem Begriff der „neuronalen Plastizität“ ist zu verstehen, dass das Gehirn immer wieder neue funktionelle Einheiten kreieren kann. Je häufiger bestimmte neuronale Aktivierungsmuster auftreten, desto dauerhafter wird ihre innere Repräsentation. Jeder Entwicklungseinfluss kann über direkte körperliche Schädigung (z.B. Vergiftungen oder Blutungen als Folge von Gewalteinwirkung) oder aber über wiederholte Stresserfahrungen in neuronalen Netzwerken eine Art Schema festlegen, in denen die Information internalisiert und strukturell verankert wird.

    Die Hirnentwicklung zeigt kritische und sensible Phasen. In unterschiedlichen Lebensaltern bestehen unterschiedliche Empfindlichkeiten von Hirnstrukturen: Ein Mangel an notwendigen Erfahrungen während früher Stadien der Entwicklung kann zu schwer reversiblen Fehlbildungen der Entwicklung neurobiologischer Schemata führen. Gerade in den ersten Lebensjahren wirken sich Störungen liebevoller Beziehungen und Störungen der körperlichen Unversehrtheit daher besonders krass aus. Der Einfluss gelebter Erfahrungen auf neurobiologische Strukturen wird auch „biographische Encodierung“ genannt.

    Das Bedürfnis nach individuellen Erfahrungen

    Das dritte Grundbedürfnis ist das Bedürfnis nach individuellen Erfahrungen. Unter dem Begriff des kindlichen Temperaments werden konstitutionelle individuelle Differenzen der Aktivität, Reaktivität und Selbstregulation betrachtet, die in den Domänen Emotionalität, Motorik und Aufmerksamkeit zum Tragen kommen. Es ist also nicht verwunderlich, dass unterschiedliche Kinder an ihre Eltern und Bezugspersonen ein unterschiedliches Beziehungsangebot machen. Es werden auch Risikomodelle von Temperament beschrieben. Unter dem Begriff Irritabilität wird verstanden, dass manche Kinder stärker zu beeindrucken sind als andere und auch schlechter wieder zur Ruhe zurückfinden. Wenn Kinder eine niedrige Reizschwelle mit hoher Wachsamkeit verbinden, neigen sie zu Gefühlen von Angst und Scham. Dabei wird vor allem ein behaviorales Inhibitionssystem aktiviert, das Flucht- und Rückzugstendenzen fördert. Andere Kinder wiederum sind durch erhöhte Reizbarkeit und schlechte Beruhigbarkeit gekennzeichnet, wobei dort die Irritabilität mit Aufregung und Überaktivität einhergeht. Vor allem bei Einschränkungen des Handlungsspielraums kommt es zu Wut und Dysphorie als vorherrschenden Gefühlen. Es besteht das Risiko von aggressiven Entwicklungen und Grenzüberschreitungen, die nur durch erziehliche Maßnahmen gut kanalisiert werden können.

    Bezugspersonen und Kinder müssen also zusammenpassen, um optimale Entwicklungsbedingungen zu gewährleisten. Die Theorie der „Passung“ verbindet ein aktives, selbstmotiviertes und seine Entwicklung vorantreibendes Individuum mit einer ebenso aktiven, fordernden, erfüllenden oder versagenden Umwelt. Passung bedeutet optimale Wechselseitigkeit und Angemessenheit von Aktion und Reaktion von Seiten des Kindes und der Bezugsperson. Ein Mangel an Passung erscheint bedeutsamer als interne oder externe Einzelfaktoren. Auch ohne dass beim Kind oder beim Erwachsenen gravierende Defizite in der Beziehungsgestaltung vorliegen, kann ein Mangel an Passung längerfristig die Entwicklung des Kindes negativ beeinflussen. Die Angemessenheit der Erwachsenen-Reaktionen setzt Respekt vor den individuellen Möglichkeiten des Kindes, die Welt zu erfahren, voraus. Kinder sollen in ihren individuellen Gefühlen bestätigt und gesichert werden, sie sollen hinsichtlich ihrer Talente und Fertigkeiten Förderung erfahren und nicht von Eltern für zu hochgesteckte Entwicklungsziele instrumentalisiert werden.

    Nicht selten werden Kinder mit mangelnden intellektuellen Ressourcen qualvoll am elterlichen Förderwillen entlanggeführt. Elterliche Wünsche sind dann die Leitlinien, die zur Entwertung der kindlichen Emotionen und Motive führen. Aber auch das Nichterkennen von Talenten und Begabungen beim Kind kann zu nachhaltigen Entwicklungsbeeinträchtigungen Anlass geben. Viele hochbegabte Kinder scheitern in ihrer Schulkarriere, weil ihre individuellen Fähigkeiten nicht erkannt worden sind und Motivationsprobleme, Konzentrationsprobleme und schließlich Verhaltensprobleme den schulischen Werdegang negativ beeinflussen.

    Das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen

    Dies führt zum vierten Grundbedürfnis, das als Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen begrifflich erfasst ist. Gemeint ist dabei, dass die Forderungen von Eltern an ihre Kinder im Hinblick auf den Entwicklungsstand angemessen sein sollen. Kinder, die zu früh in erwachsene Verantwortlichkeiten gedrängt werden, können nachhaltigen Schaden nehmen. Kinder sollen nicht zur verantwortlichen Erziehung von Geschwistern missbraucht und zur Versorgung von Erwachsenen herangezogen werden. Dass Zwangsarbeit von Kindern, Prostitution und Kriegsführung durch Kinder weltweit geächtet und unterbunden werden müssen, wird wohl in unserem Umfeld unstrittig sein. Aber auch persönliche Demütigungen durch zu frühes ungeschütztes Einbeziehen in verantwortliche Rollen gehört in die Kategorie der Nichterfüllung kindlicher Bedürfnisse.

    Weiterhin ist der Aspekt der Verwöhnung zu nennen. Wenn Kinder nicht im Rahmen von gestalteten Erfahrungsräumen Mängel ausgleichen und Hindernisse überwinden können, haben sie keine Möglichkeiten zum Selbstbeweis am Lebensnotwendigen. Dadurch können sich negative Auswirkungen auf das Selbstkonzept entfalten. Stolpersteine müssen von Kindern in beschützten Rahmenbedingungen selbständig überwunden werden. Wenn wohlmeinende Eltern diese immer wieder aus dem Weg räumen, weil sie die Fähigkeit der Kinder, sie überwinden zu können, unterschätzen, führt dies schließlich zur Demütigung und Selbstunterschätzung beim Kind. So können überpädagogisierendes Training einerseits und mangelnde Unterstützung andererseits das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen beim Kind beeinträchtigen.

    Das Bedürfnis des Kindes nach Grenzen und Strukturen

    Das fünfte Bedürfnis des Kindes ist jenes nach Grenzen und Strukturen, nach Halt und Erfahrungsraumgestaltung durch die Bezugsperson. Wohlwollende und liebevolle erzieherische Grenzensetzung ist für die Strukturentwicklung des Kindes notwendig. Fehlt eine solche Grenzensetzung, entstehen beim Kind unrealistische Erwartungen von Erfüllbarkeit, werden gefährliche Größenphantasien genährt, die schließlich über das Scheitern an der Wirklichkeit zu Frustration, persönlichem Misserfolg, Enttäuschung und Selbstabwertung führen können. Die liebevolle Grenzensetzung bietet nach außen hin Schutz und Geborgenheit, weil das Kind Halt und Sicherung erlebt. Wenn die Bezugsperson nach außen hin als stark, kompetent und zugleich zugewandt erlebt wird, steht sie für Internalisierungen und Identifikationen zur Verfügung. Die berechenbare, d.h. kontingent gesetzte Grenze, die immer wieder regelhaft anzutreffen ist und bei jedem Versuch einer Überschreitung angemahnt wird, bietet Verlässlichkeit und Struktur. Der Erfahrungsraum kann bis dorthin ausgedehnt erforscht und als gestaltbarer Raum erfahren werden.

    Die Grenze selbst bietet aber auch Hindernis und Widerstand und kann, wenn sie nicht Züge der Bedrohung und Gewalt trägt, auch zur Herausforderung werden, dagegen anzukämpfen. Das Kind kann auf diese Weise eigene Willenskundgebungen zur Auseinandersetzung mit Regeln und Rollen in gefahrloser Weise benützen. Mit liebevollen Bezugspersonen wird um die Grenzen gerungen, Argumentieren und Durchsetzen werden geübt. Mit zunehmendem Alter gelingt es dem Kind, sich gegenüber den Eltern Spielräume und Grenzverschiebungen zu erarbeiten. Der durch Grenzen abgesteckte Erfahrungsraum wird überblickbar, bietet Anregung und lässt der Neugier gefahrlos freien Lauf. Reize und Problemstellungen können so dosiert werden, dass sie erfolgsorientierte Aktionen ermöglichen. Neues kann angstfrei erforscht, situative Kontrolle eingeübt werden.

    Das Bedürfnis nach stabilen kulturellen Umfeldbedingungen

    Kinder haben aber auch darüber hinaus ein Bedürfnis nach stabilen kulturellen Umfeldbedingungen. Dies ist als sechstes Bedürfnis operationalisiert. Ungünstige nachbarschaftliche Verhältnisse, undurchschaubare und negative Auswirkungen von sozialen Einrichtungen wie Tagesstätten, Kindergärten und Schulen entfalten negative Einflüsse auf das Kind. Die Entwicklung von Freundschaften ist eine wichtige Basis für das soziale Lernen. Die sogenannte Peergroup, also die Gruppe der gleichaltrigen Kinder, gewinnt mit zunehmendem Alter immer mehr die dominierende Bedeutung für Persönlichkeitsentwicklung und Selbstwert des Kindes. Soziale Kontakte, Einladungen zu anderen Kindern, Übernachtungen außerhalb des Elternhauses stellen wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung sozialer Fertigkeiten dar. Negative Einflüsse von Seiten der Gleichaltrigengruppe oder wiederholte Verluste von Freundschaften durch Entwurzelungen im Rahmen von wiederholten Übersiedlungen können nachhaltige Wirkungen auf Selbstwert und Identität ausüben.

    Wir alle sind aufgerufen, für die Kinder unserer Umgebung faire, durchschaubare und respektvolle nachbarschaftliche Verhältnisse zu schaffen. Wir Erwachsenen müssen dafür sorgen, dass Kinder unter angemessenen Rahmenbedingungen einander begegnen können, miteinander spielen lernen und arbeiten können, Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, um schließlich Gerechtigkeit und Kameradschaftlichkeit zu entfalten. Die wesentlichen Beziehungsmuster der Peergroup lassen sich in den Begriffen Konkurrenz, Kollegialität, Solidarität, Freundschaft und Partnerschaft ausdrücken. Sie alle tragen zur Entwicklung sozialer Verantwortlichkeit bei, die wiederum die Voraussetzung für eigene spätere Elternschaft darstellt.

    Das Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft für die Menschheit

    Das siebente Grundbedürfnis schließlich ist die Zukunftssicherung. In diesem Zusammenhang tragen weltweite Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft eine bis dato nicht eingelöste Verantwortung. Wir Erwachsenen gestalten die Rahmenbedingungen für die nächste Generation. Wenn wir nur Gewalt, Krieg und soziale Ungerechtigkeiten hinterlassen, geben wir auf zweierlei Weise schlechtes Zeugnis ab. Wir übergeben dann eine chaotische Welt an die nächste Generation und wir sind schlechte identifikatorische Vorlagen für die Entwicklung der Kinder. Ob diese die Welt als gestaltbares Ordnungsgefüge oder unheimliches Chaos erleben, wird nämlich an der Entwicklung ihrer Persönlichkeiten liegen, die wir mit unseren eigenen Persönlichkeiten mitzugestalten geholfen haben!

    Prof. Dr. Franz Resch ist Kinder- und Jugendpsychiater an der Universität Heidelberg und Präsident der Deutschen Liga für das Kind

    Prof. Dr. Ulrike Lehmkuhl ist Leiterin der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in Berlin und Mitglied im Vorstand der Deutschen Liga für das Kind

    Literaturhinweis:

    T. Berry Brazelton und Stanley I. Greenspan
    Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern
    Was jedes Kind braucht, um gesund aufzuwachsen, gut zu lernen und glücklich zu sein
    (Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Irreducible Needs of Children. What Every Child Must Have to Grow, Learn and Flourish)
    BELTZ Verlag, Weinheim und Basel 2002
    ISBN 3 407 85792 6

    „Die Grundbedürfnisse, die wir beschreiben wollen, betreffen sowohl Erfahrungen, als auch bestimmte Formen der Fürsorge und Betreuung, auf die jedes Kind ein Recht hat. In einer Wohlstandsgesellschaft wie der unsrigen hat niemand von uns das Recht, diese Grundbedürfnisse zu ignorieren. Sobald wie sie jedoch genauer, wie in diesem Buch geschehen, definieren und praktische Konsequenzen daraus ziehen, wird zugleich deutlich, dass viele Familien und viele kleine Kinder von unserer heutigen Gesellschaft im Stich gelassen werden. Als Ärzte, denen das Wohlergehen der Kinder zutiefst am Herzen liegt, können wir die Selbstgefälligkeit, mit der diese Situation stillschweigend geduldet wird, nicht länger tolerieren. Erreichen können wir unser Ziel langfristig nur, wenn wir den Grundbedürfnissen der Kinder, von denen in diesem Buch die Rede ist, neben den Menschenrechten die höchste internationale Priorität als >Recht< eines jeden Individuums einräumen.“

    T. Berry Brazelton und Stanley I. Greenspan

    Die sieben Grundbedürfnisse von Kindern nach T. Berry Brazelton und Stanley I. Greenspan:

    • Das Bedürfnis nach beständigen liebevollen Beziehungen
    • Das Bedürfnis nach körperlicher Unversehrtheit, Sicherheit und Regulation
    • Das Bedürfnis nach Erfahrungen, die auf individuelle Unterschiede zugeschnitten sind
    • Das Bedürfnis nach entwicklungsgerechten Erfahrungen
    • Das Bedürfnis nach Grenzen und Strukturen
    • Das Bedürfnis nach stabilen, unterstützenden Gemeinschaften und nach kultureller Kontinuität
    • Das Bedürfnis nach einer sicheren Zukunft für die Menschheit