fK 2/04 Romer

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Kinder körperlich kranker Eltern

Bedarf für seelische Gesundheitsvorsorge

von Georg Romer und Miriam Haagen

Wird eine Mutter oder ein Vater schwer krank, kann die seelische Entwicklung von Kindern nachhaltig belastet werden. Häufige medizinische Eingriffe, Krankenhausaufenthalte, Veränderungen des körperlichen Erscheinungsbildes, drohende Einbrüche persönlicher und familiärer Zukunftsentwürfe und – in Fällen ernster Prognose – die vitale Bedrohung stellen nicht nur für den unmittelbar betroffenen Patienten, sondern auch für dessen Familienangehörigen bedeutsame Stressoren dar. Kindern stehen je nach Altersstufe unterschiedliche Möglichkeiten der seelischen Bewältigung zur Verfügung. Im günstigsten Fall kann dies zu beschleunigter seelischer Reifung, insbesondere im Hinblick auf soziale Kompetenzen führen. Bleiben Kinder jedoch ohne erwachsene Ansprechpartner für ihre Sorgen und Nöte, die sie von ihren Eltern gern fernhalten, kann andauernde emotionale Überforderung entstehen, die zu seelischen Entwicklungskrisen und im weiteren Verlauf zu behandlungsbedürftigen Störungen führen können.

Seit den 1960er Jahren ist epidemiologisch belegt, dass Kinder schwerkranker Eltern eine Risikogruppe für die Entwicklung späterer kinder- und jugendpsychiatrischer Erkrankungen darstellen. Legt man die Daten des US National Center for Health Statistics zugrunde, sind etwa 5 bis 15 Prozent aller Kinder und Jugendlichen im Laufe ihrer Entwicklung von einer schwerwiegenden körperlichen Erkrankung eines Elternteils betroffen. Ist die Familie insgesamt psychisch sehr belastet, ist es Eltern und Kindern mitunter nicht möglich, miteinander offen über Ängste und Sorgen zu sprechen. So kann ein unbewusster „Schweigepakt“ entstehen. Außerdem neigen schwerkranke Eltern dazu, die seelische Belastung ihrer Kinder zu unterschätzen, denn Kinder kranker Eltern suchen in der Regel ihre Ängste vor den Eltern zu verbergen, um ihnen keine zusätzlichen Sorgen zu bereiten. Dieses tendenzielle Übersehen kindlicher Belastungen durch schwerkranke Eltern ist möglicherweise aus verhaltensbiologischer Sicht sinnvoll im Sinne einer Priorisierung der Bedrohung des eigenen Organismus, der seine Energien auf die eigene Wiederherstellung zu konzentrieren versucht. Die Ermutigung, die eigene psychische Stabilität sowie eigene Bedürfnisse in den Vordergrund zu stellen, ist demnach ein wesentliches Element psychologischer Betreuungskonzepte für Schwerkranke. Kinder kranker Eltern benötigen daher u.a. Ansprechpartner von außen, damit sie sich mitteilen können, ohne dabei ihre Eltern zu belasten.

Familiendynamische Aspekte

Aus einer zusammenfassenden Auswertung mehrerer Studien über familiäre Anpassungsprozesse an die schwere körperliche Erkrankung eines erwachsenen Familienmitglieds sind folgende typische familiäre Reaktionsmuster bekannt (Tabelle 1):

Tabelle 1

Familiäre Reaktionen auf eine schwere elterliche Erkrankung (nach Rost, 1992)

  • Starker Kohäsionsdruck
  • Isolation gegenüber der sozialen Umwelt
  • Geringe Flexibilität
  • Konfliktvermeidung

Gemeinsam können diese Reaktionen dazu beitragen, dass in Familien mit einem schwerkranken Elternteil Kinder und Jugendliche verstärkt in das Familiensystem eingebunden und so indirekt in ihren entwicklungsgerechten Versuchen der Ablösung und eigenen Identitätssuche gehemmt werden.

Ferner scheinen bei einer schweren elterlichen Erkrankung folgende drei Mechanismen von besonderer Bedeutung für die Eltern-Kind-Beziehung: (1) Das Ausmaß der Parentifizierung des Kindes durch beide Eltern (d.h. Übernahme einer Erwachsenenrolle durch das Kind): Dies kann durch vermehrte Übertragung von Verantwortung geschehen oder durch erhöhte emotionale Bedürfnisse der Eltern an das Kind (z.B. Anlehnung, Trost). (2) Erhöhte Autonomieanforderungen an das Kind, die für die Eltern-Kind-Beziehung bedeutsam sind: Mehr Alltagsprobleme müssen ohne elterliche Unterstützung bewältigt werden. (3) Die Entstehung von Delegationen: Durch die Krankheit müssen bedeutende Lebensziele der Eltern unerfüllt bleiben, die in den Wunschvorstellungen der Eltern von ihren Kindern stellvertretend erreicht werden sollen.

Entwicklungspsychologische Aspekte

Will man die seelischen Reaktionen von Kindern und Jugendlichen verstehen, ist ein entwicklungspsychologischer Bezugsrahmen wichtig. Abhängig von ihrer kognitiven Reife haben Kinder unterschiedliche Konzepte von Krankheit, ihrer Entstehung und vom Tod. Jüngere Kinder erkennen Krankheit eher anhand konkret beobachtbarer Merkmale, wie „im Bett liegen“. Jugendliche dagegen versuchen eher, sich reflektiert mit ihrer Entstehung auseinanderzusetzen, und beschäftigen sich mit den Risiken infektiöser oder genetischer Übertragung der Krankheit. Bei einer fortschreitenden Loslösung von den Eltern sind spezifische Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Insbesondere in der Pubertät können Wünsche, sich gegenüber den Eltern mitunter aggressiv zu behaupten oder sich von ihnen abzugrenzen, angesichts des krankheitsbedingten Leids des betroffenen Elternteils mit ausgeprägten Schuldgefühlen einhergehen („Ausbruchsschuld“). Für die unterschiedlichen Altersstufen lassen sich folgende typischen Belastungen unterscheiden (Tabelle 2):

Tabelle 2
Altersbezogene seelische Belastungen am Beispiel von Kindern tumorkranker Mütter
Typische Belastungen
Schwangerschaft Zielkonflikt: Leben der Mutter versus Leben des Kindes
Säuglingszeit Trennung als existentielle Bedrohung
Kleinkindalter Trennung als Bestrafung; Verstümmelungsängste
Vorschulalter Magische Idee, Krankheit verursacht zu haben
Schulalter Körperbezogene Ängste; Angst, die Eltern zu belasten
Pubertät und Jugend Angst vor Vererbbarkeit;
Autonomie versus Verantwortung, „Ausbruchsschuld“;
Identitätskonflikte

Schwangerschaft: Wird während einer Schwangerschaft eine bösartige Erkrankung diagnostiziert, kann die pränatale Beziehungsaufnahme zwischen Mutter und Kind empfindlich gestört werden. Die Besetzung des ungeborenen Kindes kann durch depressive Verstimmungen und gravierende Zukunftsängste erschwert werden. Kann eine Chemo- oder Strahlentherapie aus Rücksicht auf den Föten nicht sofort erfolgen oder nicht hinreichend dosiert werden, entsteht ein tragischer Zielkonflikt zwischen dem Recht der Mutter auf Überleben und dem Recht des Ungeborenen auf körperliche Unversehrtheit. Dies kann verbunden sein mit latenten Vorwürfen von Seiten der Mutter gegenüber ihrem Kind und einer „Überlebensschuld“ des Kindes gegenüber der Mutter.

Säuglingszeit: Der Säugling erlebt Trennungen von der Mutter, wie sie durch Hospitalisierungen notwendig werden können, als existenzielle Bedrohung, da er ihre Wiederkehr nicht antizipieren kann. Durch vielfältige psychische Belastungen der Mutter kann der Aufbau der frühen Bindung zwischen Mutter und Säugling in sehr komplexer Weise gestört werden.

Kleinkindalter: Das Kleinkind verarbeitet Trennungen möglicherweise subjektiv als Bestrafung durch Verlassenwerden. Werden vertraute Alltagsrituale, die dem Kind Sicherheit und Halt vermittelt haben, ausgesetzt, kann es zu Entwicklungsrückschritten beim Kind kommen, das bereits entwickelte Kompetenzen wieder zu verlieren scheint. Der Anblick bestimmter Folgeerscheinungen von Krankheit oder Behandlungsmaßnahmen, wie beispielsweise Erbrechen, Haarausfall, Verfall der Kräfte (Kachexie) oder Amputationen, kann zu Verstümmelungsängsten beim Kind führen, wenn es keine angemessenen Erklärungen erhält. Die Fantasien, die in diesem Zusammenhang auftreten können, sind mitunter bedrohlicher, als es der tatsächlichen medizinischen Realität entspricht.

Vorschulalter: Das im magischen Denken behaftete Vorschulkind kann schuldhafte Kausalitätsvorstellungen entwickeln, indem es beispielsweise fantasiert, die eigenen „bösen“ Gedanken, die Gefühle von Wut und Rivalität gegenüber einem Elternteil begleiten können, hätten diesen krank gemacht. Kinder dieser Altersstufe können den ernsten Gesichtsausdruck in beiden Eltern als Mitteilung interpretieren, dass Lachen oder Verspieltheit unerwünschte Verhaltensweisen seien. Bleiben altersgerechte Erklärungen aus, kann kognitive Verwirrung die Folge sein.

Schulalter: Schulkinder denken sehr konkret über potentielle Folgen der mütterlichen Erkrankung einschließlich der vitalen Bedrohung nach. Die Wahrnehmung, dass die Mutter geschwächt und belastet ist, führt zu reflektierter Besorgnis und der Bereitschaft, eigene Forderungen von beiden Eltern fernzuhalten. Dies kann dazu führen, dass das Kind verinnerlicht, das eigene Gefühle und Bedürfnisse unwichtig sind. Schulkinder reagieren ferner sehr empfindsam auf wahrgenommene körperliche Veränderungen bei der Mutter. Dies kann die Entwicklung des eigenen Körperschemas nachhaltig irritieren. In dieser Altersstufe zeigen sich emotionale Belastungen häufig in somatischen Symptomen, wie beispielsweise Bauchschmerzen, Kopfschmerzen oder Einnässen.

Pubertät und Jugend: Jugendliche sind sich in der Regel der Notwendigkeit, Verantwortung für die kranke Mutter, aber auch für die ganze Familie zu übernehmen, sehr bewusst und auch bereit, diese Verantwortung zu tragen. Je größer diese Bereitschaft ist, desto ausgeprägtere Schuldgefühle können eigene Autonomiewünsche auslösen.

Kinder können also – unabhängig von ihrer Altersstufe – nicht wirksam von den vielfältigen Belastungsfaktoren, die aus einer elterlichen Erkrankung resultieren, abgeschirmt werden. Sie benötigen Hilfestellungen durch offene Kommunikation, die Ermutigung, Fragen zu stellen, sowie durch altersgerechte Information, die ihnen bei der kognitiven Orientierung hilft – eine Grundvoraussetzung für eine nicht-traumatische Bewältigung. Nicht zuletzt im Hinblick auf ihre in fortwährender Entwicklung befindliche Kompetenz zur Problembewältigung (Coping-Fähigkeit) muss Kindern schwerkranker Eltern vermittelt werden, dass ein offener Umgang mit der bedrohlichen Wirklichkeit weniger ängstigend sein kann, als mit diffusen Phantasien und Ängsten alleine gelassen zu werden.

Krankheitsbild der Eltern

Krankheiten der Eltern unterscheiden sich durch ihre Verursachung (erblich, infektiös, unklar), ihren Beginn (akut oder schleichend), ihren Verlauf (statisch, chronisch fortschreitend, schubweise) sowie ihre Prognose. Zu einigen Krankheitsgruppen liegen bislang empirische Ergebnisse vor.

Tumorerkrankungen: Onkologische Erkrankungen unterscheiden sich in der Regel von anderen Krankheitsgruppen durch ihre ungewisse Verursachung, bei der die genetische Belastung eine Rolle spielt, den langsamen und unsichtbaren Beginn sowie die lebensbedrohliche Dimension bei ungewiss bleibender oder ungünstiger Prognose. Zudem kann das körperliche Erscheinungsbild des erkrankten Elternteils durch Strahlen- oder Chemotherapie bzw. durch vorgenommene Amputationen stark verändert sein. In mehreren kontrollierten Studien wiesen Kinder krebskranker Eltern häufiger psychische Symptome auf als Kinder einer Vergleichsgruppe, wobei jugendliche Töchter krebskranker Mütter deutlich größere psychische Auffälligkeiten zeigten als andere Kombinationen von Altersgruppe, Geschlecht des Kindes und Geschlecht des erkrankten Elternteils. Jugendliche Töchter übernehmen typischerweise wesentliche Anteile der mütterlichen Rolle in der Familie, dazu müssen sie sich positiv mit ihren Müttern identifizieren. Gleichzeitig ist es notwendig, dass sie sich von dem von der Krebserkrankung gezeichneten Mutterbild lösen, so dass eine hohe innerpsychische Konfliktspannung entstehen kann. In einer Studie an 136 Kindern und Jugendlichen, deren Väter oder Mütter an Krebs in einem Spätstadium erkrankt waren, wurde gezeigt, dass nur 56% der Kinder über den bevorstehenden Tod informiert waren, wobei jüngeren Kindern vor dem Jugendalter in der Regel keinerlei Erklärungen gegeben wurden. Dies zeigt die Notwendigkeit angemessener Verarbeitungshilfen nicht nur für die Kinder selbst, sondern auch für deren Eltern, die Unterstützung brauchen bei der Frage, wie mit Kindern angemessen über die Erkrankung und ihre Konsequenzen gesprochen werden kann.

Dialysepflichtigkeit: Wird ein Elternteil im Rahmen einer terminalen Niereninsuffizienz dialysepflichtig, kann die medizinische Behandlung langwierig und zeitaufwändig und die Lebensgestaltung deutlich eingeschränkt sein. Andererseits bestehen in der Regel sehr gute Chancen, dass die gesundheitliche Situation durchgehend stabil bleibt, bis eine Nierentransplantation ermöglicht werden kann. Dialysepatienten erwerben oft eine hohe medizinische Fachkompetenz zu ihrer Erkrankung, sprechen offen darüber und sind über lange Zeiträume mit dem behandelnden Arzt ihres Vertrauens verbunden. Kinder erleben die Dialysepflichtigkeit eines Elternteils in der Regel intensiv mit. In den vorhandenen Studien über Kinder dialysepflichtiger Eltern, die sich meist nur auf kleine Fallzahlen stützen konnten, wurden bislang depressive und hypochondrische Symptome, Aufmerksamkeitsstörungen und Schulprobleme beschrieben. Betroffene Familien berichteten über reduzierte soziale Kontakte und geringe Unterstützung von außen. Jüngere Kinder zeigten deutlich größere Schwierigkeiten bei der Bewältigung der Situation. Kamen die Eltern selbst gut mit ihrer Lebenssituation zurecht, korrelierte dies mit einer guten psychosozialen Anpassung ihrer Kinder. Die aktive Beteiligung beim Dialysevorgang (Heimdialyse) wurde von Jugendlichen positiv erlebt.

AIDS: Die AIDS-Erkrankung eines Elternteils prägt die entstehende familiäre Situation durch die bekannte infektiöse Übertragung, die Abwesenheit sichtbarer Symptome zu Beginn der Erkrankung sowie das Wissen um den letztlich tödlichen Verlauf. Häufig ist die AIDS-Erkrankung eines Elternteils mit schwierigen sozialen Verhältnissen verbunden. In einer Studie zeigte sich, dass Drogenmissbrauch in der Familie häufiger als Ursache für Konflikte zwischen Jugendlichen und ihren Eltern angegeben wurde als der ernste Gesundheitszustand des erkrankten Elternteils. Die Entscheidung über den Zeitpunkt der erstmaligen Mitteilung an die gesamte Familie, HIV-positiv zu sein, wurde als besonders wichtiges Thema für die Familienbeziehungen angegeben. Kinder AIDS-kranker Eltern wurden als latent aggressiv, psychisch vorgereift, depressiv und ängstlich beschrieben.

Multiple Sklerose (MS): Die MS als neurologische Systemerkrankung zeichnet sich durch ihren chronisch fortschreitenden, schubweisen Verlauf, oft über viele Jahre, aus. Verschiedene Reaktionen betroffener Patienten auf die Diagnosestellung wurden bislang beschrieben. Manche Patienten reagieren demnach zunächst mit einer seelischen Schockreaktion, einschließlich akuter Stress-Symptome. Andere Patienten wiederum reagieren zunächst erleichtert darüber, endlich eine Erklärung für bestehende, höchst irritierend erlebte Ausfallsymptome zu haben, und versuchen, rationalisierend damit umzugehen, indem sie sich möglichst viele medizinische Informationen aneignen. Wiederum andere Patienten neigen dazu, die Krankheit völlig zu verleugnen, insbesondere für die Dauer des Frühstadiums, wenn die Beeinträchtigung durch Symptome noch gering ist. Es wurde gezeigt, dass die psychische Anpassung der Kinder MS-kranker Eltern deutlich davon abhängt, inwieweit die Eltern fähig waren, selbst durch einen bewussten Trauerprozess zu gehen. Kinder, deren Eltern keine Phase der eigenen Trauer berichteten, waren deutlich seelisch belasteter. Es zeigte sich ferner, dass an MS-erkrankte Eltern die seelische Belastung ihrer Kinder zu unterschätzen neigen. In einer Vergleichsstudie wurde nachgewiesen, dass offene Kommunikation über die Erkrankung, Zugänglichkeit angemessener Informationen für alle Familienmitglieder sowie ein Familienleben, das sich nicht ausschließlich um die MS-Erkrankung des Elternteils dreht, mit einer gelungenen psychischen Anpassung der Kinder korrelierte, während in den Familien, in denen nicht offen über die Erkrankung gesprochen wurde und Informationen für die Kinder nicht zugänglich waren, die Kinder häufiger über somatische Symptome klagten und Jugendliche sich häufiger forciert – auch durch längere Abwesenheit – vom Elternhaus ablösten.

Ausblick

Wenn Eltern ernsthaft erkrankt sind, haben Kinder und Jugendliche eine komplexe Belastungssituation zu bewältigen. Für das Denken und Handeln professioneller Helfer sollte es selbstverständlich werden, eine schwere elterliche Erkrankung auch aus der Erlebnisperspektive des Kindes zu betrachten. Als Beispiel könnte die psychosoziale Unterstützung in der umgekehrten Situation dienen. So werden in modernen Kinderkliniken Eltern krebskranker Kinder selbstverständlich neben der medizinischen Versorgung ihres Kindes psychologisch begleitet. Auch aus den Erfahrungen der letzten Jahrzehnte in der psychosozialen Betreuung von Scheidungsfamilien lassen sich einige übertragbare Lehren ziehen. So ist es weit über Fachkreise hinaus in das gesellschaftliche Bewusstsein gedrungen, dass Kinder umso besser mit einer ohnehin belastenden und nicht vor ihnen zu verbergenden schwierigen familiären Situation zurechtkommen, je mehr sie die Möglichkeit haben, die Geschehnisse um sie herum zu verstehen und einzuordnen, ihre Fragen zu stellen und beantwortet zu bekommen und sich auf stressreiche Ereignisse rechtzeitig vorher einzustellen. Auch Klarstellungen, dass sie selbst nicht Schuld sind, an dem was passiert, und dass sie selbst nichts tun können, um etwas an der Situation zu ändern, sei es die Trennung der Eltern oder eine elterliche Krankheit, sind für Kinder ebenso wichtig wie entlastend. Dabei sollten Verarbeitungshilfen möglichst früh einsetzen. Da ernsthaft erkrankte Eltern, die selbst durch die Situation meist voll beansprucht sind, in ihrer Elternrolle oftmals verunsichert sind, werden niedrigschwellige professionelle Hilfen gebraucht, die Eltern dabei unterstützen, ihre Kinder im Grundsatz so in ihre Krankheitsverarbeitung einzubeziehen wie andere nahe Angehörige, sie jedoch gleichzeitig in ihren eigenen Entwicklungsbedürfnissen zu unterstützen.

Unsere Erfahrungen in der präventiv orientierten Beratung betroffener Familien zeigen, dass die weitverbreitete Hemmung, mit Kindern offen über die elterliche Erkrankung zu sprechen, weniger auf wohlüberlegten Entscheidungen beruht, als vielmehr Ausdruck einer Verunsicherung auf Seiten der Eltern und Helfer ist, wie man einen offeneren Austausch altersgerecht gestaltet. Professionelle Beratung besteht demnach häufig in einer auf das jeweilige Entwicklungsalter des Kindes abgestimmten Übersetzung der bestehenden Wünsche der Eltern, sich den Kindern mitzuteilen und den altersgerechten Bedürfnissen der Kinder, die einerseits der Orientierung über die Situation und emotionaler Unterstützung bei ihrer Verarbeitung bedürfen, jedoch auch eigene Lebensbereiche brauchen, die nicht durch die elterliche Krankheit überschattet sind. Wenn Kindern dabei geholfen werden kann, eine schwierige Situation nicht traumatisch sondern vielleicht sogar kreativ zu verarbeiten, steht ihnen diese Erfahrung auch in ihrer weiteren Entwicklung bei neu auftretenden Krisensituationen als inneres Arbeitsmodell der Stressbewältigung zur Verfügung. Sollte es gelingen, unser Versorgungssystem und die Öffentlichkeit für die Gefährdungen und Bedürfnisse der Kinder kranker Eltern zu sensibilisieren, ist zu hoffen, dass entsprechend familienorientierte Betreuungskonzepte zunehmend in die medizinische und psychosoziale Betreuung kranker Eltern integriert werden. Die hierfür nötigen Ressourcen sind vielerorts noch zu schaffen. In Zeiten knapper Kassen geht dies langfristig nur, wenn – analog zur Hygiene im Operationssaal – fachliche Standards für eine familien- und kindgerechte psychosoziale Medizin definiert werden können, deren Einhaltung für medizinische Institutionen und Leistungsträger selbstverständlich sein müssen.

Der Beitrag ist die bearbeitete und erweiterte Fassung eines im Hamburger Ärzteblatt (häb 3/03 S. 124 ff) publizierten Artikels. Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.

Dr. med. Georg Romer ist Oberarzt an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, psychoanalytischer Paar- und Familientherapeut und Leiter der dortigen Beratungsstelle „Kinder körperlich kranker Eltern“. Er ist zudem Koordinator des EU-Projektes CHILDREN OF SOMATICALLY ILL PARENTS (COSIP), eines internationalen Forschungsprojektes zur Entwicklung von präventiven Beratungsangeboten für Familien mit körperlich kranken Eltern, an dem acht europäische Zentren beteiligt sind.

Dr. med. Miriam Haagen ist Kinderärztin, Psychotherapeutin und psychoanalytische Paar- und Familientherapeutin. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin der Beratungsstelle „Kinder körperlich kranker Eltern“ an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf.

Fallbeispiel

Der folgende Fall soll verdeutlichen, wie sich eine mütterliche Krebserkrankung über Jahre nachhaltig ungünstig auf die weitere seelische Entwicklung des Kindes auswirken kann, wenn Mutter und Kind nicht rechtzeitig dabei unterstützt werden, wie sie im Alltag die Realität der Krankheit in eine angemessene Gestaltung der Mutter-Kind-Beziehung integrieren können.

Als Tobias drei Jahre alt war, erkrankte seine alleinerziehende Mutter, eine 39jährige engagierte Buchhändlerin, die selbst als 14jährige ihre Mutter durch eine Krebserkrankung verloren hatte, erstmals an Brustkrebs, der chirurgisch und chemotherapeutisch behandelt wurde. Der erste Rückfall wurde einen Tag nach Tobias’ Einschulung im Alter von 6 Jahren diagnostiziert, was dazu führte, das er zurückgestellt wurde und noch ein weiteres Jahr in den Kindergarten ging. Seitdem hatte seine Mutter Jahr für Jahr neue medizinische Komplikationen mit Metastasen in Lymphknoten, Knochen und Gehirn, was immer wieder zu chemotherapeutischen Behandlungen mit nicht mehr heilender, jedoch nennenswert lebensverlängernder Perspektive führte. Häufig begleitete Tobias in diesen Jahren seine Mutter zu ihren Behandlungen und Untersuchungen. Als er 8 Jahre alt war, wurde er Zeuge eines epileptischen Krampfanfalls der Mutter und musste selbst den Krankenwagen rufen. Die Mutter suchte ihrerseits sehr die emotionale und körperliche Nähe ihres Kindes, das sie als Verkörperung ihres Lebenswillens wahrzunehmen schien, an dem sie sich festzuhalten versuchte. Ihre körperlichen Symptome und Beeinträchtigungen bekam er über die Jahre hautnah mit. Tobias’ Angst um seine Mutter unterstützte ihrerseits diese Nähe, da auch er sie nicht aus den Augen lassen wollte. In ihm war die Angst vorprogrammiert, dass jeder Schritt von der Mutter weg, so wie beim missglückten Schritt in die Schule, zu Verlust und Tod der Mutter führen könnte. Eine normale Entwicklung zu jugendlicher Unabhängigkeit und Intimität wurde für ihn nicht möglich. Im Alter von 15 Jahren wurde Tobias schließlich von seiner Mutter in der Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgestellt, nachdem er sich schon seit einer Woche fast ausschließlich in seinem verdunkelten Zimmer aufhielt und nicht mehr zur Schule ging. Seit drei Wochen klage er über Schwindelattacken, die erstmalig während eines Einkaufsbummels mit der Mutter aufgetreten seien. Er sei beinahe ohnmächtig geworden und habe mit dem Krankenwagen in ein Kinderkrankenhaus gefahren werden müssen. Dort sei eine ausführliche neurologische Diagnostik erfolgt ohne pathologisches Ergebnis. Seither fürchte Tobias ständig einen erneuten Kollaps, bleibe im Bett und weigere sich, zur Schule zu gehen. Die Situation spitzte sich weiter zu, so dass eine mehrmonatige teilstationäre jugendpsychiatrische Behandlung des Jungen in unserer Tagesklinik notwendig wurde.

Im Gespräch schilderte die Mutter sehr ausführlich ihre Krankheitsgeschichte. Tobias selbst äußerte im Einzelgespräch, er wolle nicht über die Krankheit seiner Mutter sprechen, weil er ohnehin alles darüber wisse. Hingegen sprach er seinerseits sehr ausführlich über seine Schwindelsymptomatik. Körperliche Symptome schienen zwischen Mutter und Sohn Zuwendung und Aufmerksamkeit zu legitimieren. Erst im Laufe seiner eigenen Psychotherapie realisierte Tobias, dass seine Symptome denen der Mutter ähnelten, die aufgrund ihrer Hirnmetastasen u.a. auch unter Schwindel und Gehstörungen litt. Allmählich konnte er für sich entdecken, dass es ihm gut tat, wenn er nicht dauernd in ihrer Nähe war und konnte so beginnen, sich mit seinen Wünschen für seine eigene Entwicklung näher zu beschäftigen. Es schien, als habe ihm erst eine eigene notwendige Krankenhausbehandlung erlaubt, sich diesen Wünschen nach von der Mutter abgegrenzter eigener Entwicklung zu widmen.

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