24 Jun fK 1/10 Scheele
Behandlung und Betreuung von Frauen mit Frühgeburtsbestrebungen
Plädoyer für einen ganzheitlichen Ansatz
von Michael Scheele
Trotz aller Bemühungen um die Diagnostik und Therapie nimmt in Deutschland die Zahl der Frühgeburten immer noch leicht zu, während die Überlebensraten von Frühgeborenen steigen. Das hat verschiedene Ursachen: Schwangerschaften, die früher mit einer Fehlgeburt endeten, können heute gerettet werden. Bei künstlicher Befruchtung treten häufiger Mehrlingsschwangerschaften auf, die oft vor der 37. Schwangerschaftswoche, also mit einer Frühgeburt enden. Ein Drittel der Mehrgeburten ist durch vorzeitige Schwangerschaftsbeendigung wegen mütterlicher oder kindlicher Erkrankung bedingt.
Ursachen von Frühgeburtsbestrebungen
Fast die Hälfte der Frühgeburten findet nach vorzeitigen Wehen ohne vorzeitigen Blasensprung statt, etwa ein Drittel nach vorzeitigem Blasensprung. Schon 1975 bezeichnete Jung in Aachen am Ende einer langer Forschungstätigkeit 90 Prozent der Frühgeburten als „idiopathisch“ und stellte fest, dass vielfach psychosoziale Ursachen zu finden seien. Es besteht heute Einigkeit darüber, dass die Ätiologie der Frühgeburt multifaktoriell zu sehen ist, wobei vor allem psychosoziale Risikofaktoren beschrieben werden. Bio-psycho-soziale Faktoren sind ineinander verwoben und im Einzelfall nicht voneinander zu trennen. So ist bei Nachweis einer Infektion als mögliche Ursache einer Frühgeburt immer zu berücksichtigen, dass diese durch psychosoziale Faktoren mindestens mitbedingt, gegebenenfalls auch ausgelöst worden sein kann, indem Mechanismen der Entzündung im Körper stimuliert werden. Eine Infektion und Frühgeburtsbestrebungen können ihrerseits psychosoziale Folgen haben. Zuwenig beachtet wird auch, dass die Gebärmutter durch das vegetative Nervensystem gesteuert wird und eine stärkere Kontraktionstätigkeit durch vegetative Übererregung oder -sensibilität verursacht werden kann.
Bis heute sind aus diesen Erkenntnissen nicht genügend Konsequenzen für die Prophylaxe, Behandlung und Begleitung von Frauen mit Frühgeburtsbestrebungen gezogen worden. Kurz gesagt kommt für die Behandlung nur ein ganzheitlicher Ansatz in Frage, also die Beachtung körperlicher und psychosozialer Faktoren gleichermaßen.
Wenn man die Zahl der spontanen Frühgeburten senken will, muss es Ziel sein, (1) die Erkennung von Risiken für vorzeitige Wehentätigkeit zu verbessern, (2) zu einer Verbesserung der frühzeitigen Prävention von vorzeitiger Wehentätigkeit und vorzeitigem Blasensprung zu kommen und (3) bessere Wehen hemmende Substanzen zu entwickeln und einzusetzen.
Risiken für Frühgeburtsbestrebungen
Zur Erkennung von Risiken für vorzeitige Wehentätigkeit ist die Anamnese wichtig. Vier Beispiele seien hier genannt:
(1) Wenn eine Schwangere in der Anamnese bereits eine Frühgeburt hatte, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der Frühgeburt in dieser Schwangerschaft um den Faktor 3. Das Schwangerschaftsalter, in dem die zurückliegende Frühgeburt stattfand, ist eine besonders kritische Phase für die erneut stattfindende Frühgeburt. Die Gabe des Hormons Progesteron scheint erfolgreich in 40 bis 50 Prozent dieser Fälle auftretende Frühgeburtsbestrebungen unterdrücken zu können. Es ist noch nicht klar, auf welchem Wege das Progesteron am besten gegeben wird. Bei Zwillingsschwangerschaften hat man damit keinen Erfolg. Es sind daher weitere Forschungen dazu notwendig.
(2) Hatte die zurückliegende Frühgeburt eine Infektion als Ursache, kann ein früher totaler Muttermundsverschluss die Chancen deutlich erhöhen, dass in der Folgeschwangerschaft keine aufsteigende Genitalinfektion die Frühgeburt auslöst.
(3) Ein weiteres Beispiel zur Notwendigkeit der Risikoerfassung in der Anamnese ist das Rauchen. Fast 20 Prozent der Schwangeren rauchen und haben damit ein deutlich erhöhtes Risiko für eine Frühgeburt. Die Raucherentwöhnung ist aufgrund der höheren Motivation der Schwangeren ein wichtiger Ansatz, der z. B. in dem Projekt PATERAS der Hamburger Arbeitsgemeinschaft für Gesundheitsförderung verfolgt wird. Leider haben die Krankenkassen die finanzielle Unterstützung dieses Projekts eingestellt.
(4) Als Risiko für vorzeitige Wehentätigkeit muss auch psychosozialer Stress beachtet werden und zwar im Sinne von belastenden Lebensumständen ohne adäquate Bewältigungsmöglichkeiten der Frau und mit mangelnder Unterstützung durch das private Umfeld. Bei der Betreuung müssen daher weit mehr als bisher üblich die Persönlichkeit der Schwangeren und ihre Lebensumstände Beachtung finden. Informationen darüber kann man nicht ausreichend mit Fragebögen erhalten, sondern nur im persönlichen Gespräch. Was sagt die Schwangere, wie und mit welchen Zwischentönen. Das Hinterfragen der psychosozialen Situation muss in die geburtshilfliche Betreuung integriert sein.
Frühzeitige Prävention von Frühgeburtsbestrebungen
Infektionen sind ein Risiko für vorzeitige Wehentätigkeit und vorzeitigen Blasensprung. Dabei handelt es sich um aufsteigende Genitalinfektionen, Harnwegsinfekte aber auch z. B. um Infektionen des Zahnfleisches. Infektionen können gezielt gesucht und behandelt werden. Hinweise für eine sich entwickelnde aufsteigende Genitalinfektion können die Schwangeren selber mithilfe der Säuregradmessung in der Scheide suchen. Gezieltere Untersuchungen erfolgen bei Verdacht dann in der Frauenarztpraxis und ermöglichen eine frühzeitige zielgerichtete antibiotische Therapie. Die Vorbeugung und Bekämpfung genitaler Infektionen hat eine zentrale Rolle in der Prophylaxe der Frühgeburt.
Im individuellen Fall bleibt jedoch die Ätiologie der Frühgeburt oft unklar. Somit muss sich die frühzeitige Prävention von vorzeitiger Wehentätigkeit und vorzeitigem Blasensprung darauf stützen, andere Frühwarnzeichen zu erkennen und ernst zu nehmen. Das CTG (Cardiotokogramm) steht dabei leider oft im Mittelpunkt, obwohl es sehr schlechte Messeigenschaften zur Registrierung der Wehen hat und obwohl es nicht möglich ist, vorübergehende, vegetativbedingte Kontraktionen ohne Wirkung auf den Gebärmutterhals von kritischen Kontraktionen mit Veränderungen des Gebärmutterhalses unterscheiden. Für die Schwangere kann das CTG eher negative Auswirkungen haben. Es kann zur Symptomfixierung und -verstärkung führen. Oft hört man von Schwangeren: „Wenn das CTG-Gerät nur gebracht wird, bekomme ich schon Kontraktionen.“ Die Betreuenden verstärken diese Technikorientierung, wenn sie nur auf die CTG-Aufzeichnung achten und diese kommentieren, anstatt das Befinden der Schwangeren in den Mittelpunkt zu stellen.
Ähnlich verhält es sich mit der Cervixlängenmessung per Ultraschall. Dass sie wirklich zur Verhinderung von Frühgeburten beiträgt, ist noch nicht zweifelsfrei erwiesen. Sie hat sicher auch nur in der Gesamtbetrachtung eine Bedeutung. Sie kann einerseits beruhigen, wenn vorhandene Wehen keine Wirkung auf den Gebärmutterhals zeigen. Andererseits besteht auch hier die Gefahr der Symptomfixierung und Technikorientierung für die Schwangeren und die Betreuenden. Nicht selten sind Gebärmutterhalsveränderungen zu beobachten, die sich in der Folgezeit auch ohne Wehenhemmung nicht weiter fortsetzen oder sogar zurück entwickeln.
Wie können wir also zu einer besseren frühzeitigen Prävention von Frühgeburten kommen?
Die Schwangerenbetreuung darf sich nicht nur auf körperliche Befunde konzentrieren, sondern sie muss die Persönlichkeit und Lebenssituation der Schwangeren einbeziehen. Der Schwangeren gerade in einer Akutsituation ein intensives kontaktives Angebot zu machen, ist äußert wichtig. Es sollte eine gute und klare Information und eine Orientierungshilfe in einer einfach verständlichen positiven Sprache beinhalten. Aktives und einfühlsames Zuhören vermittelt der Schwangeren, dass sie ernst genommen wird. Ihr Selbstwertgefühl soll gestützt werden, ihr sollte Hoffnung gegeben werden. Es ist wichtig, möglichst keine Ängste bei der Schwangeren zu induzieren und nicht die eigenen Ängste auf sie zu übertragen, ohne aber eine real bedrohliche Situation zu verharmlosen. Das Gefühl der Sicherheit im Sinne von Freiheit von Angst benötigt die Frau für einen guten Verlauf der Schwangerschaft (Molinski).
Der Arzt muss selber gelassen mit der Gewichtung verstärkter Wehentätigkeit, die den Gebärmutterhals nicht verändert, umgehen, damit er diese Gelassenheit auch der Schwangeren vermitteln kann. Hilfreich kann dabei für sie auch autogenes Training sein. Für die Prophylaxe hat es sich bewährt, dass die Schwangeren lernen, Wehen zu tasten und sie als Zeichen des Körpers für ein „Zuviel“ zu interpretieren (Schulz-Züllich). Oft kann in Einzel- oder Gruppengesprächen der Schwangeren Mut gemacht werden, Schonung in ihrem Umfeld einzufordern und Druck machende Situationen zu verändern oder zu umgehen. Sie muss dann nicht mehr den sozial besser akzeptierten Weg wählen, nämlich krank zu werden. Viele gehen, unterstützt von der Medizin, unbewusst diesen Weg, weil er weniger Konflikte mit der Umwelt schafft.
Gleichwohl ist immer zu bedenken, dass es vorzeitige Wehen und Frühgeburtsbestrebungen gibt, die wir nicht nachhaltig beeinflussen können und die unweigerlich zur Frühgeburt führen. Das sollten die Betreuenden immer vor Augen haben und den Schwangeren vermitteln. Der Druck der Eigenverantwortung und die Schuldgefühle im Fall der Frühgeburt werden für die Schwangere sonst übermächtig.
Stationäre Behandlung
Die stationäre Behandlung von Frühgeburtsbestrebungen ist für die Schwangeren nicht optimal. Zwar haben sie und die Behandelnden die Sicherheit, im Falle einer Frühgeburt jede Hilfe für das Baby unmittelbar vor Ort zu haben (in Perinatalzentren Level I oder II), aber die Ruhe, die sie eigentlich benötigen, bekommen sie im üblichen Krankenhausbetrieb nicht. Der Tagesablauf ist extrem verschoben, die notwendige Intimsphäre wird nicht genügend beachtet. So wundert es nicht, dass die Ängste der Schwangeren bei stationären Behandlungen eher zunehmen. Aus meiner Sicht hat es sich bewährt, in einer unklaren Situation bei Frühgeburtsbestrebungen zunächst kurz stationär zu beobachten und zu betreuen, dann aber in gemeinsamer Verantwortung und Zusammenarbeit mit der Frauenarztpraxis so schnell wie möglich zu einer ambulanten Betreuung über zu gehen.
Bettruhe
Besonders am Beginn von vorzeitiger Wehentätigkeit wird oft Bettruhe – manchmal sogar strenge oder absolute Bettruhe, d. h. auch kein Aufstehen zur Toilette – verordnet, ohne dass sie nachgewiesener Maßen einen positiven Effekt auf die Frühgeburtsbestrebungen hat. Es gibt keine Studie, die die Wirksamkeit dieser Maßnahme nachweist oder widerlegt. Die Bettruhe – ganz besonders strenge oder absolute Bettruhe – verstärkt bei der Schwangeren aber das Gefühl der Entmündigung und das Gefühl von Ohnmacht und Kontrollverlust, Faktoren, die eindeutig als Wehen fördernd belegt sind. Wird die Wichtigkeit der Bettruhe sehr betont, haben viele Mütter im Falle der doch stattfindenden Frühgeburt besonders starke Schuldgefühle aufgrund der Vorstellung, diese wäre nicht passiert, wenn sie sich weniger bewegt hätten. Die Betreuenden müssen also sehr individuell entscheiden, welche Schonung sie der Schwangeren mit welchen Worten empfehlen.
Medikamentöse Behandlung
Für die medikamentöse Behandlung von Frühgeburtsbestrebungen stehen zwar mehrere Medikamente zur Verfügung. Es werden damit aber nicht ihre Ursachen behandelt, sondern nur das Symptom vorzeitige Wehentätigkeit. Wann das sinnvoll und nötig ist, bleibt bis heute unklar und umstritten, weil „harmlose Wehen“ nicht sicher von zur Frühgeburt führenden Wehen unterschieden werden können. Daher gibt es auch sehr viele unterschiedliche Konzepte. Durch Studien gesichert ist nur ein positiver Effekt einer intravenösen Wehenhemmung für 48 Stunden, die genutzt werden, mit Cortison-Spritzen die Lungenreife des Kindes zu fördern. Sie wird eingesetzt, wenn Wehen auftreten, die den Gebärmutterhals verändern. Eine länger dauernde Wehen hemmende Behandlung mit Tabletten ist sowohl hinsichtlich ihrer Nebenwirkungen als auch ihrer Auswirkungen auf das Kind noch nicht genügend untersucht.
Zusammenfassung
Frühgeburten sind die Hauptursache der perinatalen Morbidität und Mortalität. Die auslösenden Faktoren bleiben oft völlig unklar. Ganz gleich, ob wir eher eine organische oder psychosoziale Ursache für die Frühgeburtsbestrebungen verantwortlich machen, müssen wir die psychosomatischen Aspekte bei unserem Handeln beachten und in unsere Betreuung einbeziehen. Nicht die Suche nach psychischen Auslösern, sondern die Konzentration auf psychische Verarbeitungsstrategien von Belastungen in der Schwangerschaft muss das Ziel sein. Dabei ist die Bedeutung von vorzeitigen Wehen nicht genau einschätzbar. Bessere Strategien zur Prävention von Frühgeburtsbestrebungen sind notwendig. Hierfür ist eine bedarfsgerechte ambulante Schwangerenbetreuung besonders von Frauen mit vorzeitiger Wehentätigkeit in Frauenarztpraxen mit psychosomatischer Ausrichtung zu empfehlen. Diese Praxen können eine deutlich niedrigere Frühgeburtenrate bei den von ihnen betreuten Schwangeren nachweisen. Die Qualität von Perinatalzentren sollte auch daran gemessen werden, wie erfolgreich diese in der Verhinderung einer Frühgeburt sind.
Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.
Dr. med. Michael Scheele ist Chefarzt der Geburtshilfe und Pränatalmedizin im Perinatalzentrum (Level I) der Asklepios Klinik Nord in Hamburg.
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