3/10 Wanzeck-Sielert

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Sexualerziehung in Kindertageseinrichtungen

Von Christa Wanzeck-Sielert

Bildung ist generell ein aktiver, sozialer und vor allem ein sinnlicher und auch lustvoller Prozess der Aneignung von Welt. Von Anfang an erforschen Mädchen und Jungen mit all ihren Sinnen – durch Bewegen, Tasten, Fühlen, Riechen, Schmecken, Sehen und Hören – die Welt, sammeln ihre Eindrücke und Erkundungen, setzen sich aktiv und neugierig damit auseinander und entdecken allmählich wichtige Zusammenhänge.

Die Bedeutung von Sexualität für die Persönlichkeitsentwicklung von Mädchen und Jungen wird heute kaum mehr in Frage gestellt. Doch wird immer noch kontrovers diskutiert, wie Kinder Sexualität lernen sollen und was sie zeigen dürfen. Tabuisierungen zeigen sich im Umgang mit einzelnen Facetten kindlicher sexueller Ausdrucksformen. Verstärkt wird diese Tabuisierung durch die Aufklärungsliteratur, dort sind vor allem Geburt und Schwangerschaft Thema. Die vielfältigen sexuellen Ausdrucksformen und die Entdeckungslust der Mädchen und Jungen werden hingegen nicht (oder doch nur selten) dargestellt. Und grundsätzlich gilt: Erst allmählich setzt sich ein Perspektivenwechsel durch – weg von der Gefahrenvermeidungsprävention hin zu einem Konzept der Lebensweltorientierung.

Dennoch: Sexualität ist Thema in Kindertageseinrichtungen. Dabei berühren die sexualpädagogischen Herausforderungen verschiedene Ebenen: die Rolle der Erzieher(innen), die Auseinandersetzung im Team, die konkrete Arbeit in den jeweiligen Gruppen, die Elternarbeit sowie die Erarbeitung eines sexualpädagogischen Konzepts für die Konzeption der Institution.

Der Situationsansatz im Kontext von sexueller Bildung und Sexualerziehung In der frühkindlichen Bildung sind die Selbstbildungsprozesse als aktive Auseinandersetzung und Aneignung grundlegend. Kinder gestalten aktiv ihre Entwicklung, sie konstruieren ihre Welt durch das eigene Handeln und den Bezug zur Umwelt. Bildung und Erziehung sind aufeinander bezogen, haben aber unterschiedliche Bedeutungszusammenhänge. Der Fokus des Bildungsbegriffs ist der Subjektbezug und der Fokus von Erziehung liegt im Wollen der Erwachsenen. Im Zentrum des Situationsansatzes steht das Kind mit seiner Subjektivität und Eigenaktivität. „Kinder können durch Erziehung nicht ‚programmiert’ werden, wenn sie selbst und ihre Bildungsprozesse als unverfügbar gedacht werden. Der Grundsatz der Nicht-Verfügbarkeit des Kindes schließt auch die Möglichkeit eines ‚Entgleisens’ seiner Bildungsprozesse im Sinne einer Nicht-Kompatibiliät mit den Erziehungszielen ein“ (Laewen 2002, 218).

Erziehung als Tätigkeit von Erwachsenen ist also von den Bildungsprozessen der Kinder zu unterscheiden. Die Trennung in Bildung und Erziehung kann auch für einen kompetenten sexualpädagogischen Umgang der Erzieher(innen) im Bereich von Körper und Sexualität hilfreich und klärend sein. Sexuelle Bildung kann dann als Selbsttätigkeit begriffen werden, bei der Mädchen und Jungen auf vielfältige Entdeckungsreisen gehen und dabei sich selbst und ihren Körper auch im Kontakt mit anderen kennenlernen, ein Identitäts- und Selbstwertgefühl entwickeln, Grenzen erfahren sowie eigene Ich-Stärke und Resilienzfähigkeit ausbilden. Sexualerziehung hingegen meint die intentionalen und gelenkten Lernprozesse (durch Erwachsene), die praktische Umsetzung und intendierte Begleitung von Kindern auf dem Weg zu mehr sexueller Selbstbestimmung und zum verantwortlichen Umgang mit sich selbst und anderen.

Dieses Bewusstsein der Unterschiedlichkeit und der Handhabung von Bildung und Erziehung erfordert hohe Kompetenzen in der pädagogischen Arbeit sowie eine gute Kommunikationskultur zwischen Erzieher(inne)n und Eltern. Dabei geht es auch darum, die Anregungen und Erziehungsziele bewusst zu formulieren und sich möglicherweise Themen zuzumuten, die durch das Kind initiiert wurden, ohne die aktive Selbstbildung und Entdeckung des Kindes einzuschränken. Soll dies gelingen, sind dafür die wahrnehmende, entdeckende Beobachtung, Dokumentation und der Austausch im Team eine unabdingbare Voraussetzung.

Sexualpädagogische Handlungskompetenz der Erzieherinnen und Erzieher
Selbstreflexion: Sexualerziehung im Sinne von Sexualisation geschieht in jeder Kindertageseinrichtung. Erzieher(innen) sind der Schlüssel für eine sexualfreundliche Erziehung. Auch das Nichtreagieren, das Übersehen, das Verdrängen des Sexuellen hat Konsequenzen für die Einstellung und das Verhalten der Kinder (vgl. Wanzeck-Sielert 2004, 60 ff). Die konkrete Konfrontation mit kindlicher Sexualität und körperlicher Neugier erleben viele Erzieher(innen) auch heute noch als unangenehm. Hier kommt die eigene – auch sexuelle – Biografie zum Tragen. Der sexuellen Identität kommt innerhalb der Gesamtidentität besondere Bedeutung zu, sie ist eng mit Körperlichkeit und Geschlechtlichkeit verknüpft und eine der frühesten Erfahrungen von Menschen. Emotionen spielen generell eine große Rolle, sodass die eigene sexuelle Geschichte und die biografischen Erinnerungen im sexuellen Erleben immer präsent sind. Wer in der eigenen Kindheit und Jugend eine eher repressive Sexualerziehung erfahren hat, kann schwer Befangenheit überwinden.

Um sexualpädagogische Alltagssituationen angemessen einschätzen und beeinflussen zu können, ist entsprechend geschulte Handlungskompetenz nötig. Das geht kaum ohne ein Mindestmaß an Selbstreflexion und persönlichem Lernen, also die angeleitete Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie, gesellschaftlichen Normen und Werten, sexuellen Verhaltensweisen und Einstellungen. So bekommen Erzieher(innen) ein Bewusstsein für Unsicherheiten und Stärken im sexuellen Selbstkonzept und in der Wahrnehmung der eigenen Biografie. Daraus resultiert die Entwicklung von Sprachfähigkeit und eines eigenen Standpunktes auch bei schwierigen sexualpädagogischen Themen. Ein unbewusster und unbedachter Umgang mit sexualpädagogischen Situationen kann zu schwierigen Situationen führen, z. B. blinder Aktionismus bei vermutetem sexuellen Missbrauch oder die Weitergabe von eigenen Unsicherheiten an die Kinder.

Die bewusste Beschäftigung mit der eigenen sexuellen Biografie stärkt das sexuelle Selbstwertgefühl und führt zu einer größeren Zufriedenheit und Selbstständigkeit sowie zu einer gewissen Unabhängigkeit vom Urteil anderer. Sie fördert nicht nur die Empathiefähigkeit für die individuellen Lebenslagen der Mädchen und Jungen und das Annehmen der Kinder in ihrem So-Sein, sondern auch Besonnenheit und Gelassenheit angesichts herausfordernder sexualpädagogischer Situationen. Auch die Erkenntnis der Unabgeschlossenheit der eigenen sexuellen Entwicklung kann sich entlastend und erleichternd auf die konkrete sexualpädagogische Praxis auswirken.

Bei der eigenen Reflexion ist ein besonders wichtiger Aspekt, wie Erzieher(innen) über Mädchen- und Jungenwelten denken, was sie von Expert(inn)en gehört und verarbeitet haben und wie dieses von ihnen selbst im Alltag umgesetzt wird. Unhinterfragt bleibt oft die ‚Übergriffigkeit’ von Jungen und das ‚Ausgeliefertsein’ von Mädchen im Bewusstsein. Beides bedarf aber der kritischen Überprüfung und vor allem der genauen Wahrnehmung in jeder einzelnen Situation. Andernfalls lenken nicht die Bedürfnisse und realen Handlungen der Kinder das sexualpädagogische Handeln, sondern eigene Fantasien und moralische Vorstellungen.

Fachwissen: Um sexualpädagogisch kompetent handeln zu können, sind Faktenwissen über die psychosexuelle und psychosoziale Entwicklung von Kindern, die Vielfalt individueller sexueller Ausdrucksformen von Mädchen und Jungen im Vorschulalter und aktuelle Informationen über Aufklärungsliteratur und Medien für Kinder und Eltern nötig. Auch Wissen über Grenzbereiche kindlicher Sexualität ist bedeutsam, um zwischen normalen sexuellen Aktivitäten und sexuellen Übergriffen unter Kinder unterscheiden zu können. Daneben brauchen Erzieher(innen) Handlungswissen über Kommunikation, Gesprächsführung und Beratung, um gelingende und auch schwierige Gespräche mit Eltern, im Team oder mit Kolleg(inn)en anderer Institutionen führen zu können.

Wahrnehmung und entdeckendes Beobachten: Zur Erfassung kritischer Situationen und zur individuellen Förderung von Kindern benötigen Erzieher(innen) ein Instrumentarium, um Situationen, Verhalten oder einzelne Kinder umfassend kennen zu lernen. Wahrnehmendes und entdeckendes Beobachten darf nicht auf ein ‚Modellkind’ im wissenschaftlichen Sinne fokussiert sein, sondern der Blick muss auf das alltägliche Handeln eines Kindes mit allen Facetten, Besonderheiten und Sinnesausdrücken gerichtet sein. Vielperspektivisch können die einzelnen Interaktionen, Ereignisse und Beziehungen von Kindern in verschiedenen Kontexten entdeckt und beobachtet werden (vgl. Schäfer 2004) Subjektive Beobachtungen bedürfen unbedingt einer Überprüfung durch andere Kolleg(inn)n im Team, dadurch können die individuellen Wahrnehmungen intersubjektiv korrigiert werden. Im nächsten Schritt wird dokumentiert, um die vielfältigen Aspekte der Beobachtungen zu erfassen, um mögliche Handlungsschritte oder Themen zu eruieren und umzusetzen.

Leitend im Kontext von Sexualität und Körper ist der Blick auf die unterschiedlichen Sinnes-, Körper- und Beziehungserfahrungen, die wahrgenommenen Themen und deren Verarbeitung, die konkreten Situationen, verknüpft mit dem individuellen Lebenszusammenhang, die Raum- und Spielbedingungen sowie die persönlichen Herausforderungen, die sich jedes Kind selbst an sich stellt.

Didaktische Kreativität: Sexuelle Bildung und Sexualerziehung brauchen altersangemessene didaktische Kreativität. Dabei stehen Alter, Themen und Erfahrungen des individuellen Kindes mit seiner Eigentätigkeit im Vordergrund. Daneben muss Sexualerziehung als bewusst gestellte pädagogische Aufgabe Erfahrungsräume gestalten, in denen Kinder ein Gefühl für das ‚stimmende’ und authentische Verhalten selbst entdecken und erspüren. Die Partizipation der Kinder bei der Entwicklung von Themen oder Projekten gehört ebenso dazu, wie die Umsetzung vielfältiger kreativer Spiel- und Lernaktionen.

Pädagogische Selbstwirksamkeit: Erzieher(innen) entwickeln ein Gefühl für pädagogische Selbstwirksamkeit durch die intensive und bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie sowie den vielfältigen sexualpädagogischen Themen und Alltagssituationen in Kindertageseinrichtungen. Gemeint ist, das eigene wie das Verhalten und Erleben anderer – Kinder, Kolleg(inn)en, Vorgesetzten, Eltern – sowie vielfältige sexualpädagogische Situationen angemessen erklären, vorhersehen und beeinflussen zu können. Damit ist auch die Überzeugung verknüpft, handlungsfähig zu sein, z. B. übergriffiges Verhalten zu vermeiden, nicht alles (etwa die Kuschelecke) kontrollieren zu müssen, ein schwieriges Elterngespräch zu führen oder einen gelungenen Elternabend gestalten zu können. Pädagogische Selbstwirksamkeit heißt auch wahrzunehmen, wann es angebracht ist, in kleinen Gruppen mit Mädchen und/oder Jungen ein Aufklärungsbuch zu lesen oder anderen Teammitgliedern eine schwierige sexualpädagogische Situation ‚zuzumuten’. In der konkreten Arbeit geht es nicht darum, für alle Themen und Fragen von Kindern, Eltern und Kolleg(inn)en Antworten zu haben bzw. alles wissen zu müssen, sondern Vorbild zu sein für eine produktive Weise der Auseinandersetzung mit den vielfältigen sexualpädagogischen Themen und Situationen, die täglich und auf verschiedenen Ebenen vorkommen.

Sexualerziehung als Thema im Team
Eine körper- und sexualfreundliche Erziehung braucht die Zusammenarbeit im Team. Selten wird in den Kindertageseinrichtungen offen über kindliche Sexualität gesprochen. Angst, Unsicherheit, Vorsicht, Rücksichtsnahme und Taktik prägen das Gesprächsklima, eine Auseinandersetzung über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Bewertung und im Umgang mit kindlicher Sexualität findet nicht statt. Der Austausch über verschiedene Haltungen und Bewertungen ermöglicht jedoch, sich mit plötzlich auftretenden Fragen auseinandersetzen zu können und bei Bedarf auch gemeinsame Positionen zu finden. Es geht nicht darum, dass alle die gleichen Vorstellungen haben müssen oder gar darum, anderen Meinungen und Haltungen aufzuzwingen, sondern um den Austausch von Erfahrungen, das Wissen um die Stärken und Schwächen der einzelnen Teammitglieder sowie um mehr Klarheit über die eigene Einstellung und die der anderen.

Wachsen kann dann die Bewusstheit darüber, dass die Überzeugungen und Wertmaßstäbe der eigenen Person in die Praxis einfließen. Eigene Grenzen können deutlich werden, denn Echtheit und Authentizität sind die entscheidenden Aspekte im sexualpädagogischen Umgang mit Kindern. Dies gibt Sicherheit und Rückenstärkung bei schwierigen sexualpädagogischen Situationen. Ein gelungener und wertschätzender Austausch kann dazu führen, dass das Team zu einem Ort wird, an dem eigene Hemmungen und Barrieren im Umgang mit Sexualität zur Sprache kommen und es möglich ist, sich gegenseitig den Blick für soziale und emotionale Entwicklungen zu schärfen. Solche Austauschprozesse werden sich positiv auf die ‚sexualpädagogische Praxis’ auswirken. Dies entlastet die Teammitglieder, sensibilisiert für die konkrete sexualpädagogische Arbeit vor Ort und schafft Transparenz. Besonders bei Kritik von außen können sich die Erzieher(innen) so der Solidarität und Stärkung ihres Teams sicher sein. Nicht zuletzt geht es um die Erarbeitung gemeinsamer sexualpädagogischer Standpunkte, die anschließend in eine Diskussion mit den Eltern und mit dem Träger über eine sexualpädagogische Konzeption für die Kindertageseinrichtung münden kann. Dadurch wird die Arbeit der Kindertageseinrichtung für Außenstehende verständlicher und transparenter.

Der sexualpädagogische Alltag in den Kindergruppen
Körper und Identität sind eng miteinander verknüpft und so verweist Freuds Satz: „Das Ich ist vor allem ein Körperliches“ auf die Ursprünge der Ich-Identität. Voller Neugier und Tatendrang ‚begreifen’ bereits Säuglinge die Welt und sich selbst. So zeigt sich Sexualität in Kindertageseinrichtungen in ganz unterschiedlichen Facetten: direkt oder indirekt, fragend oder provozierend. Dabei müssen in der sexualpädagogischen Arbeit die unterschiedlichen Altersgruppen berücksichtigt werden. Mädchen und Jungen des Krippenalters, ausgestattet mit intuitivem Wissen, Körperwahrnehmungen und Emotionen, zeigen eine Spannbreite von körperlichen und sexuellen Entdeckungsreisen, die sich zwischen Lust und Freude am Körper und an der Bewegung sowie Zurückgezogenheit und Unsicherheit bewegen. Das Kind macht wichtige Entwicklungsschritte und formt sein Bild von sich und der Welt. Im Mittelpunkt stehen Fragen zu sich selbst und die mit ihnen unmittelbar verbundenen erwachsenen Bezugspersonen. Pädagogisch geht es einerseits um die Förderung von Beziehungssicherheit und andererseits der individuellen Entdeckungsreisen und Ausdrucksweisen.

Der Erfahrungsraum des älter werdenden Kindes erweitert sich um das Bild von den anderen. Beziehungen und Freundschaften zu anderen Kindern werden wichtiger. Im Kindergartenalter sind bestimmte zentrale Verhaltensweisen im Kontext von Sexualität und Körper immer wieder zu beobachten: das Ausprobieren unterschiedlicher Kinderfreundschaften, Gefühle von Scham, Selbstbefriedigung, sexuelle Rollenspiele, Doktorspiele, konkrete Fragen zur Sexualität bzw. zu sexuellen Themen und Sprüchen. Bewusste Sexualerziehung unterstützt einen positiven Umgang mit Sexualität und Körperlichkeit, damit Mädchen und Jungen Selbstvertrauen entwickeln, in ihrem Selbstwertgefühl gestärkt und ihre Liebes- und Beziehungsfähigkeit gefördert wird.

Doch gibt es auch Grenzbereiche im sexuellen Verhalten von Mädchen und Jungen. Dabei ist es wichtig, sexuelle Übergriffe unter Kindern nicht mit sexuellem Missbrauch zu vermischen. Beim sexuellen Missbrauch führt der Erwachsene sexuelle Handlungen mit oder an Kindern aus. Das ist immer sexualisierte Gewalt. Sexuelle Handlungen zwischen Kindern sind zunächst einmal sexuelle Aktivitäten. Jedoch auch ein Kind kann seine Überlegenheit in der Gruppe dazu nutzen, gegenüber einem anderen Kind übergriffig zu werden (vgl. Freund/Riedel-Breidenstein 2004). Das Merkmal der Unfreiwilligkeit aber ist abhängig von der konkreten Situation. So kann eine sexuelle Aktivität unter Kindern in einem bestimmten Kontext auf freiwilliger Basis geschehen und in einem anderen durchaus erzwungen worden sein – es ist nicht immer ganz eindeutig, ob es sich um einen sexuellen Übergriff handelt oder nicht. Wichtig ist, dass fachlich angemessen analysiert und reagiert wird, denn beiden Beteiligten muss geholfen werden: dem übergriffigen wie dem davon betroffenen Kind.

Um adäquat reagieren zu können, ist es sinnvoll, mit Hilfe des wahrnehmenden und entdeckenden Beobachtens Klarheit zu bekommen. Dabei müssen die konkrete Situation als auch die jeweiligen individuellen Lebenszusammenhänge der Kinder genau erfasst werden. Auch Gespräche mit den beteiligten Kindern sind zu führen. Insgesamt darf der Blick für die Gesamtsituation nicht aus dem Auge verloren werden.

Elternarbeit
Beim Thema Elternarbeit müssen zwei Aspekte wahrgenommen werden: Familie und Kindertageseinrichtungen sind Sozialisationsinstanzen, in denen unterschiedliche Erziehungsstile, Werte, Einstellungen und Sichtweisen aufeinander treffen können. Da Sexualerziehung in Kindertageseinrichtungen eine familienergänzende Funktion hat, ist die Einbeziehung der Eltern wichtig. Jedoch sitzen Erzieher(innen) dabei häufig zwischen zwei Stühlen: den restriktiven Vorstellungen der Eltern und der eigenen Bejahung kindlicher Sexualität. Das Spagatmanagement von Erzieher(inne)n reicht von der Erwartung der Eltern, dass diese die Aufklärung übernehmen, bis zum Verbot, sich überhaupt einzumischen. Häufig geht es darum, zwischen dem Wohl des Kindes und den Vorstellungen der Eltern über das ‚richtige’ sexuelle Verhalten ihres Kindes zu vermitteln.

Unsicherheiten bestehen auf Seiten der Erzieher(innen) sowie bei den Eltern, vermutlich mehr bei den Eltern. Sie wollen ihre Kinder in der Entwicklung unterstützen, aber fühlen sich doch bei der Sexualerziehung unsicher, überfordert und sprachlos. Zur Professionalität von Erzieher(inne)n gehört es ja, eigene Verunsicherungen fachlich und persönlich zu bearbeiten. Ursachen können in fehlendem Fachwissen, in mangelnder Sprach- und Kommunikationsfähigkeit bei sexualpädagogischen Themen liegen. So ist die Initiierung und Etablierung einer Kommunikationskultur von Bedeutung, die im Sinne aller Beteiligten Konflikte nicht vermeidet, sondern bearbeitet und löst. Eltern brauchen Unterstützung und Begleitung, denn sie haben zur Sexualität ihrer Kinder oft viele Fragen und benötigen grundlegende Informationen über die psychosexuelle Entwicklung und die sexuellen Ausdrucksformen ihrer Kinder. Dadurch werden auch Eltern fähig, mit ihren Kindern über Sexualität zu reden, deren sexuelle Entfaltung zu ermöglichen und gleichzeitig Grenzen des Umgangs miteinander zu achten.

Elterngespräche: Im sexualpädagogischen Alltag gibt es immer wieder Anknüpfungspunkte für Gespräche mit Eltern über sexuelle Verhaltensweisen von einzelnen Kindern in der Kindergruppe, über Doktorspiele in der Kuschelecke oder über sexuelle Schimpfwörter, die Kinder gerne benutzen. Die aufgeregten Reaktionen mancher Eltern müssen ernst genommen und sollten nicht in einem Tür- und Angelgespräch erörtert werden, sondern in ruhigerem Kontext, in dem alle Fragen ungestört geklärt werden können. Wichtig ist herauszufinden, was hinter der ‚Aufregung’ steckt. Oft sind es Ängste, dass andere oder auch das eigene Kind sich ‚frühreif’ und unangemessen verhalten könnten.

Voraussetzung für das Gelingen eines Gesprächs ist gute Vorbereitung. Dabei müssen sachliche, soziodynamische und psycho-emotionale Aspekte bedacht werden. Es ist gut, sich im Vorfeld mit möglichen ‚heimlichen’ Eltern-Ängsten und Fragen auseinanderzusetzen, z. B.: Mag die Erzieherin mein Kind, auch wenn es momentan ‚auffälligere’ sexuelle Verhaltensweisen zeigt? Ist mein Kind eventuell nicht normal? Wird die Erzieherin mir vorhalten, dass ich zu locker mit Sexualität umgehe? Wird sie mich moralisch verurteilen? Sieht sie mein Kind anders, weil ich Alleinerziehende, Sozialhilfeempfängerin oder Ausländerin bin?

Das Zulassen möglicher Gedanken und Ängste von Müttern und Vätern kann dem Gespräch mögliche Stolpersteine und Missverständnisse nehmen und Türöffner für die tiefer liegenden Fragen und Unsicherheiten sein. Nicht zuletzt ist es wichtig, dass Gespräche ungestört in einem Beratungsraum stattfinden.

Elternabend: Elternabende zur Sexualerziehung sollten Standard in Kindertageseinrichtungen sein. Sie sind eine gute Möglichkeit, die sexualpädagogische Position des Teams einer Kindertageseinrichtung vorzustellen. Auch eignen sie sich, um grundlegende Informationen über die psychosexuelle Entwicklung und deren Ausdrucksformen und Aktivitäten zu geben. Dadurch bekommen Eltern mehr Klarheit und Sicherheit im Umgang mit kindlicher Sexualität und werden befähigt, mit ihren Kindern über Sexualität zu sprechen. Ein gelungener Elternabend braucht die Vorbereitung durch das Team. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch in einer Gruppe sachliche, soziodynamische und psychosexuelle Aspekte eine Rolle spielen. Besonderer Fokus ist hier auf das ‚Zusammenspiel’ der Teilnehmenden zu achten und dabei vorher zu überprüfen, wie gut sich die Eltern untereinander kennen. Dazu gehört auch das Wissen um die zunächst zurückhaltende, abwartende und eventuell prüfende Haltung der Eltern.

Elternmitarbeit: Grundsätzlich arbeiten Eltern durch die Wahl der Elternvertretungen in Kindertageseinrichtungen mit. Von Bedeutung ist, welchen Stellenwert die Eltern-mit-arbeit in der Institution hat und welche generelle Haltung zur Elternarbeit vorherrscht. Steht die Defizitorientierung oder Abgrenzung eher im Vordergrund oder die Meinung, Eltern auch als Experten zu sehen? Wie viel Einblick gewährt das Team den Eltern in ihre Arbeit? Gibt es sexualpädagogische Projekte, die Eltern und Erzieher(innen) gemeinsam entwickeln und gestalten? Eltern bringen vielfältige Kompetenzen über Erziehungsfragen in die Kindertageseinrichtung ein und könnten durch vielfältige Anregungen, Ideen und Kompetenzen den sexualpädagogischen Alltag bereichern.

Anmerkungen zu Eltern anderer Kulturen: Die Auffassungen über das ‚richtige’ Verhalten von Mädchen und Jungen können innerhalb einer Kultur weit auseinanderklaffen. Es gibt Familien, die sich im Umgang mit Sexualität streng fundamentalistisch an biblischen Normen orientieren, andere gehen mit anderen Anschauungen offen um. Für Eltern anderer Kulturen ist es wichtig, dass sie das Gefühl haben, dass ihre Kinder mit ihrer ‚Andersartigkeit’ akzeptiert werden, sensibel und wertschätzend mit ihnen umgegangen wird. Das persönliche Interesse an den Lebensbedingungen dieser Familien ist ein wichtiger Aspekt. Auch wenn die Familien schon viele Jahre in Deutschland leben, sind sie häufig den Vorstellungen und Bewertungen von Sexualität und Zusammenleben ihrer Herkunftskultur treu geblieben. Dies betrifft besonders türkische Familien, deren Kinder in der dritten Generation hier leben und einen Weg zwischen verschiedenen kulturellen Bewertungen von Sexualität finden müssen. Sie schwanken zwischen den liberalen westlichen Vorstellungen von Liebe und Sexualität und den in ihren Familien tradierten Auffassungen. Besonders türkische Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder nicht zu viel über Sexualität erfahren oder gar zu sexuellen Spielen ermuntert werden. Sie akzeptieren aber sehr wohl sexualpädagogisches Eingreifen von Seiten der Erzieherin, wenn es darum geht, Intimität von Kindern zu schützen. Unter einer aktiven Sexualerziehung können sie sich oft nicht viel vorstellen – es ist für die Erzieher(innen) sicher wichtig, Genaueres über die Vorstellungen der Eltern zu erfahren.

Das sexualpädagogische Konzept
Sexualfreundliche und sinnesfördernde Erziehung benötigt nicht nur kompetente Erzieher(innen), sondern auch ein sexualpädagogisches Konzept. Bisher gibt es wenige Kindertageseinrichtungen, die sich intensiv mit Konzeptentwicklung im sexualpädagogischen Bereich befassen. Dabei sind die Chancen für eine Diskussion über Ziele, Inhalte und Vermittlungsweisen nach der PISA-Studie sehr günstig. Vor allem besteht die Chance, sexuelle Bildung und Sexualerziehung in den Gesamtkontext eines neuen und offensiven Bildungsverständnisses zu stellen. Alle neuen Erziehungs- und Bildungskonzepte der einzelnen Bundesländer enthalten mehr oder weniger deutliche Ansatzpunkte für sexuelle Bildung und Sexualerziehung im Bildungsbereich „Körper, Bewegung, Gesundheit“. Dass der Mensch nicht nur einen Körper hat, sondern Körper ist, und dass Körper und Bewegung nicht nur wichtige Aspekte in der Gestaltung von Beziehungen und Welt, sondern auch eine „elementare Form des Denkens“ darstellt, heißt es im Bildungsprogramm Sachsen-Anhalts (2004, 43)

Die Thematisierung kindlicher Sexualität und Körperlichkeit, die Auseinandersetzung über einen fachlich adäquaten Umgang mit unterschiedlichen sexuellen Ausdrucksformen von Kindern braucht eine Erarbeitung im Team. So entstehen gemeinsame Standpunkte zu den vielfältigen Aspekten kindlicher Sexualität, die nicht nur zu einer bewussten Haltung aller Mitarbeiter(innen) führt, sondern sich zugleich in einem sexualpädagogischen Konzept niederschlagen sollte. Das Ziel eines solchen Konzepts ist, die Umgangsweisen und Situationen im sexualpädagogischen Alltag nicht dem Zufall zu überlassen, sondern die Basis von sexueller Bildung und Sexualerziehung zu formulieren und im Sinne des neuen Erziehungs- und Bildungsverständnisses zu begründen.

Die Erstellung eines sexualpädagogischen Konzepts ist ohne Handlungsdruck und ohne konkrete Vorfälle wesentlich besser zu bewerkstelligen, als wenn aktuelle Konflikte dazu zwingen. Der Prozess der Erarbeitung wird dann genauso wichtig wie das Ergebnis. Ein sexualpädagogisches Konzept ist nicht nur ein wichtiges Qualitätsmerkmal von Kindertageseinrichtungen, sondern gibt durch die Umsetzung der Bildungsprogramme der Einrichtung ein ihr eigenständiges Profil im Bildungsbereich „Körper, Bewegung, Gesundheit“ und unterstreicht die fachliche Kompetenz der Erzieher(innen). Die Festschreibung von Sexualerziehung und sexueller Bildung im Konzept einer Einrichtung zeigt den Rahmen und die Transparenz nach innen und nach außen auf. Die Position wird auch für den Träger klar formuliert. Dadurch werden die Erzieher(innen) zugleich entlastet und gestärkt. Auch die Eltern wissen, wie das Team zum Thema steht. Des Weiteren signalisiert ein vorliegendes Konzept, dass Mitarbeiter(innen) kompetente Gesprächspartner(innen) für Fragen sind, die nicht nur in Konfliktfällen angesprochen werden können, sondern grundsätzlich zur Qualifizierung des sexualpädagogischen Alltags in Kindertageseinrichtung und Familie Wesentliches beitragen.

Der Beitrag wurde erstmals veröffentlicht in: Renate-Berenike Schmidt und Uwe Sielert (Hrsg.). Handbuch für Sexualpädagogik und sexuelle Bildung. Juventa Verlag 2008. Wir danken dem Juventa Verlag für die Genehmigung.

Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

Christa Wanzeck-Sielert ist Diplom-Pädagogin, Supervisorin und Lehrsupervisorin (DGSv), tätig bei der Serviceagentur „ganztägig lernen“, sowie Lehrbeauftrage an der Universität Flensburg.

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