24 Jun 3/10 Fiedler
Psychosexuelle Entwicklung und ihre Störungen
Von Peter Fiedler
In öffentlichen Diskursen werden die biologischen Voraussetzungen eines Menschen (englisch: Sex) häufig kaum oder nur ungenau von ihren gesellschaftlich-kulturell möglichen Ausdrucksformen (englisch: Gender) getrennt. Auch in der Wissenschaft war diese Unterscheidung bis in die 1960er Jahre hinein unüblich, selbst im angelsächsischen Raum, wo zwei Begriffe für eine Unterscheidung vorhanden sind. Für ein Verständnis der psychosexuellen Entwicklung ist es jedoch sinnvoll, zwischen Geschlecht als biologischer Voraussetzung und Geschlecht als subjektiv erlebter Identität (Geschlechtsidentität) beziehungsweise auch noch als Geschlecht einer öffentlich präsentierten sozialen Rolle (Geschlechtsrolle) begrifflich zu unterscheiden.
Die biologischen Merkmale sind nämlich nicht ausschließlich dafür maßgeblich, wie Geschlecht und Geschlechtlichkeit vom Menschen selbst erlebt und gelebt oder nach außen dargestellt werden. Das innerpsychische Skript (die subjektiv erlebte Geschlechtsidentität und die interpersonell gelebte sexuelle Orientierung) folgt einer Logik, die subjektives Begehren möglich macht. Das sozial praktizierte Skript sexueller Handlungen (die präsentierte Geschlechtsrolle und die Sexualpraktiken) gehorcht einer Logik, die Verhalten üblicherweise sozial-gesellschaftlich akzeptabel macht. Letzteres, die interpersonell-soziale Dimension ist deshalb zumeist jene, die der Beurteilung von Handlungen als „abweichend“ (im Sinne psychischer Gestörtheit) und „delinquent“ (im Sinne juristischer Beurteilung) zugrunde gelegt werden kann.
Die Entwicklung des Sexualverhaltens
Die Frage, ob „es“ denn nun ein Mädchen oder ein Junge geworden ist, klärt sich heute nicht erst, wenn das Kind zur Welt gekommen ist. Dank Bild gebender Diagnostik kann das morphologische Geschlecht schon während der Schwangerschaft mit relativer Sicherheit bestimmt werden, und das genetische Geschlecht auf der Grundlage zytologischer Zusatzuntersuchungen. Spätestens mit der Geburt jedoch erfolgt durch die Geburtshelfer in den Geburtsunterlagen die Festlegung des administrativen („bürgerlichen“) Geschlechts anhand des aktuellen Zustands der äußeren Geschlechtsorgane. Das Geschlecht, das Eltern ihrer Erziehung zugrunde legen, baut üblicherweise auf diese Festlegungen auf – kann jedoch durch eventuell enttäuschte vorbestehende Erwartungen überformt werden.
Üblicherweise jedoch führt die klare Beantwortung dieser Frage zu entscheidenden Unterschieden in der Beziehung, die unterschiedliche Personen zum Mädchen oder Jungen aufbauen: Namensgebung, Kleiderwahl, Haarschnitt, Geschenke und Spielsachen – bei fast allem wird hinfort den kulturellen Gepflogenheiten entsprechend geschlechtsspezifisch gedacht, gehandelt und erzogen. Die Entwicklung einer Geschlechtsidentität beginnt mit den ersten Lebensminuten, und es ist nicht verwunderlich, wenn die Sexualforscher heute sicher davon ausgehen, dass sich in Entsprechung zur Erziehungsumwelt auch die subjektive Geschlechtsrollenfestlegung des Kindes rasend schnell entwickelt und bereits weitgehend vollzogen ist, bevor das Kind damit beginnt, das Sprechen zu beherrschen – etwa im Alter zwischen 18 Monaten und zwei Jahren.
Geschlechtsidentität
Kommt im zweiten und dritten Lebensjahr die Sprache hinzu, dauert es nach groben Schätzungen und gewissen Unterschieden zwischen Kindern nur noch weitere zwei Jahre, bis die Geschlechtsidentität bei den meisten Jungen und Mädchen auch im Selbstbild unwiderruflich festgelegt ist und damit im Geschlechtsrollenverhalten seinen Ausdruck findet. Es kann in dieser Zeit noch vorkommen, dass Kinder die weiblichen und männlichen Geschlechtsorgane verwechseln, was überhaupt nicht heißt, dass sie sich über die eigene Geschlechtlichkeit im Unklaren sind. Kinder dieses Alters nehmen die Unterscheidung nicht anhand der Geschlechtsorgane vor, sondern orientieren sich an anderen Merkmalen, nämlich jenen, mit denen ihnen diese Unterschiede von Geburt an durch die Erziehungspersonen näher gebracht wurden.
Geschlechtsrolle
Mit zunehmendem Sprachvermögen organisiert sich beim Kind auf der Grundlage der erlebten Geschlechtsidentität die subjektive und mitteilbare Selbsterkenntnis, einem bestimmten Geschlecht anzugehören. Dies führt das Kind auch dazu, geschlechtsrollentypische Verhaltensweisen zu bevorzugen und gleichgeschlechtliche Personen als Rollenmodelle auszuwählen. Die subjektiv erlebte Geschlechtsidentität und die persönliche Geschlechtsrolle entwickeln sich vermutlich nur sehr bedingt nacheinander, über die ersten Jahre hinweg in vielerlei Hinsicht eher gleichsinnig und sich wechselseitig beeinflussend. Dennoch scheint die Geschlechtsidentität bereits in den ersten Lebensjahren weitgehend festgelegt zu sein, während sich die weitere Entwicklung der persönlichen Geschlechtsrolle und Rollenpräsentation wesentlich an kulturspezifischen Vorstellungen und Normen sowie an sozialen Erwartungen orientiert und ausdifferenziert.
Geschlechtsrollenpräsentation
Schließlich beinhaltet die öffentliche Präsentation der Geschlechtsrolle all das, was ein Mensch nach außen hin sagt oder tut, um sich, je nachdem, als Junge oder Mann bzw. Mädchen oder Frau darzustellen. Es besteht inzwischen Konsens darüber, dass sich die Geschlechtsrollenpräsentation zwar durch die Geschlechtsidentität mit bestimmt, sich in der Vielfalt ihrer Erscheinungsformen jedoch nach und nach durch Erfahrungen aufbaut und vervollständigt. Wesentlich dafür scheinen erzieherische Einflüsse und soziale Erwartungen – aber das ist gar nicht so einfach zu belegen.
Beispielsweise versuchten Eltern in den so genannten Kinderläden in den Folgejahren der 1968er-Bewegung ihren Kindern eine Erziehung anzubieten, die frei von Geschlechtsorientierung sein sollte. Vergleichbare Ansprüche finden sich in der Israelischen Kibbutzerziehung. Forscher kamen zu dem überraschenden Ergebnis, dass sich die Verhaltensunterschiede zwischen den Geschlechtern in den Kinderläden als weit ausgeprägter erwiesen und viel mehr den gängigen Klischees entsprachen als in traditionellen Kindergärten. Mädchen entwickelten in besonderer Weise eine Vorliebe für Mutter-Kind-Spiele, Jungen eine Vorliebe für technisches Spielzeug. Alles lief in den Interaktionen zwar erheblich konfliktärmer zwischen den Kindern ab, was aber daran lag, dass die Mädchen sich angesichts einer auffällig dominierenden Aggressionsneigung der Jungen eher bereitwillig bis ängstlich zurückzogen. Die Kibbutzforschungen zu dieser Frage entsprechen den geschilderten Beobachtungen.
Die Entwicklung sexueller Präferenzen, Vorlieben und Neigungen
Mit Beginn der Jugend kommt es zur Ausbildung erotischer und sexueller Wünsche, die sich in den sexuellen Präferenzen (in den sexuellen Vorlieben und Wünschen) und in der sexuellen Orientierung oder (genauer:) in der Geschlechtspartnerorientierung wiederfinden. Diese hängen vorrangig mit deutlichen hormonellen Veränderungen in der Pubertät zusammen, die eine rasch zunehmende sexuelle Reaktionsfähigkeit bewirken.
Sexuelle Orientierung und Partnerwahl
Nach wie vor gibt es Kontroversen über die Anzahl von Personen, die im Verlauf ihrer Entwicklung nicht ausschließlich heterosexuell orientiert sind. Die Angaben der organisierten Schwulen und Lesben zu homosexueller Orientierung und Partnerwahl lagen viele Jahre lang „konsensuell“ bei durchschnittlich 10 Prozent, eine Zahl, die auch heute noch im Internet weite Verbreitung findet. Demgegenüber kann man heute auf der Grundlage epidemiologischer Studien davon ausgehen, dass sich seit ihrem 18. Lebensjahr etwa fünf bis sechs Prozent der Männer und vier bis fünf Prozent der Frauen entweder ausschließlich homosexuell oder jeweils mehr oder weniger häufig bisexuell engagiert haben. Entsprechend liegt die Zahl der Männer ohne gleichgeschlechtliche Beziehungen bei 94 bis 95 Prozent und die Zahl der heterosexuell orientierten Frauen bei 95 bis 96 Prozent.
Störungen der Geschlechtsidentität bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen
Immer wieder gibt es Personen beiderlei Geschlechts, denen es im Verlauf ihrer Entwicklung zunehmend schwerer fällt, sich mit ihrem biologischen Geschlecht zu identifizieren. Dabei handelt es sich um Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit männlichem Körper, die sich zeitweilig oder beständig als Mädchen oder Frau fühlen, wie auch umgekehrt jene mit weiblichem Köper, die sich selbst als Junge oder Mann betrachten. Insbesondere wenn die sekundären Geschlechtsmerkmale in der Jugend zunehmen, kommt es bei vielen zu einem zunehmenden Leiden unter ihren biologisch deutlicher werdenden Geschlechtsmerkmalen (Geschlechtsdysphorie).
Dies kann bei einer Untergruppe zur Konsequenz haben, dass sie alles Mögliche unternehmen, um ihren Körper mit dem subjektivem Identitätserleben in Übereinstimmung zu bringen. Dieses Phänomen wird üblicherweise als Transsexualismus bezeichnet. Für die unterschiedlichen Phänomene dieser Entwicklung, auf die nachfolgend eingegangen wird, findet auch die Bezeichnung Geschlechtsidentitätsstörung (GIS), und in der Forschung werden die Typen einer GIS (Geschlechtsidentitätsstörung) unter der Bezeichnung Transgenderismus zusammengefasst und untersucht.
In den vergangenen drei Jahrzehnten haben die Transgenderismus-Forscher mit großem Aufwand versucht, das Phänomen der GIS (Störung der Geschlechtsidentität) aufzuklären. Entsprechend ist man heute in der Lage, viele Eigenarten und Entwicklungen dieser Menschen zu verstehen.
Geschlechtsrollenkonformes und nicht geschlechtsrollenkonformes Verhalten in der Kindheit
(1) Kinder mit geschlechtsrollenkonformem Verhalten: Allgemein kommt es in den sozialen Beziehungen von Kindern ohne Geschlechtsidentitätsstörung untereinander schon sehr früh zu einer strikten Geschlechtertrennung – dies gilt, wie bereits erwähnt, offensichtlich und paradoxerweise selbst dort, wo von Erziehern eine geschlechtsneutrale Erziehung angestrebt wird. Normalerweise spielen die meisten bereits im Kindergarten wie später in der Schule vorrangig in gleichgeschlechtlich zusammengesetzten Gruppen (Mädchen mit Mädchen und Jungen mit Jungen). Es ist empirisch gut belegt, dass Mädchen und Jungen die überwiegende Zeit mit gleichgeschlechtlichen Spielgefährten verbringen und dabei fast ausschließlich für ihr Geschlecht typische Aktivitäten pflegen. Gegengeschlechtliche Verhaltensweisen und Beziehungen werden nur ausgeübt, wenn die Kinder ausdrücklich dazu aufgefordert und bekräftigt werden. Werden sie nicht mehr dazu angehalten, kehren Mädchen und Jungen schnell zu geschlechtsrollenkonformen Gewohnheiten und Interaktionen zurück. Der soziale Druck, den Kinder sich selbst zur Einhaltung geschlechtsrollenkonformer Beziehungsmuster auferlegen, scheint gelegentlich enorme Ausmaße anzunehmen.
(2) Kinder mit nicht-geschlechtsrollenkonformem Verhalten: Kinder mit einer GIS hingegen lieben nicht-geschlechtsrollenkonformes Verhalten und gehen mit Vorliebe Beziehungen zu gegengeschlechtlichen Altersgenossen ein. Viele von ihnen müssen bereits in der Schulzeit erleben, dass sie von anderen ausgegrenzt und gemieden werden. Dies kann zu einem geringen Selbstwertgefühl beitragen. Trennungsängste, soziale Ängste und depressive Verfassungen können die Folge sein. Hänseleien und Ächtung durch Gleichaltrige sind besonders häufig bei betroffenen Jungen zu finden, insbesondere wenn sie wegen weiblicher Manierismen und Sprachmuster auffällig werden. Bei einigen kann sich das psychische Erleben derart gestalten, dass sie von ihrem Wunsch nach Zugehörigkeit zum anderen Geschlecht vollkommen eingenommen scheinen und ständig damit beschäftigt sind, das Leiden an der nicht akzeptierten Geschlechtszugehörigkeit zu vermindern.
Die ersten Anzeichen einer GIS lassen sich bereits während der frühen Kindheit beobachten. Sehr gelegentlich kann dies bereits im zweiten Lebensjahr der Fall sein, in den meisten Fällen liegt der Beginn weit vor der Pubertät. Eltern von Jungen mit einer GIS berichten gelegentlich, dass ihre Söhne bereits vom Zeitpunkt des Sprechenkönnens den Wunsch geäußert hätten, die Kleider und Schuhe der Mutter zu tragen. Werden die Kinder älter, kann es sein, dass die Auffälligkeiten nur deshalb weniger deutlich sind, weil sie sich an Verboten ihrer Eltern orientieren und es vermeiden, ihre nicht-geschlechtsrollenkonformen Verhaltensweisen öffentlich zu zeigen.
Verläufe in der weiteren Entwicklung
Da inzwischen recht klar ist, welche unterschiedlichen Prognosen bei Vorliegen einer GIS im Kindesalter möglich sind, wird zunehmend heftiger darüber diskutiert, ob es sich dabei überhaupt um eine „psychische Störung mit Behandlungswert“ handelt. Dies ist nach wie vor ein sehr ambivalentes Thema. Denn zumindest, was die Transsexualität mit der Möglichkeit zur späteren Geschlechtsumwandlung angeht, muss sie (jedenfalls heute noch) „Störung mit Behandlungswert“ bleiben – dies schon aus versicherungstechnischen Gründen, um eine spätere Finanzierung eventuell geschlechtswandelnder medizinischer Maßnahmen zu gewährleisten. Zur Ambivalenz trägt bei, dass die Wahrscheinlichkeit der späteren Transsexualität im Unterschied zu den anderen möglichen Ausgängen einer GIS in der Kindheit nur eine kleine Minderheit betrifft.
Die meisten prognostisch möglichen Entwicklungen der GIS gelten inzwischen als sozial, rechtlich und medizinisch akzeptierbare Formen der sexuellen Orientierung des Menschen. Neben der Heterosexualität als einer prognostischen Variante sind die anderen Möglichkeiten die Bisexualität, die Homosexualität und die Transsexualität. Die kritische Diskussion dreht sich also vorrangig um die Frage, wie mit der GIS noch oder bereits in der Kindheit sinnvoll umgegangen werden kann. Denn in keiner systematischen Studie konnte bis heute nachgewiesen werden, dass sich auch nur eine dieser Entwicklungen durch medizinische oder psychologische Behandlungsformen hätte verhindern oder hätte umkehren lassen.
(a) Bisexuelle und homosexuelle Entwicklung: Bis zu zwei Drittel der Kinder mit einer GIS weisen in der Jugend oder im Erwachsenenalter eine homosexuelle oder bisexuelle Orientierung auf. Wichtig ist: Mit dem Coming-out der Betroffenen scheint die vermeintliche GIS nicht länger zu bestehen – und zwar egal, ob diese in der Kindheit „professionell behandelt“ wurde oder nicht. Die meisten bisexuellen und homosexuellen Personen verfügen über eine ihrer Biologie entsprechende Geschlechtsidentität als Mann oder Frau, die allermeisten bereits in der Kindheit.
(b) Heterosexuelle Entwicklung: Bei der nächsten größeren Gruppe von Personen mit einer GIS in der Kindheit (etwa 20 bis 30 Prozent) entwickelt sich später eine heterosexuelle Geschlechtspartnerorientierung. Und bei ihnen gehen die Interessen an nicht-geschlechtsrollenkonformen Verhaltensmustern spätestens in der Jugendzeit – ebenfalls mit oder ohne „Behandlung“ – so deutlich zurück, dass von einer GIS nicht mehr die Rede sein kann. Auch sie verfügen spätestens mit dem Verlassen der Kindheit über eine klare Geschlechtsidentität, die dem biologischen Geschlecht entspricht.
(c) Transsexuelle Entwicklung: Nur ein geringer Prozentsatz der Jugendlichen behält eine GIS in der Jugendzeit bei. Dieser Anteil wird etwa auf fünf Prozent der Kinder mit einer GIS geschätzt. Es handelt sich dabei vor allem um Kinder, die von frühester Kindheit an eine gegengeschlechtliche Identität strikt vertreten und zum Ausdruck gebracht haben. Für diese Entwicklung zur Transsexualität ist es typisch, das die Betreffenden sich zunehmend bemühen, ihr äußeres Erscheinungsbild nicht nur dem anderen Geschlecht anzupassen, sondern sich in vielen Fällen auch noch einer geschlechtsumwandelnden Operation zu unterziehen.
(d) Fortbestehende GIS und Geschlechtsdysphorie: Wohl vor allem ungünstige Erziehungsumwelten und die Erfahrung sozialer Ausgrenzung und Ablehnung können dafür verantwortlich gemacht werden, dass bei Fortbestehen der GIS bis in die Jugend und in das Erwachsenenalter hinein eine Geschlechtsrollenkonfusion bestehen bleibt. In seltenen Fällen können eine GIS bzw. Geschlechtsdysphorie bis ins hohe Erwachsenenalter hinein andauern. Gelegentlich wird dabei ein spätes Coming-out in Richtung Homosexualität/Bisexualität oder in Richtung Transsexualität beobachtet.
Die Suche nach Erklärungen
Die meisten Versuche, die differenten Verläufe einer GIS in der Kindheit entwicklungspsychologisch zu erklären, können als weitgehend gescheitert angesehen werden. Die meisten Annahmen beruhen auf Einzelfallspekulationen und haben sich bis heute einer empirischen Überprüfung entzogen.
Trotz etlicher durchaus interessant zu lesender Fallanalysen kann man heute nur eindringlich davor warnen, die aus einzelnen Fällen abgeleiteten Verursachungshypothesen, die zumeist den Erziehungsstil der Eltern betreffen, bedenkenlos auf andere als die jeweils im Einzelfall vorliegenden Konstellationen zu generalisieren. Bis heute jedenfalls ließen sich in forschungsmethodisch akzeptierbaren Studien keine haltbaren Hinweise dafür finden, dass den Erziehungsstilen der Eltern überhaupt eine maßgebliche Rolle bei der Entwicklung der internen sexuellen Orientierung wie der Geschlechtspartnerorientierung zugesprochen werden kann.
Auffälliges Erziehungsverhalten findet sich nur, wenn Eltern bemüht sind, jedwede nach außen gezeigte Abweichung von der Heterosexualität teils angstvoll, teils ärgerlich zu unterbinden, in der wohl gemeinten Hoffnung, damit auch eine interne Entwicklung anzustoßen.
Ähnliche Uneindeutigkeiten in der Befundlage gelten für die Genetik und Biologie der GIS. Wie sich in Studien zur Bedeutsamkeit biologischer Voraussetzungen durchgängig zeigt, lassen sich sichere Prädiktoren auf der Grundlage genetischer und hormoneller Faktoren eher bei Persönlichkeitsmerkmalen und Temperamentseigenarten vermuten – nicht jedoch generell mit Blick auf die spätere Geschlechtspartnerorientierung oder Geschlechtsidentität, für die viele weitere Zwischenstufen für die spätere Verhaltensausformung anzunehmen sind.
Dass eventuell Temperamentsunterschiede in der Kindheit für unterschiedliche Neigungen zu geschlechtsrollenkonformen bzw. nicht-geschlechtsrollenkonformen Verhaltensmustern infrage kommen könnten, ist eine der wenigen Hypothesen, die in größeren Untersuchungen eine gewisse Absicherung erfahren hat. Darauf soll nachfolgend am Beispiel der differenten Entwicklungen einer hetero-, bi- und homosexuellen Geschlechtspartnerorientierung eingegangen werden.
Anfang der 1980er Jahre wurde in einer breit angelegten Interviewstudie des Kinsey Instituts für Sexualforschung versucht, den Realitätsgehalt von früher vertretenen psychoanalytischen und lerntheoretischen Entwicklungsperspektiven zu überprüfen. In der als San Francisco-Studie bekannt gewordenen Untersuchung interviewten Forscher annähernd 1.000 Lesben und Schwule und verglichen die Ergebnisse mit Daten aus gleichartigen Interviews mit 500 heterosexuellen Männern und Frauen. Diese Studie gilt nach wie vor als Meilenstein, weil sich mit den Ergebnissen erhebliche Zweifel an vielen der bis dahin und auch heute noch vertretenen entwicklungspsychologischen Hypothesen begründen lassen.
Zusammengefasst ließen sich überhaupt keine nennenswerten familiären Variablen und Erziehungsstile identifizieren, mit denen sich ein Einfluss auf die spätere sexuelle Orientierung hätte voraussagen lassen. Dies gilt einerseits für die bindungstheoretisch begründeten psychoanalytischen Annahmen wie für viele Hypothesen der sozialen Lerntheoretiker in der Verhaltenstherapie über differenzielle Lernerfahrungen oder eine mögliche Modellierung sexueller Orientierungsmuster. In diesem Zusammenhang erwies sich auch die nur kurze Zeit diskutierte, inzwischen leider unter Laien weit verbreitete Verführungshypothese zur Homosexualität als völlig unhaltbar.
Die San Francisco-Studie widerlegt eindrücklich die Vermutung, dass erst eigene heterosexuelle oder homosexuelle Erfahrungen die Grundlage für die spätere sexuelle Orientierung darstellen: Die meisten homosexuellen bzw. bisexuellen Erfahrungen werden typischerweise drei Jahre (!) später gemacht, nachdem sich die Betreffenden ihrer Orientierung selbst bewusst geworden sind – d.h., die Orientierung ist bereits angelegt, wenn eigene Aktivitäten aufgenommen werden. Dies entspricht im Übrigen den Entwicklungen der ebenfalls zur Jugendzeit befragten Heterosexuellen in der Kontrollgruppe.
Vielmehr war in der San Francisco-Studie das geschlechtsrollenkonforme bzw. nicht-geschlechtsrollenkonforme Verhalten in der Kindheit nicht nur der bedeutsamste, sondern zugleich auch noch der einzige signifikante Prädiktor für die spätere sexuelle Orientierung sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen. Seither ist es in einschlägigen Forschungsarbeiten üblich, diesen Aspekt immer mit zu erheben. So findet sich dann auch in einer ganzen Reihe von Nachfolgestudien immer wieder der hochgradig signifikante Befund von Zusammenhängen zwischen späterer Geschlechtspartnerorientierung und den jeweiligen nicht für das eigene Geschlecht typischen kindlichen Interessen und Aktivitäten (bei Homosexuellen) bzw. den jeweiligen für das eigene Geschlecht typischen kindlichen Interessen und Aktivitäten (bei Heterosexuellen).
Eine integrative Perspektive
Eine die bisherigen Befunde integrierende Erklärungsperspektive wurde vom Sozialpsychologen Daryl Bem im Jahr 1996 vorgelegt. Der Autor stellt in seiner sog. EBE-Theorie (Exotic Becomes Erotic) einen „zentralen Wendepunkt“ in das Zentrum seiner Überlegungen, der sich offensichtlich bei allen Menschen irgendwann in der Jugend oder im frühen Erwachsenenalter vollzieht: Jene Menschen, die in der Kindheit gern mit Mädchen spielen (nämlich homosexuelle Männer und heterosexuelle Frauen), bevorzugen im späteren Leben Männer als Sexual- und Lebenspartner. Diejenigen, die in der Kindheit lieber mit Jungen spielen (nämlich homosexuelle Frauen wie heterosexuelle Männer), fühlen sich im späteren Leben vorzugsweise von Frauen angezogen. Bem macht darauf aufmerksam, dass dieser bedeutsame und entscheidende Wechsel im Interesse am Geschlecht von Bezugspersonen im Lebenslauf in der bisherigen Forschung zur Partnerwahl kaum beachtet wurde.
Angesichts dieses sowohl für männliche wie weibliche Jugendliche geltenden pubertären Wechsels des Interesses hin zum in der Kindheit nicht favorisierten „anderen Geschlecht“ postuliert Daryl Bem nachfolgend dargestellte phasenhafte Entwicklung, die er mit Ergebnissen aus der Zwillingsforschung teilweise empirisch absichern konnte.
Von der Genetik zum Temperament: In seiner EBE-Theorie der Geschlechtspartnerorientierung geht Bem davon aus, dass die hereditären bzw. pränatalen Faktoren keinen direkten Einfluss auf die spätere sexuelle Orientierung haben. Vielmehr wird postuliert, dass diese eher für die Entwicklung von Temperamentsvariablen eine wichtige Rolle spielen, also für Persönlichkeitsmerkmale, die sich auf einer Dimension zwischen „aktiv“ und „passiv“ einordnen lassen.
Vom Temperament zum Rollenverhalten: Das kindliche Temperament jedoch ist Voraussetzung dafür, an welchen Aktivitäten das Kind bevorzugt Interesse und Freude entwickelt. So wird das eine Kind zunehmend Spaß an Rauf-und-Kampf-Spielen, an Fußballspielen und anderen Wettkampfsportarten entwickeln (die als typisch für Jungen angesehen werden); ein anderes Kind wird sich eher zurückhaltend entwickeln, Spiele mit Puppen und Vater-Mutter-Kind-Spiele bevorzugen (die eher als typisch für Mädchen gelten).
Im Verlauf der weiteren Entwicklung verändert sich diese spezifische Eigenart vor allem mit den weiter zunehmenden hormonellen Veränderungen in der Jugend in Richtung auf ein – jetzt – erotisches Interesse an jenen, denen man bis dahin eher reserviert gegenüber gestanden hat und deren „exotische“ Eigenarten und Gewohnheiten man bisher nicht genau kennt. Auf diese Weise könnte die EBE-Theorie auch noch andere Phänomene einordnen helfen wie zum Beispiel, dass auf hellhäutige Menschen plötzlich dunkelhäutige Personen erotisierend wirken. Bem postuliert, dass spezifische psychologische Mechanismen dafür verantwortlich zeichnen, wenn sich zunächst „exotisch“ erlebte Merkmale in „erotisierende“ Attraktoren verwandeln.
Therapeutische Perspektiven
Wird ein Kind wegen einer Geschlechtsidentitätsstörung vorgestellt, halten Psychotherapeuten eine sorgsame Differentialdiagnose als unverzichtbare Voraussetzung für eine Behandlung. Sie bemühen sich, genau zu unterscheiden, ob das nicht-geschlechtsrollenkonforme Interesse des Kindes im Zusammenhang mit einer ansonsten als psychisch gesund und stabil zu bezeichnenden kindlichen Entwicklung aufgetreten ist oder ob das Kind selbst unter seinen vermeintlich abweichenden Interessen leidet. Im letztgenannten Fall wäre nämlich weiter zu klären, womit sich dieses subjektive Leiden begründet. Im kindlichen Leiden könnten sich Besorgnisse und (homophobe) Ängste der Eltern widerspiegeln. Das Leiden kann seine Ursache auch in sozialer Ausgrenzung in der Gruppe der Gleichaltrigen haben. Es kann – in Ausnahmefällen – aber auch den frühen Beginn einer transsexuellen Entwicklung markieren.
Wegen dieser Unsicherheit in der Prognose besteht nach wie vor eine gewisse Uneinigkeit, ob die GIS in der Kindheit überhaupt behandelt werden sollte – und wenn ja, wie und auf welche Weise. Da gegenwärtig eine Prognose in Richtung Heterosexualität, Homo-/Bisexualität und Transsexualität mit Ausnahme der Angabe von Prozentsätzen nicht möglich ist und eine therapeutische Beeinflussung dieser Entwicklungen keinen Erfolg verspricht, wird empfohlen, nicht die GIS selbst in den Mittelpunkt der Behandlung zu rücken. Vielmehr wird der Fokus der Behandlung auf Faktoren ausgerichtet, die einer gesunden Entwicklung des Kindes im Wege stehen bzw. die eine weitere Entwicklung des Kindes negativ beeinflussen können.
Empfohlen wird also eine affirmative, das heißt eine stützende und die eigene Geschlechtlichkeit bejahende Behandlung. Familiäre und soziale Umgebungsbedingungen könnten bereits aktuell für soziale Ängste, Rückzug aus sozialen Beziehungen und für Mängel in sozialen Fertigkeiten mitverantwortlich zeichnen. In solchen Fällen geht es darum, das Selbstvertrauen und die Selbstsicherheit der Kinder im Umgang mit zwischenmenschlich relevanten Situationen zu stärken. Entsprechende Ziele werden auch in einer affirmativen Eltern- und Familientherapie angestrebt.
Zusammenfassend gilt heute Folgendes als sicher: Egal, ob man eine Geschlechtsidentiätsstörung in Richtung geschlechtsrollenkonformen Verhaltens therapeutisch abzuändern versucht oder auch nicht, beide Gruppen, die behandelten wie die unbehandelten Kinder haben nach wie vor die gleichen Prognosen, nämlich die, wie sie zuvor dargestellt wurden.
Prof. Dr. Peter Fiedler ist Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Heidelberg.
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