fK 6/07 Resch

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Kinder brauchen Halt, Zeit und Zuwendung

Eröffnung der Festveranstaltung aus Anlass des 30-jährigen Bestehens der Deutschen Liga für das Kind am 29.9.2007

von Franz Resch

Gefühle verbinden und trennen, Gefühle schlagen Alarm und stiften Ruhe, Gefühle lassen uns handeln, Gefühle sind die Grundlage der Persönlichkeitsentwicklung. Keine Aktion ohne emotionale Beteiligung: auch die hellsichtigste Vernunft, die Logik und die rationale Erkenntnis sind immer eng an Gefühle gebunden. Selbst der intelligenteste Mensch handelt unvernünftig, wenn er Sklave seiner Triebe, Leidenschaften und Gefühlsaufwallungen bleibt. Dem gegenüber werden oft wichtige Lebensentscheidungen gefühlshaft – also aus dem Bauch heraus getätigt und nicht durch logische Abwägung von Argumenten.

Die Bildung des Verstandes, die Schulung in Mathematik und Sprachen, das Lernen richtiger Benennungen und Schlussfolgerungen, können dem Menschen im Alltagsleben nur dann helfen, wenn diese Vernunftelemente nicht in feindlichen Gegensatz zum Gefühlsleben gebracht werden. Das Irrationale ist nicht aus der Welt zu schaffen, indem man allein auf Vernunft und Verstand baut und Gefühle missachtet oder ablehnt, denn dort wo Gefühle unbeachtet wuchern, gerät das Rationale rasch in deren Gefangenschaft und wird als strategisches Denken missbraucht. Mehr Frieden und Klarheit kommt nur in die Welt, wenn wir Menschen unsere Gefühle beachten und kultivieren! Die gelungene Wechselwirkung von Verstand und Gefühl schafft erst die eigentliche Vernunft mit Menschlichkeit.

Die Entwicklung einer reifen, besonnenen und ausgewogenen Persönlichkeit, die auch sozial positiv wirksam wird, während sie eigene Lebenszufriedenheit findet und Verantwortung tragen kann – diese Entwicklung beginnt schon beim Kind in den ersten Lebensjahren. Das Kind steht im engen Gefühlsaustausch mit seinen Bezugspersonen. Dieser „emotionale Dialog“ ist nicht eine späte Kulturleistung, sondern eine natürliche Notwendigkeit, der auf Seiten der Eltern durch eine angeborene intuitive Fürsorglichkeit für die Bedürfnisse des Säuglings und auf Seiten des Kindes durch ein Bindungsbedürfnis Rechnung getragen wird. Schon lange bevor die Sprache beim ein- bis zweijährigen Kind die Beziehung zu den Eltern bereichert, findet dieser sprachähnliche Gefühlsaustausch statt. Kinder wollen gespiegelt, in ihren Emotionen erkannt und beantwortet werden, Kinder brauchen es, dass Erwachsene sich auf ihre Gefühlsbedürfnisse nach Nähe, Ruhe und Sicherheit einstellen.

Wenn Erwachsene aus eigenen Krankheitsgründen, eigener Selbstsucht oder eigener Bedürftigkeit dem Kind keine Gefühlsangebote machen, verkümmert die Fähigkeit Gefühle zu erkennen, zu benennen, sie zu regulieren und in komplexen sozialen Situationen richtig zu reagieren. Schon die Genervtheit und Ungeduld der Eltern oder das Syndrom der kalten Schulter – das Nichtreagieren auf kindliche Bedürfnisse – und die Unterwerfung der Kinder unter eigene ehrgeizige Entwicklungsziele der Eltern, entziehen der Entwicklung und Förderung der Emotionen den Boden. Die Beeinträchtigung oder sogar Verunmöglichung des emotionalen Dialogs kann zur seelischen Verkümmerung und zu Störungen der emotionalen Steuerung beim Kind führen. Kinder sind keine kleinen Erwachsen, die das Unheil der Welt ruhig ertragen können, weil sie es sowieso noch nicht durchschauen. Nein! Kinder brauchen Halt, Zeit und Zuwendung durch Eltern, die das Kind nicht nur lieben, sondern auch Verantwortung zu übernehmen bereit sind, wenn das Kind nicht alle Erwartungen und Wünsche der Eltern erfüllen kann.

Wie Eltern mit den Bedürfnissen und Grenzen ihrer Kinder umgehen, entscheidet über die Qualität des Gefühlsaustausches und der emotionalen Lebensbedingungen. Dort liegen die Wurzeln der zukünftigen Persönlichkeiten, ihrer prosozialen Einstellungen oder moralischen Verkrüppelungen. Frühe Bildung heißt nicht nur ein Wissensangebot zu vermitteln, sondern auch Herzensbildung.

Die Deutsche Liga für das Kind hat sich – als interdisziplinäres Netzwerk unterschiedlicher Berufs- und Interessensgruppen im sozialen Feld – zum Ziel gesetzt, die Entwicklungs- und Wachstumsbedingungen von Kindern zu verbessern und damit insbesondere auch den emotionalen Dialog zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen zu fördern und zu unterstützen. Kinder brauchen Halt, Zeit und Zuwendung. Die Entwicklung von Kindern geht uns alle an!

Prof. Dr. Franz Resch ist Ordinarius für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Universität Heidelberg und Präsident der Deutschen Liga für das Kind.

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