fK 5/11 Skutta

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Kinderarmut – oder was ein Fahrrad mit der Würde des Kindes zu tun hat

Von Sabine Skutta

Regelmäßig, so berichtet Kauthar bei einem Gespräch im Jugendladen, fällt in der Schule die Klassenfahrt aus, weil sich zu viele Familien die Kosten nicht leisten können. Kleine Unternehmungen außerhalb des Jugendladens seien meist nicht möglich, wenn sie etwas kosten, berichtet Wael im gleichen Gespräch. Viele Jugendliche würden aber gar nicht sagen, dass es am Geld liege, sondern andere Gründe vorschieben (Deutsches Rotes Kreuz 2011, S. 8).

<> In der Erziehungsberatung erzählt eine Mutter, dass sie sich seit langem nichts mehr zum Anziehen gekauft habe und stattdessen die Kleidung ihrer Töchter auftrage. Sie gehe mit den Kindern zusammen in den Tafelladen und bekomme dort für einen Euro eine Tüte Lebensmittel.

<> Eine andere Mutter berichtet, dass sie am Wochenende am liebsten mit den Kindern zu Hause bleibe, weil selbst ein Spaziergang in den nahen Park mit Kosten verbunden ist – die Kinder möchten wie die anderen ein Eis und das „Nein“ sagen sei so schwer.

<> Lehrerinnen und Erzieherinnen berichten, dass Kinder montags hungrig in die Schule oder die Kita kommen.

Materielle Kinder- und Jugendarmut: Wer ist betroffen?
Kinder unter 18 leben, so die Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, mit 16,4 Prozent deutlich häufiger in Armut als die Gesamtheit aller Altersgruppen, für die der Durchschnitt bei 14,5 Prozent liegt (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Pressemitteilung vom 12.5.2011). In Ostdeutschland liegt die Quote der Kinderarmut mit über 30 Prozent fast doppelt so hoch (Hübenthal 2009, S. 20).

Das höchste Armutsrisiko liegt bei Kindern und Jugendlichen, wenn beide Eltern von Arbeitslosigkeit betroffen sind und Hartz-IV Leistungen erhalten (Bertram 2008). Ingesamt leben ca.1,95 Millionen Kinder und Jugendliche von Hartz-IV (Bundesagentur für Arbeit, Monatsbericht August 2011). Hinzu kommen alle Minderjährigen, die Leistungen auf gleicher Höhe, aber anderer Gesetzesgrundlage erhalten, wie die Sozialhilfe nach SGB XII, und die knapp 40.000 Flüchtlingskinder und -jugendlichen, die von einem demgegenüber um bis zu 35 Prozent abgesenkten Existenzminimum nach Asylbewerberleistungsgesetz leben müssen. Weiter hinzurechnen muss man diejenigen Kinder und Jugendlichen, die für die Statistik im Dunkeln bleiben, weil sie in Familien ohne einen legalen Aufenthaltserlaubnis leben oder in Familien, die zwar Anspruch auf Sozialleistungen hätten, aber sie nicht in Anspruch nehmen. Ingesamt kommt man so etwa auf zweieinhalb bis drei Millionen Kinder und Jugendliche (Butterwegge 2009, S. 2).

Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind in besonderer Weise von Armut betroffen. Die Ursachen reichen von Zugangsbarrieren der Eltern zu gut bezahlten Arbeitsplätzen, geringen oder nicht passgenauen beruflichen Qualifikationen über Diskriminierungen am Arbeitsplatz bis hin zu einer fehlenden Integration in soziale Netze (Hübenthal 2009, S. 18). Ein sehr hohes Armutsrisiko tragen auch alle Kinder und Jugendlichen, die in einem Alleinerziehenden-Haushalt aufwachsen. Selbst wenn Mütter Vollzeit arbeiten, liegt ihr Einkommen aufgrund von Niedriglöhnen oft unter der Armutsgrenze (Bundesagentur für Arbeit. 2010).

Gemessen wird Armut in der Forschung und der politischen Berichterstattung so: Wer weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens hat, gilt als arm. Das mittlere Einkommen liegt auf der Skala der Pro-Kopf-Haushaltseinkommen genau dort, wo die eine Hälfte der Bevölkerung ein höheres, die andere Hälfte ein geringeres Einkommen zur Verfügung hat. Wer als arm zählt, hat also etwas über der Hälfte derjenigen, deren Einkommen in der Mitte liegt. Die Kinder selbst erleben die materielle Armut sehr genau: 13 Prozent einer Gruppe befragter Kinder – also in etwa der gleiche Anteil, der auch in den Studien erscheint – berichtet, dass ihre Familie über geringen Wohlstand verfüge (Bertram und Kohl 2010, S. 14).

Die Ursachen: prekäre Lebenslagen oder ungenügende Absicherung durch die Gesellschaft?
Auf den ersten Blick betrachtet könnte man die Ursachen von materieller Kinder- und Familienarmut in den Lebenslagen vermuten: Arbeitslosigkeit und deren Risikofaktoren, niedriges Bildungsniveau, Behinderung, Krankheit, weiterhin geringer Verdienst, Alleinerziehen, Migration, viele Kinder in einer Familie. Oft erscheinen auch akute Anlässe wie Scheidungen, Erkrankungen der Verdiener in der Familie oder der Verlust des Arbeitsplatzes als Ursachen für die Armut junger Menschen.

Auf den zweiten Blick hingegen stellen sich Fragen, die sich der scheinbaren Unausweichlichkeit von Armut infolge bestimmter Lebenslagen entgegensetzen: zum Beispiel die Frage nach der angemessenen Höhe einer materiellen Grundsicherung für Familien und Kinder, die Frage nach der Mindesthöhe von Lohn, nach der Verteilung von Bildungschancen, nach der Unterstützung von Familien durch Dienstleistungen, die eine Arbeitsaufnahme ermöglichen, die Frage nach einem Arbeitsmarkt auch für Menschen, die über weniger Kompetenzen verfügen, die Frage nach der Arbeitserlaubnis für Flüchtlinge oder die Frage nach der Sicherheit von Menschen vor Arbeitsplatzverlust.

Kinderarmut – eine Lebenslage mit vielen Facetten
Armut wird nie nur von einer Einzelperson erlebt oder in der Familie, sondern spielt immer auch eine Rolle im Kontakt mit anderen. Armut wird im Kontakt mit Anderen erlebt, wenn sie dazu führt, dass die Betroffenen nicht dabei sein können und im Vergleich zu anderen nicht mithalten können – Armut ist relativ. In der EU hat man sich, um über Armut eine gemeinsame Sprache zu sprechen, darauf geeinigt, immer dann, wenn es um die schiere körperliche Existenz geht, von absoluter Armut zu sprechen. Mit relativer Armut wird das Ausgeschlossensein von einem im jeweiligen Land üblichen Leben bezeichnet. Man betrachtet diejenigen als arm, die die über so geringe materielle, soziale und kulturelle Ressourcen verfügen, dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die im jeweiligen Land als Minimum annehmbar ist. Man spricht auch – im Unterschied zu einem physischen Existenzminimum – von einem soziokulturellen Existenzminimum.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil zur Berechnung der Hartz-IV-Sätze definiert, dass ein menschenwürdiges Existenzminimum: „sowohl die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit (…) als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasst, denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen“ (BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Absatz-Nr. 135).

Die UN-Kinderrechtskonvention spricht in Artikel 27 dem Kind das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard zu und bezieht diesen Lebensstandard ebenfalls auf die umfassende Entwicklung des Kindes: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht jedes Kindes auf einen seiner körperlichen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung angemessenen Lebensstandard an.“ In erster Linie, so Artikel 27 UN-Kinderrechtskonvention, sei es Aufgabe der Eltern, dieses Recht sicherzustellen. Der Staat habe geeignete Maßnahmen zu treffen, „um den Eltern und anderen für das Kind verantwortlichen Personen bei der Verwirklichung dieses Rechts zu helfen“ und „bei Bedürftigkeit materielle Hilfs- und Unterstützungsprogramme insbesondere im Hinblick auf Ernährung, Bekleidung und Wohnung“ vorzusehen.

Materielle Armut bedeutet, nicht gut versorgt zu sein und nicht dabei sein zu können. Etwa neun Prozent der für eine Studie befragten Kinder erleben sehr konkret verschiedene Auswirkungen materieller Armut: kein Urlaub, von fremden Kindern getragene Kleidung, kein Kino oder Freibad, keine Schultüte am ersten Schultag, die Eltern greifen auf das Ersparte des Kindes zurück, Lebensmittel werden bei einer Tafel besorgt, hungrig zur Schule gehen (World Vision 2010, S. 3).

Hier wird deutlich: Armut wirkt sich auf das gesamte Leben eines Kindes oder Jugendlichen aus. In der World Vision Studie, in der Kinder im Alter zwischen sechs und elf Jahren befragt wurden, wird es so zusammengefasst: „Armut und fehlende häusliche Ressourcen führen zu geringeren Teilhabemöglichkeiten: in der Familie, in der der materielle Druck und die existenziellen Sorgen von den Kindern bereits sehr genau registriert werden, in der Schule, in der die Möglichkeiten für eine individuelle Förderung zum Ausgleich von Nachteilen fehlt, sowie im Wohnumfeld oder hinsichtlich der Möglichkeit, in Vereinen mitzumachen oder Kreativangebote zu nutzen. Kinder aus den unteren Schichten sind häufiger auf sich allein gestellt. Es fehlt ihnen an Rückhalt, an Anregungen und an gezielter Förderung. In der Konsequenz ist der Alltag dieser Kinder bei einem größeren Teil einseitig auf Fernsehen oder auf sonstigen Medienkonsum ausgerichtet“ (World Vision 2010, S. 1).

Hinzu kommen die Auswirkungen im Bereich Gesundheit. Verschiedene Studien zeigen, dass Kinder in Armutslebenslagen in Hinblick auf körperliche und seelische Gesundheit benachteiligt sind. „Alle verfügbaren Daten zeigen auf, dass soziale Benachteiligung und Armut – besonders, wenn sie Heranwachsende mit Migrationshintergrund betrifft – in hohem Maße mit gesundheitlichen Belastungen verbunden sind“ (13. Kinder- und Jugendbericht 2010, S.33).

Armut verletzt also nicht nur das Recht von Kindern auf einen angemessenen Lebensstandard, sondern ebenso hindert es Kinder daran, ihre Rechte nach der UN-Kinderrechtskonvention auf Information und Beteiligung (Artikel 12 und 13) bestmögliche Gesundheit (Artikel 24), Bildung (Artikel 28 und 29) und Beteiligung an Freizeit, kulturellem und künstlerischem Leben (Artikel 31) zu verwirklichen. Armut verletzt in hohem Maße das Diskriminierungsverbot nach Artikel 2 der UN-Kinderrechtskonvention. Das Diskriminierungsverbot betrifft nicht nur die direkten Diskriminierungen, sondern auch die eher verdeckten, so genannten strukturellen Diskriminierungen, die dafür sorgen, dass manche Kinder draußen bleiben müssen, ohne dass vor einer Schwimmbad- oder Vereinstür oder bei einem Kindergeburtstag ein Wächter stünde, der sie nicht hineinlässt.

Kinderarmut bekämpfen und Folgen abmildern
Eine wesentliche Maßnahme, Kinderarmut zu verringern, sind staatliche Geldleistungen. Das Recht darauf hat die Bundesrepublik Deutschland über das Grundgesetz verankert: Artikel 1 verpflichtet den Staat, die Menschwürde zu achten und zu schützen. In Artikel 20 definiert sich die Bundesrepublik als sozialer Staat. Die Verbindung von beiden Artikeln, so das Bundesverfassungsgericht, „sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind“ (BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010, Leitsatz 1). Bislang ist dies in Deutschland nicht ausreichend umgesetzt.

Ein Existenz sichernder Regelsatz in der Grundsicherung nach SGB II und SGB XII?
In seinem Urteil vom 9.2.2010 hatte das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber die Auflage gegeben, die Berechnung der Regelsätze für Minderjährige als Grundlage der gesetzlich festzulegenden Regelsätze zu erneuern. Diese sollten nicht nur nachvollziehbar den Kindern ein soziokulturelles Existenzminimum sichern, sondern vor allem von den Lebenslagen von Kindern abgeleitet sein – und nicht ohne inhaltliche Begründung einfach nur einen Prozentsatz des Bedarfs von Erwachsenen ausmachen.

Mit dem neuen Gesetz zu den Regelsätzen – den so genannten Hartz IV-Regelsätzen – hat der Bundestag eine Höhe für die Regelsätze von Kindern und Jugendlichen festgelegt, die von Vielen als nicht ausreichend für die Absicherung des soziokulturellen Existenzminimums kritisiert wird. Hauptkritikpunkt ist, dass die Regelsätze weitaus niedriger liegen, als die der ohnehin schon sehr armen Vergleichsgruppe und dass durch den Regelsatz Armut gerade nicht verhindert wird (Frankfurter Arbeitskreises Armutsforschung 2010). Aus den schon knapp bemessenen Ausgaben der Vergleichsgruppe sind noch einmal diverse Posten gestrichen worden. Im Endergebnis bedeutet das konkret, dass beispielsweise im Regelsatz für größere Kinder und Jugendliche ein Fahrrad nicht vorgesehen ist und dass für Kleinkinder mit dem Geld für Hygieneartikel auch Discounterwindeln nur bis zur Hälfte des Monats gekauft werden können (Deutsches Rotes Kreuz 2010, S. 2). Eine gesunde Ernährung kostet mehr, als im Regelsatz für Ernährung vorgesehen ist.

Schon an diesen wenigen Beispielen wird deutlich, dass auf der Grundlage des Hartz-IV Regelsatzes die Verwirklichung grundlegender Rechte des Kindes sehr erschwert wird: Wenn das Geld für Windeln knapp ist, wird eine Mutter versuchen, täglich weniger Windeln zu verbrauchen – und damit Wohlbefinden und (Haut)Gesundheit ihres Kindes einem höheren Risiko aussetzen. Natürlich kann ein Kind auch ohne Fahrrad groß werden, aber ihm fehlt damit eine wesentliche Möglichkeit, sich mit anderen Kindern zu treffen, mit ihnen gemeinsam Freizeit zu verbringen, Zugang zu seiner Umwelt in einem weiteren Radius zu haben, sich in gesunder Weise zu bewegen. Wird ein der Würde des Kindes entsprechendes Aufwachsen durch einen so bemessenen Regelsatz nicht permanent in Frage gestellt und bedroht?

Der UN-Ausschuss für die wirtschaftlichen, sozialen, und kulturellen Rechte hat im Mai 2011 in seiner Beurteilung der Umsetzung dieser Rechte in Deutschland seine Besorgnis darüber ausgedrückt – in diplomatischen Texten wie diesen ist das als herbe Kritik zu verstehen – dass ca. 2,5 Millionen Kinder in Deutschland trotz sozialer Sicherung unter der Armutsgrenze bleiben (United Nations (2011). In der Auseinandersetzung mit der Literatur zur Berechnung des Regelsatzes für Kinder aus dem Blickwinkel eines Kinderrechte basierten Ansatzes ergibt sich als Schlussfolgerung: Eine alleinige Orientierung am Verbrauch von Bevölkerungsgruppen, die wenig verdienen, scheint nicht zielführend zu sein, wenn es darum gehen muss, ein sozio-kulturelles Existenzminimum für Kinder zu sichern, das sich an den Kinderrechten auf Schutz, Förderung und Beteiligung orientiert. Deshalb muss die Diskussion über die von verschiedenen Organisationen geforderte eigenständige Grundsicherung für Kinder weitergeführt werden. Eine Grundsicherung für Kinder müsste in jedem Fall als Rechtsanspruch der Kinder verankert werden, um auch auf diese Weise ihre Stellung als Inhaber von Rechten zu festigen.

Noch weniger als Hartz-IV?
39.380 Kinder und Jugendliche, die mit oder ohne Eltern nach Deutschland geflohen sind, haben Ende 2009 von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gelebt (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2011, S. 69). Die Leistungen für die Existenzsicherung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz liegen etwa 30 Prozent unter den Leistungen für Hartz-IV Empfänger. Häufig werden sogar nur Sachleistungen gewährt. Kinder, die dem Asylbewerberleistungsgesetz unterworfen sind, erhalten eine reduzierte Gesundheitsversorgung nur bei akuten Erkrankungen oder Schmerzen und sind von medizinisch notwendigen Behandlungen, die bei Bezug von Hartz-IV gewährt werden, ausgeschlossen. Dazu gehören Krankengymnastik oder Sprachtherapie bei Entwicklungsstörungen.

Die National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland hat in ihrem so genanten Schattenbericht darauf hingewiesen, dass bei Flüchtlingskindern in Deutschland das Recht des Kindes auf angemessenen Lebensstandard und auf die „Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit“ (Artikel 24 der UN-Kinderrechtskonvention) verletzt wird und dass mit dem Asylbewerberleistungsgesetz massiv gegen das Diskriminierungsverbot nach Artikel 2 der UN-Kinderrechtskonvention verstoßen wird (National Coalition, 2010). In Deutschland gibt es inzwischen eine Vielzahl von Stimmen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz für verfassungswidrig halten und die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes bzw. die Angleichung der Leistungen an die „normalen“ Leistungen nach den Sozialgesetzbüchern fordern (Deutscher Verein 2011, Deutsches Rotes Kreuz 2010, Kampagne „Jetzt erst Recht(e) für Flüchtlingskinder“, 2011).

Armutsbekämpfung durch gute Sozial- und Bildungspolitik
Artikel 4 der UN-Kinderrechtskonvention verpflichtet die Bundesrepublik, alle geeigneten Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen „unter Ausschöpfung ihrer verfügbaren Mittel“ (in der englischen Originalfassung heißt es noch deutlicher: „to the maximum extent of their available resources“) zu treffen, um u. a. die sozialen und wirtschaftlichen Rechte des Kindes zu verwirklichen.

Der europäische Vergleich zeigt, dass Deutschland seine Möglichkeiten bei weitem noch nicht ausgeschöpft hat. Eine EU-weite Studie zeigt, dass es anderen Ländern wie den nordeuropäischen Ländern, Frankreich, Zypern, Niederlande, Österreich und Slowenien deutlich besser gelingt, mit einer entsprechenden Sozialpolitik Kinderarmut zu verringern. Eine umfassende Strategie mit klaren Zielen, aufeinander abgestimmten Maßnahmen und einer konsequenten Überprüfung der Umsetzung sei Vorbedingung, um Kinderarmut wirksam zu verringern. Eine Schlüsselrolle spiele dabei die Berufstätigkeit von Müttern und deren Ermöglichung durch eine zuverlässige und hochwertige Kindertagesbetreuung sowie die Unterstützung von Müttern beim Übergang bzw. bei der Rückkehr in die Arbeit.

Sanktionen dürften dabei keine Rolle spielen, weil diejenigen Eltern, die den Anforderungen der Arbeitsverwaltung nicht nachkommen (können), dadurch noch stärker von Armut betroffen seien – und ihre Kinder mit ihnen. Löhne von Eltern, die eine angemessene Lebensgrundlage sichern, seien ein zweiter Punkt. Ein dritter Punkt ist der Zugang zu Diensten der Gesundheitsfürsorge und zu guter Bildung (TÁRKI Social Research Institute and Applica 2010). Gerade in Deutschland spielt die Bildung der Eltern eine ganz erhebliche Rolle für die negativen Effekte von Armut: Bildung beeinflusst, wie Eltern mit Armut umgehen, welche anderen sozialen und psychischen Ressourcen sie noch haben und wie im Endeffekt das Familienklima ist, in dem Kinder aufwachsen (Walper, Riedel 2011, S. 15).

Eine umfassende Strategie gegen Kinderarmut benötigt einen Rahmen, damit staatliches Handeln immer wieder verpflichtet ist, sich am damit verfolgten Ziel, der Sicherung des Wohls aller Kinder, auszurichten. Einen solchen Rahmen stellt die ausdrückliche Verankerung der Kinderrechte auf Schutz, Förderung und Beteiligung sowie des Vorrangs des Kindeswohls im Grundgesetz dar. Der Bundesrat unternimmt derzeit eine neue Initiative, die Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern und begründet sie so: „Die Stellung von Kindern in der Gesellschaft soll so gestärkt und das allgemeine Bewusstsein dafür geschärft werden, dass Kinder eigene Grundrechte haben, die zu respektieren sind“ (Bundesrat 2011, Drucksache 386/11).

Armutsfolgen mildern durch gute Infrastruktur vor Ort
Über die staatlichen Geldleistungen und eine angemessene Sozial- und Arbeitsmarktpolitik hinaus kann Armut in großem Maße durch eine gute Infrastruktur für Kinder und Jugendliche und Familien abgemildert werden. Dazu gehören:
– für Menschen mit geringem Einkommen nutzbare Sport-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, außerschulische Bildungsangebote, öffentliche Verkehrseinrichtungen,
– Beratungs- und Hilfsangebote für Kinder, Jugendliche und Familien in Überforderungssituationen und Krisen,
– ein Schulsystem hoher Qualität, das auch über Lehr- und Lernmittelfreiheit und eine vollwertige Verpflegung individuelle Chancengerechtigkeit und Bildungserfolge sichert,
– ein Gesundheitsversorgungssystem, das auf Gesundheitsförderung für jedermann ausgerichtet ist,
– Wohngebiete, die zu Gesundheit, Bildung und sozialem Miteinander beitragen.

Je besser die Infrastruktur ist und je mehr ihre Einrichtungen auch von Menschen mit geringem Einkommen tatsächlich genutzt werden, desto geringer ist deren Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben. So hat beispielsweise die belgische Stadt Hasselt ihren gesamten Busverkehr kostenlos gestaltet. Dadurch fährt nun ein viel größerer Bevölkerungsanteil mit den Bussen und neben Netto-Ersparnissen für die Kommune durch weniger Ausgaben für den Straßenbau wurde auch mehr Teilhabe für alle – nicht zuletzt für Kinder und Jugendliche – geschaffen.

Armutsfolgen mindern durch Befähigung und Unterstützung von Familien, Kindern und Jugendlichen
Armut hat – statistisch gesehen – negative Auswirkungen in fast jedem Lebensbereich und erhöht für jeden der von Armut Betroffenen das Risiko, diese negativen Auswirkungen auch zu erleben. Für eine kleinere Gruppe von Betroffenen treffen diese Risiken jedoch kaum ein. Daraus folgt: Es lohnt sich hinzuschauen, was Kindern und Jugendlichen hilft, die Armutsfolgen einzugrenzen. Das Wissen darüber unterstützt die Politik, aber auch die Praxis derjenigen, die mit Kindern und Jugendlichen und ihren Familien arbeiten.

Freizeitaktivitäten, viele Gelegenheiten zum Umgang mit Freunden und die erfolgreiche Bewältigung der schulischen Anforderungen spielen aus Sicht der Kinder die Hauptrolle, wenn es um ihr Wohlbefinden geht. All diese Punkte wiederum werden, so zeigt die Studie „Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten“ (AID:A) vom Familienklima beeinflusst (Walper, Riedel 2011, S. 15).

Fast alle Eltern im Bezug von Arbeitslosengeld II verzichten sogar auf zentrale eigene Bedürfnisse wie Ausgaben für Gesundheit und Ernährung und auf ihre Wünsche, um ihren Kindern ein gutes Aufwachsen zu ermöglichen. In einer Befragung von Eltern in Osnabrück, die Arbeitslosengeld II empfangen, „wird die hohe Opferbereitschaft der Eltern für ihre Kinder eindrucksvoll deutlich“ (Wirth, D., Gerhards, H. 2011 S. 22). Aber auch damit kommen Eltern an ihre Grenzen, und damit einher geht die Belastung des Familienklimas. Es ist Aufgabe der Umgebung und der für die Familien zuständigen Institutionen, Eltern durch Entlastung, Beratung sowie Ermöglichung und Förderung gegenseitiger Unterstützung mit anderen Familien darin zu stärken, ihre Situation so gut wie möglich zu bewältigen und zu verbessern.

Nicht zuletzt bei den Kindern und Jugendlichen selbst kann und muss gegen Kinderarmut angesetzt werden. Die Stärkung der eigenen Kräfte und Fähigkeiten von Kindern und Jugendlichen im Umgang mit Belastungen, also die Stärkung von kindlicher Resilienz, ist eine zentrale Aufgabe aller Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, ebenso der Schule und aller anderen Einrichtungen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Dadurch werden den jungen Menschen Mittel an die Hand gegeben, ihre eigene Entwicklung positiv zu gestalten und auch in ihren Familien zu einem guten und sie stärkenden Familienklima beizutragen.

Ganz bedeutend hierbei ist, den Mädchen und Jungen positive Beziehungen zu Erwachsenen anzubieten, die ihnen zusätzlichen Halt geben. Mindestens ebenso wichtig ist es, sie dabei zu unterstützen, gute Freundschaften zu haben und ihre Lebensumwelt für ihre Entwicklung zu nutzen. Über Beteiligung und wirksame Einflussnahme auf ihre Umgebung und durch Mitwirkung und Übernahme von wichtigen Aufgaben und sozialem Engagement für andere Menschen erfahren Jungen und Mädchen Anerkennung. Diese gehört zum Kern von Selbstbewusstsein und einem Gefühl von Selbstwirksamkeit, die das Gegenteil von Hilflosigkeit sind und die Voraussetzung für Wohlbefinden.

Alle Fachkräfte und ebenso alle, die im Ehrenamt mit Kindern und für Kinder arbeiten, können und müssen ihren Beitrag zur Bekämpfung von Armut und Armutsfolgen bei jungen Menschen leisten, indem sie besonders mit Blick auf die davon Betroffenen ihre Arbeit immer wieder in Richtung auf die Stärkung der seelischen und geistigen Kräfte der Mädchen und Jungen verbessern. Denn: Nicht nur der Staat, sondern auch alle nicht-staatlichen Einrichtungen sind gehalten, den Vorrang des Kindeswohls umzusetzen: „Bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen der sozialen Fürsorge, Gerichten, Verwaltungsbehörden oder Gesetzgebungsorganen getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist“ (Artikel 3 UN-Kinderrechtskonvention).

Die vollständige Literaturliste ist über die Geschäftsstelle erhältlich.

Dr. Sabine Skutta ist Teamleiterin Kinder-, Jugend- und Familienhilfe im Generalsekretariat des Deutschen Roten Kreuzes und Sprecherin der National Coalition für die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland.

Literatur
Bertram, H. (2008): Mittelmaß für Kinder. Der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland. München.

Bertram, H., Kohl, S. (2009): Zur Lage der Kinder in Deutschland 2010: Kinder stärken für eine ungewisse Zukunft. Deutsches Komitee für UNICEF.

Butterwegge, C. (2009): Kinderarmut in einem reichen Land. Ursachen, Folgen und Gegenstrategien. Campus.

Deutsches Rotes Kreuz (2011): Kinderrechte und Kinderarmut.

Hübenthal, M. (2009): Kinderarmut in Deutschland. Empirische Befunde, Kinderpolitische Akteure und gesellschaftliche Handlungsstrategien. Expertise des DJI München.

Walper, S., Riedel, B. (2011): Was Armut ausmacht. DJI-Impulse 1/2011.

World Vision (2010): Kinder in Deutschland.

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