fK 5/10 Zeiher

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Auswirkungen von Zeitbedingungen auf die Gesundheit von Kindern

Von Helga Zeiher

Zeitbedingungen sind in der spätmodernen Gesellschaft durch zunehmende Beschleunigung, Entstandardisierung und Desynchronisierung sowie durch Verlagerungen von Zeitentscheidungen in individuelle Verantwortung bestimmt (vgl. Rosa 2005). Zeitmangel und Notwendigkeiten, die um Zeit konkurrierenden Anforderungen und Wünsche zeitlich auf die Reihe zu bringen, überlasten häufig die individuelle Lebensführung und führen zu Zeitstress und Leiden an Zeit, die sich als Gesundheit belastend erweisen können. Diskutiert wird in diesem Zusammenhang die zunehmende Verbreitung somatischer und psychischer Erkrankungen wie Burn-out-Syndrom, Depression und Sucht unter Erwachsenen (siehe Keupp 1999; Ehrenberg 2004). Betrifft das auch Kinder? Welche Phänomene der gegenwärtigen gesellschaftlichen Zeitbedingungen können das gesundheitliche Wohlbefinden von Kindern beeinträchtigen?

Kinder sind direkt von den genannten Zeitbedingungen betroffen. Sie sind Klientel von Betreuungsinstitutionen und Schulen, deren zeitlicher Betrieb nach denselben Prinzipien organisiert ist wie die Arbeitswelt der Erwachsenen. Und sie leben in einer gleichartigen Medien- und Konsumwelt wie Erwachsene. Indirekt betroffen sind sie zudem, wenn sie mit Erwachsenen zu tun haben, mit Eltern vor allem, die unter Zeitdruck agieren. Auf die unterschiedlichen Aspekte soll im Folgenden eingegangen werden.

Die Bedeutung, die dem Lernen zugeschrieben wird, sowie die Organisation und systematische Steuerung des Lernens in Institutionen, haben im vergangenen Jahrhundert zunehmend Gewicht im Leben aller Kinder erhalten. Und damit auch die Zeitstrukturierung des Kinderlebens. Denn Institutionen kommen kaum umhin, ihre Klientel einem Zeitregime zu unterwerfen. Das tun Schulen traditionell mit Jahrgangssystem, Stundenplan und detaillierten Curricula.

Und das tun auch Kitas, in denen der Betrieb werktags zu bestimmten Tageszeiten stattfindet, in denen die Abläufe einem Zeitplan folgen, der in Zeitvorgaben für Mahlzeiten, für Ruhezeiten, für veranstaltete gemeinsame Aktivitäten, für freie Spielzeiten, für Aufenthalte drinnen und draußen besteht. Professionelles Personal trägt diese zeitlichen Vorgaben und Erwartungen an die Kinder heran und setzt sie gegebenenfalls auch gegen den Willen von Kindern durch. Die zunehmende Verlagerung des Alltagslebens in Institutionen hat zur Folge, dass Kinder ihr Tun deren Zeitregimes unterwerfen müssen: Unterbrechungen und Abbrüche, erzwungene Beschleunigungen und erzwungene Wartezeiten sind häufig.

Die strikte zeitliche Reglementierung formal organisierten Lernens entspricht dem Zeitgebrauch, der in der industriellen Moderne in Wirtschaft und Bürokratie gefordert war; Kinder sollten ihn frühzeitig erlernen. Heute, da sich in der Arbeitswelt Flexibilität und individuelle Zeitbestimmung der Arbeitenden ausbreiten, ist sie dort zunehmend obsolet geworden. Das bringt Schulen und andere Kindereinrichtungen heute unter Anpassungsdruck. Tradierte Zeitregimes herrschen zwar noch immer weitgehend in Betreuungseinrichtungen und Schulen, doch sie werden heute kritisiert als nicht den Bedürfnissen der betroffenen Kinder angemessen. Chronobiologen (z. B. Zulley und Knab 2009) machen darauf aufmerksam, dass das körperliche Befinden und mit diesem auch die Leistungsfähigkeit von externen Zeitregimes beeinträchtigt wird, wenn diese naturbedingte Zeitbedarfe ignorieren. Die Aufmerksamkeit gilt dabei den Zeiten des morgendlichen Schulbeginns und dem Tagesrhythmus von Zeiten der Leistungsfähigkeit und des Ruhebedarfs.

Die zeitliche Organisation einzelner Aktivitäten bleibt in der gegenwärtigen „späten“, „fluiden“ oder „reflexiven“ Moderne vermehrt den Einzelnen überlassen. Zeiten des Arbeitens und auch solche des privaten Lebens (z. B. der Mahlzeiten) werden häufiger individuell gestaltbar. Mit Zeit wird flexibler umgegangen, Aktivitäten sind weniger ortsgebunden und Distanzen können mit virtuellen Mitteln ohne Zeitaufwand überbrückt werden (siehe Bauman 2000). Solche Veränderungen traten zuerst in der Arbeitswelt auf und erreichen nun auch Kinder in den Kinderinstitutionen. Denn weil die junge Generation mit den Zeitkompetenzen ausgestattet werden soll, die sie voraussichtlich in ihrem künftigen Arbeitsleben brauchen wird, werden gegenwärtig Organisationsformen des veranstalteten Lernens denen der veränderten Erwerbsarbeit angeglichen.

Ist dieser zeitliche Autonomiegewinn zum Wohl der Kinder? Die neue individuelle Zeitautonomie führt bei Kindern in gleicher Weise an Grenzen, wie in der Arbeitswelt Erwachsener. Wenn jeder Einzelne seine Zeiten selbst steuern soll, wird zwar Fremdzwang auf die Zeitbestimmung zurückgenommen. Damit verschwindet Zwang jedoch nicht; erzwungen wird jetzt, das eigene Leben selbst zu steuern. Schon Norbert Elias hat von „Fremdzwang zum Selbstzwang“ gesprochen. Auch Selbstzwang kann den Einzelnen unter Stress setzen. Darauf wird unter anderem in kritischen Debatten über Individualisierungsfolgen für Kinder hingewiesen.

In nordischen Ländern, wo diese pädagogischen Veränderungen schon seit langem im Gange sind, sind solche Debatten begonnen worden. Hanne Warming Nielsen und Jan Kampmann (2007) berichten über Erfahrungen in Dänemark, wo Kinder vom Kindergarten an Verantwortung für das eigenes Lernen übernehmen sollen, wo sie sehr früh angehalten werden, die eigene Person und ihre Möglichkeiten bewusst selbst zu formen und diese Prozesse und ihre Erfolge zu reflektieren. Die Autoren weisen auf die Ambivalenz zwischen Gewinn an eigenständiger Verfügung einerseits und dem Zwang, die solche „imposed self-governance“ andererseits für die Kinder bedeute. Kinder mit unterschiedlichem sozialem oder ethnischem Hintergrund würden die schulischen Herausforderungen zu individualisiertem Handeln unterschiedlich annehmen können; hier tue sich eine neue Quelle sozialer Ungleichheit auf. Der Erfolg von Reformen zur zeitlichen Steuerung des Lernens durch die Kinder selbst hängt nicht zuletzt von den Möglichkeiten und Fähigkeiten der Lehrer und Erzieher ab, Kinder individuell zu unterstützen. Gelingt das nicht, werden manche Kinder überfordert, und Überforderung kann auch die Gesundheit belasten.

Individuelle Bestimmung der Lernzeiten wird vor allem dann zum Problem für Kinder, wenn sie mit hohem Leistungsdruck verbunden ist. Zeitverdichtungen und Zeitverlängerungen des Arbeitens, wie sie in der Wirtschaft heute verbreitet sind, werden nun auch Schulkindern zugemutet. Schulpolitische Maßnahmen setzen Kinder früher und stärker unter schulischen Lerndruck, zum Beispiel, indem im vierten Schuljahr durch „zentrale Vergleichstests“ der Übergang ins Gymnasium eine Angst machende Hürde erhält.

Was bedeutet diese Entwicklung für die Zeit der Kinder? Schon in den 1980er Jahren hatte die Tendenz, Spielen durch strukturierte Bildungs-, Spiel- und Sportveranstaltungen zu ersetzen, Klagen über das „gehetzte“ und „verplante“ Kind hervorgerufen. Heute sind Überforderungssymptome wie Erschöpfung, Versagensangst und psychosomatische Erkrankungen schon unter Viertklässlern verbreitet. Aufgeschreckte Eltern protestieren gegen schulpolitische Maßnahmen, durch die Lernzeiten verdichtet werden. Kinderärzte warnen und Medien machen sich zu Advokaten gestresster Kinder. Wissenschaftler diskutieren kritisch, ob pädagogische Frühförderung den kindlichen Lernprozessen förderlich sein kann, wenn sie sehr früh auf schulförmige Art und zeitlich verdichtet betrieben wird (Leu 2008). Kritik richtet sich unter anderem darauf, dass in individuell besondere Entwicklungsprozesse eingegriffen wird und diesen so ihre Eigenzeit genommen wird, sowie darauf, dass man auf diese Weise kulturell und sozial besonderen Zeitbedarfen von Kindern keineswegs gerecht wird.

Eltern sind besorgt, verhalten sich aber ambivalent. Das ängstliche Bestreben von Eltern, ihr Kind möglichst früh für die Zukunft zu wappnen, nimmt weiter zu. Ängste davor, das Kind könne später zu den Verlierern auf dem Arbeitsmarkt gehören, stehen dabei im Widerstreit mit dem Wunsch nach gegenwärtigem Wohl des Kindes. So versuchen viele Eltern, beides zu verbinden. Vor allem Eltern aus bildungsnahen Schichten verstärken den Leistungsdruck der Schule und versuchen zugleich, ihre Kinder davor zu schützen. Denn nicht nur die elterlichen Leistungserwartungen an Kinder steigen, sondern auch die elterlichen Wünsche, ihr Kind in der Gegenwart glücklich zu sehen.

Welche Erfahrungen mit Zeitgebrauch machen Kinder zu Hause? Eltern sind wohl die Bevölkerungsgruppe, in der Zeitnöte am stärksten sind; zu Vieles ist im Alltag auf die Reihe zu bringen. Erwerbstätigkeit und Sorgearbeit für Kinder zeitlich zu koordinieren, führt zu vielfältigen Zeitkonflikten und Zeitverdichtungen, die durch Beschleunigung zu bewältigen versucht wird. Die Folgen tragen nicht nur die Eltern, sondern auch die Kinder (siehe Zeiher 2005). Gesundheitliche Folgen für Kinder und Jugendliche sind in zweierlei Hinsicht zu vermuten: Zum einen reagieren Kinder psychisch und somatisch auf die zeitliche Überlastung, die in Lebensweise und Befindlichkeit ihrer Eltern zum Ausdruck kommt. Zum anderen kann die Qualität der privaten Sorgearbeit leiden, etwa wenn zeitlich überlastete Eltern dazu tendieren, den Zeitaufwand für Sorgearbeit zu verringern, indem sie Gesundungsprozesse medikamentös beschleunigen oder ein krankes Kind vorzeitig in Kita oder Schule schicken.

Die Verbreitung von Hyperaktivität (ADHS) – bei 4,8 Prozent aller Kinder, so schätzt das Robert-Koch-Institut (Schlack u. a. 2007) – wird häufig auf gestiegenen Leistungs- und Zeitdruck in Schule und Familie zurückgeführt, hat aber wohl noch weitere Ursachen. Hierzu zählen vermutlich auch Beschleunigungen, Kurzschrittigkeiten und wechselseitige Unterbrechungen und Überlagerungen im alltäglichen Handlungsablauf. Von Reizüberflutung ist oft die Rede, das trifft aber nur den Wahrnehmungs- und nicht den Handlungsaspekt dieser Beschleunigungsphänomene. Durch Ineinanderschieben („multitasking“) geraten die einzelnen Prozesse aus ihren Eigenzeitbedarfen; ihr Tempo bestimmt sich nicht allein aus ihnen selbst, sondern auch aus den Tempi der anderen Prozesse und sie werden immer wieder von Aufmerksamkeitswechseln durchbrochen.

Kinder werden zu solchem Verhalten nicht nur durch entsprechendes Verhalten Erwachsener verleitet, sondern auch durch Erfahrungen, die sie beim Umgang mit Informationsmedien machen. Bei Computerspielen kommt es auf Geschwindigkeit der Reaktion an, Filme haben sehr schnelle Schnittfolgen, materielle und virtuelle Welten durchdringen sich in Kommunikationsprozessen. Kinder pflegen dies alles sehr früh zu lernen und sie mögen sich in solchen Welten besser bewegen können als viele Erwachsene. Doch auch sie werden nicht selten überanstrengt.

Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

Dr. Helga Zeiher ist Soziologin und Mitglied im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Sie war bis 2002 Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin.

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