fK 5/10 Schnabel

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Die Vielfalt kindlichen Zeiterlebens

Von Michael Schnabel

Für Säuglinge und Kleinkinder ist die Zeit völlig anders als für Erwachsene: Denn der zehn Monate alte Säugling und das zweijährige Kleinkind können in der Regel noch nicht zählen. Sie können mit sechzig Sekunden, Minuten und Stunden noch nichts anfangen. Sie denken nicht über die Zeit nach. Sie genießen die Tage. Sie verbrauchen die Zeit so wie die Luft zum Atmen.

„Kleinkinder sind zeitlos glücklich! Sie schweben über der Zeit und kennen den Zeitstress der Erwachsenen nicht. Kleinkinder haben kein Zeitgefühl! Die Fähigkeit des Erwachsenen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu unterscheiden, entwickelt sich spät. Kleinkinder leben im Hier und Jetzt. Sie kennen nur die Gegenwart.“ So resümieren viele Entwicklungspsychologen, wenn sie das Zeitverständnis der Kinder behandeln. Kleinkinder hätten kein Zeitgefühl? Vielleicht ein völlig anderes als Erwachsene?

Wissenschaftliche Forschungen aus der Psychologie (vgl. Kasten, 2001) über das Zeitbewusstsein unterscheiden drei Gesichtspunkte: (1) die Zeitperspektive: Sie umfasst die kognitiven Prozesse des Verstehens von Zeitabläufen; (2) das Zeitgefühl: Dieser Gesichtspunkt geht den Empfindungen und Gefühlen nach, die das Zeiterleben begleiten; (3) die Handhabung der Zeit: Dieser Aspekt untersucht, wie Zeit verwendet und gemanagt wird.

Solche Einteilung zwingt zur Differenzierung und trägt zur Übersichtlichkeit bei. Reicht sie aus, um alle Erlebnisweisen und Befindlichkeiten, die Kinder in der Begegnung mit der Zeit erwerben, aufzeigen zu können?

Zeit am Spieß?
Die Zeit schiebt sich auf der Zeitleiste vor. Sie schreitet fort auf einer Linie. Sie läuft schnurstracks wie der Läufer auf der Rennbahn. Listen, Schemas, Untersuchungen und Matrizen stellen die Zeit gerne als Pfeil dar. Darauf kann man so bequem Einteilungen vornehmen, beispielsweise Sekunden, Stunden oder auch Jahre notieren. Dieses Zeiteinteilen, Zeitvermessen, Zeitverwalten oder auch Zeit in den Griff nehmen, kennzeichnet das Denken des modernen Menschen, der mit Hilfe der Uhr immer genauer wissen möchte: „Welche Stunde hat gerade geschlagen?“ Manche Zeitforscher sehen darin auch die Angst des heutigen Menschen, die Zeit könnte zu schnell vergehen, die Zeit könnte nicht genutzt werden. Noch schlimmer die kaufmännische Perspektive: Wer Zeit verliert, verliert sein Geld, sein Vermögen! (vgl. Geißler, 2006).

Aber dies alles hat doch nichts mit Kindern zu tun? Oder vielleicht doch! Denn das Zeitverständnis der Kinder wird weitgehend aus diesem Tunnelblick der erwachsenen Zeitverwalter beschrieben und beurteilt. Bei vielen Untersuchungen steht einzig und allein die Frage obenan: Wie genau können Kinder die Zeit schätzen? Manchmal sogar: Was meinen Kinder, wie lang eine Minute dauert?

Es war der Entwicklungspsychologe Jan Piaget, der präzise zeigen konnte, dass Kinder im Vergleich zum Erwachsenen ein sehr unterentwickeltes Zeitverständnis haben. Streng genommen: Die Kleinkinder kennen überhaupt nicht das Fortschreiten der Zeit auf der Zeitachse. So sind Kinder bis zum dritten Lebensjahr nur fähig, ein Schema für geläufige Handlungen auszubilden. Im Alter von drei bis sieben Jahren haben Kinder anschauliche Bilder von der Zeit: Wer größer ist muss älter sein. „Ein Jahr ist sieben Kilometer lang“, meint ein siebenjähriges Mädchen. Im Schulalter lernt das Kind mit Zahlen zu hantieren und immer mehr wird die Vorstellung der Erwachsenen ausgebildet: Zeit lässt sich in Abschnitte einteilen, die Zeit kennt Intervalle, die Zeit lässt sich vermessen und zählen.

Solche Forschungen und Erkenntnisse verlangen von der Erziehung: Es ist eine vordringliche Aufgabe, die Kinder in die Zeitordnungen der Erwachsenen einzufügen. Pünktlichkeit lernen, Trödeln abgewöhnen, rechtzeitig ins Bett gehen und aufstehen, sind einschlägige Forderungen. Anscheinend ist von größtem Interesse: Wie können Kinder schon von Geburt an möglichst schnell in die Zeitkoordinaten der Erwachsenen eingepasst werden? Ist dies so lebenswichtig? Und vor allem dann, wenn die meisten Erwachsenen ihre liebe Not mit der Zeiteinteilung haben. Der Irrsinn: Je genauer die Zeit geplant wird, je sorgfältiger die Zeit eingeteilt wird, umso weniger Zeit haben die meisten Menschen. Je mehr der Zeitpfeil zugespitzt wird, umso mehr spießt man sich daran auf.

Wenn sich die Zeit im Kreise dreht
Kleinkinder lieben die Wiederholung, denn das Zeitformat des Kreises oder der Spirale ist Kindern sehr vertraut. Mehr noch: Mit diesem Zeitformat sind sie geradezu verwurzelt, denn gleich von den ersten Lebensregungen an ist das Kind in Wiederholungen und Rhythmen eingebettet. Als Embryo hört es den regelmäßigen Herzschlag der Mutter. Dieser Rhythmus ist so beruhigend, dass ein Säugling sofort mit dem Schreien oder Weinen aufhört, wenn ihm die Herztöne seiner Mutter vorgespielt werden. Nach der Geburt erlebt das Kind den Rhythmus des Atmens und bei hoher Sensibilität die rhythmischen Bewegungen der Muskulatur.

Gleich von Geburt an prägen weitere Rhythmen und Wiederholungen das Leben des Kindes; beispielsweise der Wechsel von Tag und Nacht; von Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Später dann die Wiederholungen von Aufstehen, Frühstück, in den Kindergarten gehen, Mittagessen, Abendessen, Bett gehen; von Geburtstag, Nikolaus, Weihnachten und Ostern. Forschungen konnten zeigen: Kinder können schon mit sechs Monaten regelmäßig wiederkehrende Ereignisse innerlich organisieren, indem sie so genannte „Skripts“ ausbilden (vgl. Kasten, 2005, S. 72.). Das Skript „Schlafen-Gehen“ könnte so aussehen: Gefüttert werden, frische Windel, ins Bett gelegt werden, ein Einschlaflied, Einschlafen. Diese Untersuchungen zeigten weiterhin: Kinder mit drei und vier Jahren können Geschichten mit Skript-Charakter zutreffender nacherzählen. Demnach verinnerlichen Kinder wiederkehrende Zeitstrukturen sehr bald und genau.

Die Zeit als Wiederholung, die Zeit als Kreis oder Spirale ist eine beruhigende und heilsame Vorstellung. Daher ist es nicht verwunderlich, dass diese Zeitauffassung bei vielen Völkern und in vielen Epochen der Geschichte anzutreffen ist. So verwenden Menschen in Burundi folgendes Zeitschema: Kühe gehen auf die Weide, Kühe gehen zum Fluss, Kühe gehen nach Hause. Der Prediger in der Bibel spricht so über die Zeit: Es gibt eine Zeit zum Lachen, eine Zeit zum Weinen; eine Zeit zum Feiern, eine Zeit zum Trauern, eine Zeit zum Geboren-Werden, eine Zeit zum Sterben.

Das Leben kennt viele Zeitzyklen! Solche Zyklen sind naturgegeben und urwüchsig. Sie haben eine Tradition, die aus dem Leben erwachsen ist. Daher graben sich Zeitzyklen auch schnell in die Vorstellungswelt der Kinder ein. Noch dazu, weil Zyklen und Rhythmen des Lebens immer wieder zu neuen Erfahrungen und Erlebnissen drängen. Beispielsweise der Festkreis des Kirchenjahres bietet einen eindrucksvollen Zeitzyklus. Verstärkt und vertieft wird dieser Zyklus des wiederkehrenden Erlebens durch Rituale. Sie nehmen die Erfahrungen aus der Vergangenheit auf und machen bereit für zukünftige Erfahrungen. Im Ritual werden Erlebnisse und Erfahrungen der Zeit konzentriert und zelebriert.

Die Vorstellung, die Zeit bewegt sich im Kreis, sie läuft entlang einer Spirale, ist beruhigend und geradezu heilsam. Weil der Gedanke „die Zeit läuft mir davon, die Zeit verrinnt unwiederbringlich“ zurückgewiesen wird und tröstlich wird versichert: „Das Leben wiederholt sich. Es bietet neue Möglichkeiten an. Es wechseln sich Zeiten der Freude und Trauer ab.“

Meine Zeit – eine Zeit für mich
Die Wiederholung, die Zyklen von Zeiten werden für Kinder noch attraktiver und erlebnisnäher, wenn es sich um persönliche Daten und Zeitabschnitte handelt: Mein Geburtstag, Zeit zum Essen, Zeit zum Spielen… Die Psychologin Elisabeth Hurlock (1971) konnte beobachten, dass Kinder sich sehr schnell in der emotional geprägten Zeit zurechtfinden: Wie alt bin ich? Wann ist der nächste Geburtstag? Wie lange muss ich noch auf Weihnachten warten? Solche Daten sind den drei- und vierjährigen Kindern oft schon geläufig.

Entwicklungspsychologische Forschungen konnten zeigen, dass sich bei Kindern Vorstellungen von vorher und nachher, schnell und langsam, von gestern, heute und morgen erst allmählich ausbilden. Ganz anders ist es, wenn es sich um persönlich bedeutsame Zeitabschnitte handelt: Beispielsweise, wenn die Mutter nach der Eltern-Kind-Gruppe noch etwas mit der Leiterin besprechen möchte, dann drängt das Kind, damit es möglichst schnell nach Hause kommt. „Ich will schnell nach Hause. Ich will sofort gehen“, quengelt das Kind.

Der Soziologe Norbert Elias (2000) verweist darauf, dass Zeit eine soziale Konstruktion der Menschen sei. Zeit ist die Beziehung der Menschen zu Ereignissen. Kinder haben noch ungetrübte Beziehungen zu Ereignissen. Sie gehen mit fröhlicher Einstellung, mit freudigen Erwartungen, mutigen Aussichten auf Ereignisse zu. Kinder genießen die Gegenwart und freuen sich auf die Zukunft. Kinder haben eine glückliche Beziehung zu den Ereignissen. Daher leben sie im Zeitparadies. Der Psychoanalytiker Erich Fromm sieht in solcher Zeitauffassung unendlichen Erlebnisreichtum: Denn das Erlebnis der Liebe, der Freude und der Wahrheitserkenntnis erlebt der Mensch nicht erst in der Ewigkeit, sondern im Hier und Jetzt. Und Ewigkeit ist nicht ins Unendliche verlängerte Zeit, sondern erfüllte Zeit im Hier und Jetzt. Vielleicht werden daher in manchen Kulturkreisen die Kinder noch zur Ewigkeit der Götter gezählt.

Die Zeit fährt mit dem Kinderfahrrad
Entwicklungspsychologen gaben sich große Mühe, um das Zeitverständnis der Kinder auszukundschaften. Mehr noch: Raffinierte Experimente und Anordnungen wurden erfunden, um herauszufinden, ob Kinder kurz oder lang, schnell oder langsam verstehen könnten. Manche Zeitforscher haben dabei ein ungutes Bauchgefühl. Sie argwöhnen, ob die richtigen Fragen für das Verständnis der Kleinkinder gestellt wurden (vgl. Geißler 2001). Bisher habe noch keinen Erwachsenen interessiert: Welche Farbe hat die Zeit? Kann die Zeit auch krank werden? Möchte sich die Zeit auch manchmal verstecken? Weiß die Zeit selbst, wer sie ist und wie sie gesehen werden möchte? Freut sich die Zeit, wenn wir sie mögen?

Wer sich auf Kinder einlässt und ihnen geduldig und aufmerksam zuhört, der wird überrascht von farbigen und bildhaften Vorstellungen, die Kinder mit dem uns geläufigen Ausdruck „Zeit“ in Verbindung bringen. Die dreijährige Lea zeigt mir voller Stolz, wie toll sie schon Radfahren kann. „Schau ich fahr schon mit dem Radl!“ Da meldet sich der Kleinkindforscher, um ihr Zeitverständnis auszukundschaften. „Kannst du schon lange Radfahren?“ „Ich hab ein Rad geschenkt bekommen.“ „Hast du Radfahren vor zwei Tagen, vor mehreren Tagen oder schon vor einer Woche gelernt?“ „Schau ich kann hier lang fahren und eine Kurve machen.“ „Ja wunderbar! Wie lange kannst du schon Radfahren?“ „Schau ich kann Kurven fahren.“ Sie führt mir ihr Können vor. Zeit ist Begeisterung fürs Radfahren. Zeit kann Begeisterung an Aktivitäten sein, aber auch Angst vor mancher Unternehmung.

Eigenartigerweise spüren Kinder im Vorschulalter den Termindruck noch nicht. In philosophischen Gesprächen über die Zeit des Modellkindergartens St. Wolfgang in Grafenaschau kam keine einzige Äußerung über Zeitstress. Jedoch ganz ungetrübt gehen die Termine an den Kindern nicht vorüber. Ein sechsjähriger Junge meint: „Wenn meine Mutter am Abend sagt, dass ich ins Bett gehen soll, weil es schon spät ist, dann hätte ich lieber gar keine Zeit.“(Zoller Morf, 2004, S. 162). Demnach ärgern sich Vorschulkinder darüber, wenn andere über ihre Zeit bestimmen.

Bei manchen Kindern hat die Zeit doch eine Farbe, wie Gespräche zeigen: „Die Zeit ist schwarz.“… „Ja, weil die Uhr schwarze Zahlen hat.“ … „Und wenn die Uhr bunt ist, dann ist die Zeit auch bunt. Manchmal hat die Zeit eine schöne Farbe und manchmal ist sie eben nicht so schön.“( Zoller Morf, 2004, S. 161), so die Meinung eines Fünfjährigen. Wir Erwachsenen sprechen von unruhigen Zeiten, von schlimmen Zeiten, von hektischen Zeiten, aber auch von erholsamen, glücklichen, freudigen, feierlichen und unvergesslichen Zeiten. Wer mit Kindern tagtäglich zu tun hat, der weiß: Das Leben der Kinder ist nicht nur eitel Sonnenschein. Es gibt auch die schwarzen Zeiten. „Mir ist langweilig“, hören Eltern und Erzieherinnen häufig von den Kindern. „Ja, und wenn’s langweilig ist, dann geht die Zeit nie vorbei! Dann hätte ich manchmal lieber, wenn es gar keine Zeit gäbe. Denn wenn ich gar nicht wüsste, was Zeit ist, dann könnte es mir auch nicht langweilig werden“, so die Meinung eines Fünfjährigen.

Wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im Brennglas flimmern
Ein Zeitbewusstsein, das vielen Erwachsenen fremd ist, ist bei Kleinkindern noch häufig zu beobachten: die totale Konzentration auf eine Beschäftigung. Im klassischen Griechenland gab es für diese Zeitauffassung den Begriff „Kairos“ – der günstige Zeitpunkt, die gegenwärtige Gelegenheit, die Chance des Augenblicks.

Ein solcher Zeitpunkt ist eine Zeit, die gelingt, die ganz und gar ausgefüllt ist, in der Vergangenheit und Zukunft zusammenschmelzen. Kurzum: Eine glückliche Zeit. Vorstellungen, die gut zum Zeitempfinden der Kleinkinder passen. Denn Beobachtungen belegen: Wenn Kinder mit voller Hingabe Legosteine zusammenfügen, wenn sie mit Enthusiasmus und Begeisterung Kleister verschmieren, wenn sie in der Lehmgrube manschen, dann sind sie so bei der Sache, dass sie alles rundherum vergessen. Der Ort, der Raum, der Lärm, das Wetter, die Kleidung, die beobachtenden Erwachsenen sind ihnen egal. Mehr noch: Alle Dinge und Umstände werden ausgeblendet, weil sie vollkommen im Tun aufgehen. Solche Situationen sind identisch mit dem Glückszustand von Flow-Erlebnissen, wie sie der Glückforscher Csikszentmihalyi (2006) beschrieben hat. Zeit und Glück werden eins. Zeit ist für Kinder dann glücklich sein.

Diese höchste Konzentration und Kreativität bei einer Beschäftigung wird nur dann erreicht, wenn Kinder frei über den nötigen Zeitraum verfügen dürfen. Und vor allem, wenn sie nicht sofort wieder an dutzende Verhaltensregeln und Grenzen stoßen – wie zum Beispiel: „Mach dich nicht schmutzig!“ „Gebrauche den Stift richtig!“ „Jetzt reicht es aber!“ „Vertrödle nicht die Zeit!“ „Verträum nicht den ganzen Tag!“ Solche Aufforderungen sind meist gut gemeinte Ermahnungen und nötige Anweisungen für ein gelingendes Leben. Bei genauer Analyse zeigen sich meist fatale Folgen: Die Kinder werden von einer Beschäftigung in die andere gehetzt, sie stürzen von einem Angebot in die nächste Förderung und büßen Eigeninitiative und Kreativität ein. Im schlimmsten Fall enden sie als Zappelphilipp, der ruhig gestellt werden muss. Wer jedoch schon bei den kleinsten Kindern ihre Experimentierfreude und ihr Explorationsverhalten mit Geduld, Aufmerksamkeit und Vergnügen verfolgt, der kommt kaum noch aus dem Staunen heraus und entdeckt für sich selbst viele neue Einsichten.

Die Entwicklung des kindlichen Zeitbegriffs nach Jean Piaget
1. Stufe: der sensomotorische Zeitbegriff

Der sensomotorische Gebrauch von Zeit findet sich vom Säuglingsalter bis ins dritte Lebensjahr. Eine Vorstellung von Zeit bei Kindern in diesem Entwicklungsabschnitt hat nichts zu tun mit dem Zeitbegriff von Erwachsenen. Jedoch können Beobachtungen nahe legen, dass Kinder allererste Ahnungen von Zeitabfolgen besitzen. Beispielsweise kann der Säugling eine Hand zum Mund führen und sogar seinen Mund zum Daumen, bevor er ihn zwischen die Lippen schiebt. Ein Experiment zeigt, Kinder können sich einen Bewegungsablauf zeitlich strukturiert vorstellen. Ein Einjähriger beobachtet einen Erwachsenen, wie er eine Puppe unter einer Decke versteckt. Kurze Zeit darauf kann er die Puppe problemlos finden, auch wenn er sie nicht direkt sehen kann. Piaget folgert aus diesen Beobachtungen: Das Kind in diesem Entwicklungsabschnitt bildet sinnvolle Reihen von Vorgängen und Zeitschemas. Es kann die Handlungsabläufe nacheinander ordnen, aber Vorstellungen über Zeitdauer sind noch nicht entwickelt.

2. Stufe: der anschauliche Zeitbegriff
Ein Kind muss sich im Raum orientieren können und anfanghafte Kenntnisse über Zahlen besitzen, bevor es die Zeit richtig einschätzen kann. Beobachtungen an Kindern zwischen drei und sieben Jahren lassen bereits erste Zeitvorstellungen erkennen. Aussagen der Kinder über die Zeit sind in diesem Entwicklungsabschnitt mit der direkten Anschauung verknüpft. So behaupten Kinder in diesem Alter: Steine, die größer sind, seien auch älter als kleine Steine. Ebenso beurteilen sie das Alter von Kindern und Erwachsenen: Wer größer ist, muss älter sein! Sehr deutlich wird das Verhaftetsein in der Anschauung beim Autorexperiment: Zwei Autos werden vor den Augen der Kinder bewegt. Ein Auto fährt schneller und legt im gleichen Zeitraum eine längere Strecke zurück. Anschließend behaupten die Kinder, das Auto, das eine längere Strecke zurückgelegt hat, sei auch länger gefahren.

3. Stufe: der operative Zeitbegriff
Auf dieser Entwicklungsstufe können Kinder Zeitabschnitte handhaben, ohne dass sie in der konkreten Anschauung fixiert bleiben. Es bildet sich das Bewusstsein heraus: Zeit hat an allen Orten die gleiche Gültigkeit, und die Zeitdauer setzt sich aus gleichen Zeiteinheiten zusammen. Dadurch wird es Kindern im Grundschulalter möglich, die Dauer unterschiedlicher Zeitabschnitte zu erkennen und Zeitintervalle miteinander vergleichen zu können. Wobei zu beachten ist, dass die Einschätzung von Zeitabschnitten und Zeitintervallen erst am Anfang steht. Eine Mutter erzählt: Als mein Sohn in die vierte Grundschulklasse ging und wegen Krankheit eine Schulwoche versäumt hatte, in der die Kinder über die Ritter gelernt hatten, versuchte ich den versäumten Lehrstoff nachzuholen, indem ich ihm sehr anschaulich über das Leben der Ritter im Mittelalter erzählte. Er hörte gespannt zu und fragte dann: „Warst du damals dabei?“

4. Stufe: der metrische Zeitbegriff
Ein weiterer Entwicklungsfortschritt der kindlichen Zeitvorstellungen ist darin zu sehen, wenn es gelingt, die Dauer von Handlungen genauer zu schätzen und vorherzusagen, wie viel Zeit eine Handlung beanspruchen wird. Nach Untersuchungen von Piaget sind Kinder erst mit neun Jahren dazu fähig.

Die Literaturangaben sind über die Geschäftsstelle erhältlich.

Michael Schnabel ist Theologe und Pädagoge und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München.

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