fK 5/08 Irmler

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Sein Unglück ausatmen können…

Psycho-soziale Beratungen und Resilienz fördernde Behandlungen im Therapiezentrum für Folteropfer der Caritas in Köln

von Dorothea Irmler

Von den in Deutschland lebenden rund 220.000 jungen Flüchtlingen sind ungefähr 10.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlingskinder und Jugendliche. 200.000 minderjährige Flüchtlinge leben mit ihren Eltern, Geschwistern oder anderen Familienangehörigen in zumeist sehr erbärmlichen Umständen, d. h. in Gemeinschaftsunterkünften, Asylheimen, Containern. Nur wenige Flüchtlingsfamilien leben in Privatwohnungen.

Psycho-soziale Rahmenbedingungen
Die psycho-sozialen Rahmenbedingungen für minderjährige Flüchtlinge in der Bundesrepublik Deutschland sind theoretisch vorgegeben durch verschiedene internationale Abkommen zu Rechten und zum Schutz von Kindern, u. a. durch die UN-Konvention über die Rechte des Kindes von 1989. Diese beruht auf vier Grundprinzipien: Recht auf Gleichbehandlung aller Kinder, Prinzip der besten Interessen des Kindes, Recht auf Leben und persönliche Entwicklung, Achtung vor der Meinung und dem Willen des Kindes.

Die Bundesrepublik Deutschland hat die Konvention als eines von nur ganz wenigen Ländern der Welt nur unter Vorbehalt ratifiziert. Das bedeutet für den Alltag und die Zukunftsperspektiven der Flüchtlingskinder und Jugendlichen viele Einschränkungen – sowohl für diejenigen, die mit ihren Eltern hier sind als auch für die unbegleiteten Kinder und Jugendlichen (UMF): z. B. werden unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ab 16 Jahren asylrechtlich als Erwachsene betrachtet, d. h. sie haben keinen Anspruch auf einen Vormund, auf eine kindgerechte Unterbringung, auf Beschulung und Ausbildung, wobei es hier unterschiedliche Bestimmungen in den einzelnen Bundesländern gibt. Dennoch bedarf es immer engagierter professioneller und/oder ehrenamtlicher Helfer, die den Jugendlichen zu ihren Rechten verhelfen.

Auch für die begleiteten minderjährigen Flüchtlinge gilt das Kindeswohl nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) nur eingeschränkt, da das Asylrecht, dem ihre Eltern unterliegen, Vorrang hat vor den Bestimmungen des KJHG. Das bedeutet z. B., dass für Kinder von Eltern, die noch nicht über einen gesicherten Aufenthaltstitel verfügen, auch wenn sie u. U. schon viele Jahre in Deutschland leben, keine Schulpflicht besteht, oder dass sie wegen des Verbotes, den Aufenthaltsort zu verlassen, nicht an Klassenfahrten teilnehmen dürfen. Letzteres ist auch bei UMFs ein immer wiederkehrendes Problem.

Das Leben der meisten Flüchtlingsfamilien ist geprägt von materieller Not (Leistungen unter dem Sozialhilfesatz, Arbeitsverbot, medizinische Versorgung nur für akute Erkrankungen), Unsicherheit über die Zukunft, oftmals Angst vor Abschiebung. Da es in asylrechtlichen Bestimmungen keinen Mindeststandard für Wohnraum gibt, leben Eltern mit zwei, drei Kindern oft über Jahre in einem Raum, sind Wände, Fußböden u. U. feucht, hellhörig; die mit vielen anderen Familien zu teilenden Sanitäranlagen sind hygienisch in einem äußerst fragwürdigen Zustand, die Gemeinschaftsküchen zu klein, schmutzig und nur minimal ausgestattet. Alles ist gedrängt und notdürftig. Konflikte und Streit in den Familien und zwischen den Bewohnern sind in diesem Kontext verstehbarerweise an der Tagesordnung.

Behandlungen im Therapiezentrum
Vergegenwärtigt man sich, dass traumatisierte Menschen besonderen Schutz benötigen, so kann man sich leicht ausmalen, dass die o. g. Rahmenbedingungen in den meisten Fällen re-traumatisierend wirken. Die minderjährigen Flüchtlinge und die Flüchtlingsfamilien, die im Therapiezentrum für Folteropfer (TZFO) behandelt und betreut werden, haben Kriegs- und Bürgerkriegsgeschehen erlebt. Die Mütter sind oft Opfer von sexuellen Übergriffen gewesen. Sie haben oft mit ansehen müssen, wie Familienangehörige, auch eigene Kinder, verschleppt oder gar getötet wurden. Sie haben allen materiellen Besitz verloren. Die Flucht war meist mit weiteren schlimmen Erlebnissen, Gefahren und Übergriffen verbunden. Die Kinder haben erlebt, dass ihre Eltern sie nicht schützen konnten oder aber sie sind u. U. selbst die einzigen Überlebenden ihrer Familien, wie dies z. B. für Kinder aus Ruanda oder Angola zutrifft. Sie alle haben existentielle Angst, Ausgeliefertsein und Verzweiflung durchlebt.

Die Kinder, die begleiteten wie die unbegleiteten, haben ihre Kindheit verloren, d. h. sie befassen sich mit Themen, die ihren Verstehens- und Handlungshorizont weit übersteigen, z. B. wie bekommen wir einen Pass, eine Wohnung? Meine Mutter ist krank, ich muss sie zum Arzt bringen und für sie übersetzen Die Gräber in unserem Heimatland sind zerstört, das ist nicht gut für meine Großeltern, die da begraben sind, was kann ich tun? Für die UMFs ist die Volljährigkeit mit 18 Jahren ein gefürchteter Zeitpunkt, da sie ihren Vormund und oftmals auch den geschützten Rahmen einer Jugendhilfeeinrichtung sowie die finanzielle Unterstützung durch die Jugendhilfe verlieren. Sie fragen sich, wie kann ich meinen Lebensunterhalt sichern und gleichzeitig zur Schule gehen? Warum soll ich mich in der Schule anstrengen, wenn ich doch keine Ausbildung machen oder studieren darf? Wie geht es mit meinem Aufenthalt weiter?

Da wir unsere Patienten im TZFO in der nachtraumatischen Phase kennen lernen, liegt unser erster Ansatzpunkt darin, neben der psychischen Stabilisierung auch an der notwendigen Stabilisierung der äußeren Lebensumstände zu arbeiten. Dann müssen wir fragen, inwieweit die Grundbedürfnisse der Familie und der Kinder befriedigt sind (z. B. Wohnraum, materielle Versorgung, Schul- bzw. Kindergartenbesuch). Wenn die Familien oder auch die unbegleiteten Jugendlichen erleben, dass wir ihre äußere Sicherheit ernst nehmen und daran arbeiten, hat dies eine heilsame, Vertrauen aufbauende Wirkung, denn oft ist das TZFO für diese Patienten der einzige Ort, an dem jede Facette ihres Lebens einen würdigen, ernst genommenen Raum erfährt.

Für die Kinder von traumatisierten Familien bedeutet dies eine große Entlastung, ein Aufatmen, da sie oft diejenigen sind, die sich auf Kosten ihre eigenen kindlichen Bedürfnisse für alles verantwortlich fühlen und so zu „unsichtbaren Kindern“ werden, die wie kleine Erwachsene funktionieren, nirgendwo auffallen, aus Sorge, sie könnten ihre Eltern sonst noch mehr belasten. Kinder und Jugendliche sind entweder primär durch ihre eigenen Erlebnisse oder sekundär durch die Erlebnisse der Eltern traumatisiert. Sie müssen diese Traumatisierungen und Belastungen zusätzlich zu ihren ganz „normalen“ Entwicklungsaufgaben bewältigen.

In der psychotherapeutischen Behandlung und den psycho-sozialen Beratungen sowohl mit Kindern und Jugendlichen als auch mit ihren erwachsenen Bezugspersonen verfolgen wir folgende Ziele: (1) eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen und erleben; (2) innere Stabilisierung ermöglichen; (3) Selbstschutz erlernen, der gegen traumatische Erinnerungen wirkt und gegen den inneren Drang, sich immer wieder in einer Opferrolle zu fühlen; (4) psychische Bewältigungsstrategien und Kompetenzen aufbauen; (5) Erinnern und Trauern ermöglichen; (6) ermöglichen, die eigene Lebensgeschichte und gegenwärtige Lebenssituation zu verstehen und das eigene Trauma von dem anderer, z. B. der Eltern unterscheiden zu lernen; (7) ermöglichen, in die zunächst fremde Kultur mit der fremden Sprache und den vielen „ungeschriebenen“ sozial-kulturellen Gesetzen hineinzuwachsen; (8) ermöglichen, dass Fähigkeiten erlernt und/oder wiederbelebt werden können.

Um diesen vielfältigen Anforderungen gerecht werden zu können, haben wir ein spezielles Modell zur Förderung von Resilienz entwickelt. Resilienz verstehen wir als ein Konzept, das sowohl auf das Individuum bezogen werden kann als auch auf Familien. In der Umsetzung bedeutet dies, dass wir in unsere Unterstützungsmaßnahmen nicht nur psychotherapeutische Behandlungen einschließen, sondern u. a. auch Sprachunterricht, Hausaufgabenbetreuung, Familienfreizeiten, Bewerbungs- und Computertrainings, Kunsttherapie, therapeutisches Reiten, Förderung von Kontaktmöglichkeiten mit Ehrenamtlichen, gesundheitsfördernde Angebote, Erlernen von Entspannungstechniken, Teilnehmen an kirchlichen Gemeinschaften. Resilienzförderung eröffnet aus unserer Sicht einen heilsamen Weg, der es traumatisierten Kindern und ihren Familien ermöglicht, nicht nur die geringste ihrer Möglichkeiten zu leben, sondern trotz schlimmer Erlebnisse ein gutes Leben zu gestalten.

Nach unseren Erfahrungen benötigen Behandlungen der Patient(inn)en in unserem Zentrum in den meisten Fällen mehrere Jahre. Gelingt es, diesen sicheren Behandlungsort – in dem alles Leid, aber auch Hoffnungen und heilsame Maßnahmen adäquaten Raum haben – aufzubauen und gegen alle äußeren restriktiven Gegebenheiten durchzusetzen, so sind die Chancen, dass den betroffenen Kindern und Familien geholfen werden kann, sehr hoch.

Teile des Artikels wurden erstmalig veröffentlicht in: „Ziel Lebensqualität“, Heft 1, 2005.

Das „Therapiezentrum für Folteropfer – Flüchtlingsberatung Caritas für Köln“ (TZFO) wurde 1984 als Modelleinrichtung der UNO Flüchtlingshilfe gegründet und 1985 unter das Dach der Caritas Köln gestellt.

Sein Unglück ausatmen können
tief ausatmen
so daß man wieder einatmen kann und vielleicht auch sein Unglück sagen können
in Worten
in wirklichen Worten
die zusammenhängen
und Sinn haben
die man selbst noch verstehen kann
und die vielleicht sogar irgendwer sonst versteht
oder verstehen könnte
und weinen können
das wäre fast schon wieder Glück.

Erich Fried, „Aufhebung“

Dorothea Irmler M.A. ist Psychotherapeutin und Ethnologin, hat viele Jahre in Zimbabwe gearbeitet. Seit 1996 ist sie im Therapiezentrum für Folteropfer in Köln tätig, in dem sie das Kinder- und Jugendprojekt leitet.

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