fK 5/07 Brock

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Bereicherung familiärer Erziehung durch Geschwister

von Inés Brock

Familien und eine Politik, die Familien unterstützen soll, sind in aller Munde. Auch die demographische Debatte wird zum Teil sehr aufgeregt geführt. Misshandlungen an kleinen Kindern füllen seit längerem die Headlines der Presse. Kaum in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden jedoch die innerfamiliären Dynamiken. Insbesondere die Erziehung in Mehrkindfamilien wird, wenn überhaupt, unter einem defizitorientierten Blickwinkel geführt. Das Aufwachsen mit Geschwistern ist jedoch vor allem als eine Ressource zu verstehen, die zunehmend weniger Kinder erleben dürfen: Nur noch jedes zweite minderjährige Kind wächst mit Geschwistern auf.

Wenn man also gute Antworten auf die Fragen zur Förderung von Erziehung in den Familien und zur demographischen Entwicklung herausarbeiten will, muss der Familiendynamik in Mehrkindfamilien mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Dazu will ich im Folgenden drei Diskussionsstränge zusammenführen. Zunächst geht es mir um die bereichernden Aspekte sowohl für die Geschwister untereinander als auch für die Eltern. Zum Zweiten will ich den Lebensbeginn von Nachgeborenen in den Blick nehmen. Abschließend wage ich einen Ausblick auf die demographische Entwicklung von Verwandtennetzwerken.

Forschungsstand
Die beiden großen aktuellen Berichte der Bundesregierung zum Familienleben und zu Kindheit in Deutschland, der 12. Kinder- und Jugendbericht 2005 und der 7. Familienbericht 2005, blenden Familienerziehung in Mehrkindfamilien weitestgehend aus. Wenn man diese den Forschungsstand in Deutschland beschreibenden Dokumente als Gradmesser der Bewusstseinsbildung in der Familien- und Kindheitsforschung nimmt, wundert es nicht, dass vielerorts in den Institutionen nur das Defizit wahrgenommen wird, dass kinderreiche Familien ein erhöhtes Armutsrisiko haben und kindliche (soziale und Bildungs-)Deprivation häufiger in kinderreichen Familien vorkommt. Umso erstaunlicher ist, dass Eltern in großen Familien überdurchschnittlich zufrieden im Vergleich mit kleinen Familien sind. Das Gleiche gilt für die Ehezufriedenheit. Auch sind die Mütter mehrerer Kinder zufriedener mit der Beteiligung der Partner an der Haushaltstätigkeit. Große Familien sind auch in der Alltagsgestaltung regelmäßiger und familienzentrierter, so nehmen sie z.B. häufiger die Mahlzeiten gemeinsam ein.

Leben mit Geschwistern
Geschwister erleben miteinander die längste verwandtschaftliche Beziehung und die intensivste Erfahrung von Nähe und Verbundenheit. So weiß man z.B., dass gerade im Alter Geschwister wieder näher zueinander rücken und oft auch Pflegeverhältnisse begründen, die jenseits des Todes der Lebenspartner tragen.

In diesem Beitrag soll es vorrangig um die frühe Kindheit gehen. Oft wurden die Beziehungen zwischen Geschwistern als Rivalitätsverhältnisse thematisiert. Auch wenn die Konkurrenzsituation um die elterliche Aufmerksamkeit relevant für die Persönlichkeitsentwicklung ist, sind es jedoch zwei andere zentrale Dynamiken, die das Leben mit Geschwistern auszeichnen. Einerseits ist da die Pionierfunktion, die ältere Kinder für die jüngeren innerhalb der Familie innehaben, indem sie Grenzen austesten und Regeln aushandeln. Auf der anderen Seite lernen Kinder eher untereinander als von Erwachsenen. Hervorzuheben ist dabei die Lehrendenrolle, die insbesondere Schwestern für ihre kleineren Geschwister ausüben.

Jedes Kind ist anders. Was zunächst wie eine Selbstverständlichkeit klingt, ist bei näherer Betrachtung insbesondere bei Geschwistern eine bemerkenswerte Feststellung. Könnte man doch annehmen, dass das Aufwachsen in einer Familie dazu führt, dass sich Kinder eher ähnlich sind. Auch wenn sozioökonomische Bedingungen nahezu gleich erfahren werden, sind es doch die ganz individuellen Sichtweisen und Rahmenbedingungen, die eine sehr unterschiedliche Umwelterfahrung erzeugen. Die dreijährige Erstgeborene erlebt z.B. eine völlig andere Mutter als ihr nachgeborener Bruder, wenn er drei ist. Erfahrungsreichtum und Doppelrolle (die Mutterschaft von zwei Kindern, bei der auf jedes angemessen eingegangen werden soll) prägen diesen Unterschied.
Wenn man das transaktionale Modell aus der Entwicklungspsychologie nimmt, das die komplexen Wechselwirkungen zwischen dem sich entwickelnden Kind, seinen Eltern und deren Lebenszusammenhängen“ als Grundlage von Persönlichkeitsentwicklung beschreibt, wird Entwicklung „als Ergebnis einer kontinuierlichen und dynamischen Interaktion zwischen dem Kind und seiner Umwelt verstanden“ (Ziegenhain, Fries et al. 2006). Diese Interaktion ist – familiensystemisch betrachtet – als Selbstorganisationsdynamik verschiedener Subsysteme zu werten.

Die vertikale Beziehungsachse liegt zwischen den Generationen. Demgegenüber ist die horizontale Achse unter Geschwistern abzugrenzen. Auf der vertikalen Ebene kommt es auf elterliche Feinfühligkeit, elterliche Präsenz und elterliche Kompetenz bei der Erziehung an. Mindestens ebenso relevant ist jedoch die horizontale Interaktion zwischen den Geschwistern, in der Empathie, Solidarität und Konfliktbewältigungskompetenz heranreifen. Das Selbstkonzept eines Kindes basiert auf entwicklungsfördernden Selbstwirksamkeitserfahrungen. Die Beziehungsgestaltung in Mehrkindfamilien beruht auf der Vielfalt, die die einzelnen Triaden und Dyaden der Familie erzeugen. Hiermit sind die Subsysteme der weiblichen bzw. männlichen Mitglieder der Familie sowie das Eltern- bzw. das Kindersystem gemeint. So wird z.B. die Reifung weiblicher Identität sowohl von der Beziehung zur Mutter als auch durch die Abgrenzung vom Bruder geprägt. Ein Mädchen kann demzufolge die Erwerbstätigkeit und Autonomie der Mutter durchaus respektieren und dennoch dem Bruder nachsprechen, dass z.B. das Legen der Wäsche ‚Frauenarbeit’ ist. In diesem Falle ist der Junge möglicherweise durch die implizit transportierten Wertzuweisungen seiner Peergroup gegenüber stärker empfänglich als dem gelebten Wertesystem seiner Eltern. Erfahrungen unter Geschwistern überlagern mit wachsendem Alter die elterliche Erziehungsintention, wobei diese „Entmachtung“ durchaus als Entlastung zu verstehen ist. So lernt z.B. der Zweijährige sich anzuziehen, ohne dass die Eltern es lange mit ihm üben müssen.

Ein so intimes Beziehungssystem wie eine Familie besitzt zwei Strukturmerkmale, die Ich- Orientierung und Wir-Orientierung genannt werden können. Zum Wir-Konzept des Kindes gehört der gemeinschaftliche Lebensprozess und die Bereitschaft gegenseitiger Befriedigung von Grundbedürfnissen. Die Entwicklung von Autonomie, als eine Entwicklungsaufgabe der mittleren Kindheit, ist demgegenüber an die Qualität der Ich-Orientierung gebunden. In funktional strukturierten Familien entwickelt sich somit ein Kind allmählich von den Eltern weg hin zu den Gleichaltrigen über die Zwischeninstanz Geschwisterbeziehung. Die Bindungsqualität unter Geschwistern ist somit ein wesentlicher Parameter der bezogenen Individuation. Eltern können immer wieder beobachten, dass sich die Kinder untereinander besser abstimmen, gewaltfreier agieren und zielorientierter handeln, wenn die Eltern nicht anwesend sind.
„Geschwister können einander auch in Krisenzeiten hilfreiche Dienste erweisen. (…) Geschwisterkinder bewältigen die Auswirkungen einer Scheidung ihrer Eltern leichter als Einzelkinder. Das Zusammenrücken der Geschwistergruppe stellt offenkundig in vielen Fällen eine Ressource dar, die es den einzelnen Kindern erleichtert, besser mit den Widrigkeiten belasteter Familienverhältnisse zu Rande zu kommen“ (Schneewind, 1999).

Unterschiede unter Geschwistern werden von Eltern immer wieder erlebt. Das beginnt schon beim Temperament, das zu unterschiedlichem Schlaf- und Schreiverhalten führt. Gleiches gilt für das Verhalten des Säuglings beim Stillen. Und da Eltern vorwiegend die Unterschiede wahrnehmen und beschreiben, verstärkt sich allein dadurch bereits früh ein Bewusstsein für die Unterschiedlichkeit.

Auch die Bindungsforschung vernachlässigt die Geschwisterbeziehung. Die Mutter-Kind-Bindung wird ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Dabei ist nicht nur kritisch anzumerken, dass die mentalen Repräsentationen und inneren Arbeitsmodelle von Bindung auch durch Geschwister geprägt sind, sondern es erschreckt die Antwortlosigkeit der Bindungsforscher auf eine angemessene Anpassung des Konzeptes der elterlichen Feinfühligkeit auf Mehrkindeltern. So wurde bisher nicht erforscht, welche Wirkungen sich entfalten, wenn ältere Kinder die Aufmerksamkeit der Mutter absorbieren, während der Säugling ein Bindungsangebot braucht. Eine so genannte prompte Reaktion auf den Säugling innerhalb von Sekunden ist dem größeren Kind nicht vermittelbar, es ist auch nicht als gute Erziehungsqualität zu werten, wenn das Baby immer vorgeht. Umso erstaunlicher ist die Beobachtung, dass Nachgeborene häufig wesentlich unkomplizierter wahrgenommen werden, obwohl sie keine exklusive Interaktion mit der Mutter erleben können. Die Interpretation dieses Phänomens sind die Bindungsforscher bisher schuldig geblieben. Zwar belegen Studien, dass die Qualität von Gleichaltrigenbeziehungen höher ist, wenn die Kleinkinder als sicher gebunden eingestuft worden waren. Wie das jedoch im Zusammenhang mit Geschwisterbeziehung zu bewerten ist, wird selbst im Konzept der sozialen Kompetenz nirgends abgebildet.
Die Fülle an Beziehungsangeboten in großen Familien ist eine Ressource, die in Bezug auf das Resilienzkonzept sinnvoll beschrieben werden kann. Ein Individuum wird immer in sozialem Kontext sozialisiert, dessen Realität im einzelnen Familienmitglied als inneres Bild von Familie erscheint. So führen die individuellen Dispositionen ein Kind dazu, für sich günstige Umwelten zu wählen. In diesem Sinne ist Resilienz keine Eigenschaft, sondern eine spezifische Weise von Handlung und Orientierung, die insbesondere bei Übergängen im individuellen Lebenszyklus und im Familienzyklus bedeutsam wird. Damit wird sie zur Bedingung der Möglichkeit der Bewältigung nichtnormativer Krisen. Mit nichtnormativen Krisen sind Ereignisse gemeint, die nicht erwartbar sind. Eine normative Krise ist z.B. die Geburt, der plötzliche Tod eines Familienmitgliedes jedoch ist nichtnormativ. Wer lernen konnte, welche Bewältigungsstrategie die Übergangsphase nach der Geburt eines Geschwisterkindes erleichtert, entwickelt eine höhere Frustrationstoleranz bei unerwartet eintreffenden Ereignissen, die Wandel erfordern. So ist z.B. die Eingewöhnung im Kindergarten bei Kindern, die mit Geschwistern aufwachsen, erleichtert. Die zentrale Bedeutung familiärer Beziehungen als Quelle für positive soziale Anpassung wird hier deutlich.

Als gleichberechtigter Teil des Interaktionsgeschehens beeinflusst immer auch das Kind das Verhalten der Mutter. Das Kind erzeugt mit seinen inneren Erwartungen die ihm bekannte soziale Realität. Wenn man in diesem Sinne die Sozialisationseffekte zweiter Ordnung hinzunimmt und darunter die indirekte Wirkung von nicht unmittelbar an dyadischen Interaktionen beteiligten Familienmitgliedern versteht, dann muss man die wechselseitige Beeinflussung von unterschiedlichen Beziehungen in der Familie respektieren. Jedes Kind erlebt in den gleichen Entwicklungsphasen unterschiedliche Bedingungen. Es macht einen bedeutsamen Unterschied, ob die Mutter den Erstgeborenen stillt, die Zweitgeborene stillt oder ein weiterer Nachgeborener gestillt wird. Einerseits kann die Mutter auf ein wachsendes Erfahrungswissen zugreifen, andererseits macht es einen qualitativen Unterschied, ob ältere Kinder anwesend sind. Jedes Kind erlebt demzufolge eine andere Mutter in der prinzipiell vergleichbaren Situation.

Ergänzend kommt nun noch die innerfamiliäre Dynamik hinzu, die Geschwister um die Liebe und Wertschätzung ihrer Eltern wetteifern lässt. Die so genannte „Nischenbildung“ bei Geschwistern führt dazu, dass die jeweils Nachgeborenen sich eine eigene, neue und noch nicht dagewesene Fähigkeit suchen, die dann eine besondere Anerkennung bei den Eltern erzeugt. Damit werden Persönlichkeitsmerkmale verstärkt, die eher zu Unterscheidbarkeit unter Geschwistern führen. Frank Sulloway hat versucht, diese Unterschiedlichkeit historisch zu recherchieren und damit zu systematisieren. Auch wenn seine sorgfältig entwickelten Thesen umstritten geblieben sind, so gibt es doch Hinweise darauf, dass Erstgeborene sich eher leistungsorientiert und konservativ zeigen, Letztgeborene wiederum die stärkste ‚Offenheit für Erfahrung’ entwickeln, eben gerade weil sie auf ein Familiensystem treffen, in dem die Plätze verteilt sind und die Rollenzuschreibungen schon besetzt zu sein scheinen. Man könnte sogar behaupten, dass Talente, die verborgen geblieben wären, sich nur deshalb entwickeln, weil Nachgeborene sich besonders kreativ zeigen müssen, um unbesetzte Betätigungsfelder zu finden.

Ergänzend liegen mir zwei illustrierende Beispiele am Herzen, mit denen die Unersetzbarkeit der Erfahrungen unter Geschwistern belegt wird. Beispiel (1): Die hingebungsvolle und mühsame Pflege eines fiebernden jüngeren Bruders kann nur in Familie erlebt werden. Kein befreundetes Kind wird Tag und Nacht bei einem kranken Altergenossen verbringen, schon wegen der zu befürchtenden Ansteckungsgefahr. Beispiel (2): Nur unter gegengeschlechtlichen Geschwistern kann, natürlich unter den Prämissen der Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit und ohne Macht- und Gewaltausübung, in der Kindheit eine vorurteilsfreie Erforschung der Genitalien zugelassen werden, es gibt keinen anderen Ort, der soviel naive Nähe zulässt. Das belegt auch die Missbrauchshysterie, die sich in Kindergärten entfaltet, wenn dort Doktorspiele beobachtet werden.

Eltern in Mehrkindfamilien
Noch in den 1950er und 1960er Jahren des vorigen Jahrhunderts galt es als individuelles Entwicklungsrisiko, ohne Geschwister aufzuwachsen. Das Einzelkind wird als „pathologischer Fall“ beschrieben. „Das Vorhandensein von Geschwistern wird von allen Ratgebern als eine besonders wichtige Bedingung für die Entwicklung des Kindes betont, die durch die Leistungen der Erwachsenen nicht zu kompensieren ist.“ „Am besten lernen Kinder Teilen, Einordnen und Verzicht im Kreis der Geschwister, da sie hier frühzeitig wie auch kontinuierlich Rücksicht nehmen müssen“ (Hungerland 2002). Auch wenn es nicht darum gehen kann, diese Warnungen zu erneuern, ist es doch erstaunlich, dass sowohl das Aufwachsen mit Geschwistern als auch das Dasein als Einzelkind selten thematisiert werden. Insbesondere für die Eltern wird in Erziehungsratgebern die Geburt eines Geschwisterkindes eher als Risiko und besondere Herausforderung, nie als wunderbare Bereicherung thematisiert.

Natürlich darf man die Ressourcen kinderreicher Familien nicht idealisieren, vor allem die gesellschaftliche Realität wirft Eltern immer wieder zurück in ihrer positiven Selbstwahrnehmung. Gerade was die Selbstwirksamkeitserfahrung betrifft, erleben insbesondere Mütter oft auch eine Entwertung. So berichtete mir eine Mutter von vier kleinen Kindern von einer Erfahrung. Ihr wurde empfohlen, ihrem Vorschulkind eine logopädische Behandlung zukommen zu lassen. In einer kleinen Stadt lebend, sah sie sich außerstande, mit ihren beiden jüngeren Kindern regelmäßig die Reise in die nächste Großstadt zu organisieren. Dadurch fühlte sie sich als schlechte Mutter.

Überhaupt ist die Euphorie der individuellen Förderung, die derzeit überall wahrnehmbar ist, auch eine Last für Mehrkindeltern, weil ihr Engagement an dem der Ein- bis Zweikindfamilie gemessen wird. Das beginnt im Freizeitbereich (wo es auch oft am verfügbaren Einkommen hapert) und reicht bis in die Hausaufgabenbetreuung hinein, wo Eltern oft zugemutet wird, ganze von den Kindern nicht verstandene Stoffgebiete zu Hause zu repetieren. Der Maßstab individueller Förderung richtet sich an der engagierten Normalfamilie aus. Dazu trägt auch eine Debatte bei, die Vernachlässigung sehr eng fasst und schon den an mehreren Tagen getragenen Pullover als Indiz für mangelnde Sorgsamkeit begreift (Bericht einer Mutter über Rückmeldung aus dem Kindergarten).

Ein nächstes Baby kommt
„Das Hinzukommen weiterer Kinder hat Auswirkungen auf die Paarbeziehung, auf die Ausgestaltung der Eltern-Kind-Beziehung und auf das Familienklima insgesamt“ (Schneewind 1999). Noch immer dominiert hierbei die Theorie vom „Entthronungstrauma“, das Adler postulierte, die Erwartungshaltung vor der Geburt eines weiteren Kindes. Elternratgeber zu Schwangerschaft und Geburt erwähnen ältere Geschwister im Allgemeinen nur am Rand und dann vorwiegend unter zwei Gesichtspunkten: einerseits als eifersüchtige, regressiv reagierende Kinder oder als Belastungsfaktoren während der Mutterschutz- und Wochenbettzeit für die Mütter.

Aber auch in der populärwissenschaftlichen Literatur zur allgemeinen Erziehung wird der entscheidende Einfluss von Geschwistern nahezu ausgeblendet. Ich lege demgegenüber meinen Schwerpunkt auf eine ganz andere Sichtweise, die sich in einer wunderbaren Seite des Beginns einer Geschwisterbeziehung zeigt.

Geschwisterliebe entsteht nach der Geburt aus einer tiefen inneren Verbundenheit, die aus der Zugehörigkeit zum gleichen Familiensystem erwächst. Der Vorläufer – die vorgeburtliche Beziehung aus der Schwangerschaft – wird konkret. Ist es zunächst die Identifizierung mit der Liebe der Mutter zu ihrem ungeborenen Kind, so reift eine tiefgreifende Gefühlsveränderungen durch die emotionale Neuorientierung im erweiterten Familiensystem. Die Geburt wird lange erwartet und die vorgeburtlichen Bindungen nehmen jetzt Konturen an. Legt man dabei die Aufmerksamkeit auf die ursprüngliche Natur des Menschen, in der Nähe und Verbundenheit durch innere Verwandtschaft generiert wird, dann wird deutlich, dass ein reines Konkurrenzverhalten auch evolutionsbiologisch sinnlos wäre. Sippen und Menschengruppen hätten nicht überlebt, gäbe es da nicht eine beschützend wirkende Empathie, die impuls- und reizgesteuertes Verhalten untereinander bedingt. Als Indiz dafür kann die angeborene Reaktion auf das so genannte Kindchenschema gelten. Bei vielen Säugetieren kann man dieses Welpenschutz-Phänomen beobachten. Das Verhalten gegenüber Babys ist noch heute instinktgesteuert. Menschen jeden Alters und Geschlechts reagieren auf Säuglingsgeschrei mit erhöhtem Puls und Stresssymptomen, jeder verändert seine Stimme bei der direkten Ansprache von Babys auf eine dem heranreifenden Ohr angemessenere erhöhte Stimmlage. „Wenn man Kleinkinder im Kontakt mit Säuglingen beobachtet, finden sich viele Ähnlichkeiten zu ihrem Umgang mit Tieren“ (Petri 2006).

Das meint auf gewisse Weise primitiv bzw. animalisch, eben noch ohne kulturelle Verkrümmung. Eine mögliche Erklärung für die Faszination der älteren Geschwister steckt in der Freiheit und Ungehemmtheit, die der Säugling bei Durchsetzung seiner Bedürfnisse an den Tag legt. „Für ein Kind, das die ersten Sporen der Kultur aufgedrückt bekommen hat, wird das Baby zum Spiegel seiner zum Teil bereits aufgegebenen primären Natur“ (Petri 2006). Das Baby ist „unerzogen“. Das Nachahmen des Säuglingsverhaltens muss somit nicht als Regression, nicht als pathologischer Rückfall gewertet werden, sondern ist Indiz für eine primäre Naturverbundenheit unter Geschwistern. Die Liebe unter Geschwistern entsteht nicht in erster Linie aus der Identifikation mit der Mutter durch Nachahmung, sondern ist eine einzigartige Wiederbegegnung des Kindes mit seiner ursprünglichen Natur.

Selbstverständlich wird immer auch eine Ambivalenz des älteren Kindes erlebbar sein, diese ist jedoch als normaler Anpassungsprozess zu verstehen, denn die Bewältigung jeder Krise erfordert eine Erweiterung des Verhaltensrepertoires. Erfolgreiche Strategien werden dabei verstärkt, weniger erfolgreiche werden ausgeblendet und schließlich vergessen. Umso relevanter wird das Reaktionsschema der Eltern auf ablehnendes Verhalten gegenüber dem Baby. Wird es von den Eltern als normaler Impuls verstanden, dann kann Nähe und gegenseitige Akzeptanz wachsen. So sollten dem älteren Kind auch negative Gefühle „erlaubt“ werden. Im FamGeb®-Konzept, einem Kurskonzept zur Familiengeburtsvorbereitung, wird auf diese erwartbare Dynamik in altershomogenen Gruppen vorbereitet. „Du darfst ‚sauer’ sein, wenn das Baby bevorzugt wird.“ „Nimm dein Kind ernst, wenn es negative Gefühle hat und rede sie nicht klein.“

Solidarität unter Verwandten
Abschließend möchte ich eine gesellschaftliche Dimension umreißen, die in der gegenwärtigen Debatte um niedrige Geburtenraten keine Rolle spielt: es gibt zu wenige Mehrkindfamilien. Sowohl die ernüchternden Erfahrungen im Leben mit dem ersten Kind als auch das erhöhte Alter der Erstparität tragen zu einem allgemeinen Geschwistermangel bei. „Aber ohne eine affektiv-rituelle Basis (…) ist der Aufbau von Solidargemeinschaften kaum möglich“ (Burkhart 2006). Familie und dabei insbesondere die heute übliche multilokale Mehrgenerationenfamilie findet ihre Hauptfunktion in der sozialen Reproduktion, das meint „die Versorgung der Familienmitglieder mit affektiven Bindungen, Solidarität, Intimität und emotionaler Sicherheit in einem basalen Sinn“ (Burkhart 2006). Müssen wir in Zukunft darauf verzichten? Wird solidarisches Beziehungswissen verloren gehen? Wenn man Sulloways These von der Offenheit für Erfahrung, die v.a. die nachgeborenen Geschwister entwickeln, hinzunimmt, dann steht uns mit der geschwisterarmen Gesellschaft auch eine Beziehungsverarmung bevor. Insbesondere der Mangel an innovativem Potential der Spätergeborenen könnte zu einer konservativ geprägten Erstgeborenen- und Einzelkindkultur führen. Somit ist meine Argumentation für ein Aufwachsen in Mehrkindfamilien auch als ein Plädoyer für einen flexiblen, toleranten und entspannteren Umgang mit Kindern zu verstehen, weil nur so eine solidarische und moderne Gemeinschaft überleben kann.

Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.

Inés Brock ist Erziehungswissenschaftlerin und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin in Halle (Saale).

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