fK 4/08 Schäfer

Zeitschrift frühe Kindheit – Archiv

Kinder sind von Anfang an notwendig kreativ

von Gerd E. Schäfer

Die Kinderforschung der letzten zwei Jahrzehnte hat das Bild eines aktiven, sich aus eigenen Mitteln bildenden Kindes herausgearbeitet. So gesehen eignet sich bereits das Neugeborene seine Um- und Mitwelt durch die Möglichkeiten an, die ihm mit der Geburt zur Verfügung stehen. Erste Erfahrungen differenzieren die Ausgangspunkte seiner Weltwahrnehmung und -verarbeitung. Daraus entwickeln sich verschiedene Formen des Welt- und Selbstverständnisses, welche die Grundlage des kindlichen Bildungsprozesses ausmachen. Dabei benutzt das Kind die Mittel, die ihm seine Umwelt vorgibt, wie ein Bastler die Materialien in seinem Sinn verwandelt, die ihm zur Hand sind. Selbstbildung erfolgt daher im Rahmen der Möglichkeiten, die dem Kind von außen zugetragen werden.

Dieses Bild des aktiven, sich im Rahmen seiner Lebensbedingungen selbst entwickelnden Kindes setzt voraus, das Kind von Anfang an als ein auswählendes und damit seine Welt- und Selbsterfahrung (be-)deutendes und gestaltendes Individuum zu betrachten – auch wenn diese (Be-)Deutungen nicht im Sinne eines begründenden Denkprozesses verstanden werden können. So gesehen bietet beispielsweise ein strenger Vierstunden-Fütterungsrhythmus dem Säugling eine andere Grundlage für sein erstes Bild von der Welt, als die gemeinsame Suche von Mutter und Kind nach einem Rhythmus, der für beide verträglich ist.

Anders als für den Erwachsenen, ist die Welt dem Neugeborenen erst einmal neu. Es ist gänzlich damit beschäftigt, die Welt, die es umgibt, wahrzunehmen, Muster in dieser Welt zu entdecken, die sich wiederholen, die es wieder erkennen und auf die es sich verlassen kann. Weil man ihm die Welt noch nicht erklären kann, ist es darauf angewiesen, aus seinen sinnlichen Erfahrungen zu erschließen, was wichtig, bedeutsam und für seine Entwicklung förderlich ist. Das heranwachsende Kleinkind erschließt sich auf diese Weise Schritt für Schritt neue Erfahrungsbereiche. Es sollte uns daher nicht verwundern, wenn kleine Kinder viel mehr mit Situationen zu tun haben, die unerschlossen, nicht vorher gedacht sind, die es zu entdecken und zu erschließen gilt, als das im späteren Leben je wieder der Fall sein wird.

Die sinnliche Wahrnehmung und das, was sich daraus klären lässt, ist also das Eingangstor der Welterfahrung, sich mit der Welt vertraut zu machen, die erste Bildungsaufgabe des Kindes. Es ist eine wirkliche Bildungsaufgabe, denn dieses Wahrnehmen muss erst entwickelt und differenziert, in mancher Hinsicht auch erst gelernt werden. Nur das, was das Kind wahrnimmt, kann es denken. Dass das Wahrnehmen mit allen menschlichen Möglichkeiten erst entwickelt, teilweise auch erst gelernt, dass es differenziert und in Denken verwandelt werden muss, ist erst in den letzten Jahrzehnten in der Kognitionsforschung – u. a. in der Hirnforschung – deutlich geworden. Danach besteht die erste und wichtigste Denkleistung des kleinen Kindes darin, die Welt in verstehbaren Mustern wahrzunehmen, sie sinnlich zu begreifen und mit ihren Formen umzugehen. Kinder, die in eigener Aktivität ihre Welt zu erfahren trachten, sind daher vorwiegend damit beschäftigt, sie sinnlich zu erfassen, sie nachzuahmen, mit ihren Mustern zu spielen, sie fantasierend umzuformen und neu zu gestalten – Tätigkeiten, die als ästhetische Tätigkeiten angesehen werden können. Grundlage und Ausgangspunkt dieser ästhetischen Welterfahrung ist die Bildung der sinnlichen Tätigkeit. Diese umfasst aus meiner Sicht drei Bereiche: Bildung der Fernsinne; Bildung der Leiberfahrung; Bildung der Gefühle.

Bildung der Fernsinne
Solange das Kind noch nicht Nutzen aus Medien ziehen kann, ist es allein die Wahrnehmung und Deutung seiner konkreten Lebenserfahrungen, die den Ausgangspunkt seines persönlichen Wachstums bildet. Man wird also den kindlichen Wahrnehmungsprozessen Aufmerksamkeit schenken müssen.

Zur Wahrnehmung gibt es nun eine reiche Forschungsliteratur aus Kognitionsforschung, Neurobiologie und verwandten Forschungszweigen, deren Grundtenor sich etwa so zusammenfassen lässt: Wahrnehmen ist ein breit angelegter, innerer Verarbeitungsprozess, an dem die Sinnesorgane, der Körper, Gefühle, Denken und Erinnerung beteiligt sind. Es gibt kein Wahrnehmen als einfaches Abbilden der Außenwelt. Wahrnehmen ist Wählen, handelndes Strukturieren, Bewerten, Erinnern und sachliches Denken in einem. Deshalb muss man es bereits als eine Form der inneren Verarbeitung, als eine Form des Denkens ansehen (wenn man Denken nicht nur auf rationales Denken beschränkt).

Dieser innere Prozess der Wahrnehmungsverarbeitung scheint – nach den Zeugnissen der Neurobiologie – so angelegt zu sein, dass er nicht unbedingt auf präzise Informationen über die wahrgenommene Wirklichkeit angewiesen ist. Vielmehr sind Lebenssituationen vielfältig und vieldeutig. Darauf scheint die Verarbeitung unseres Gehirns eingestellt: Es filtert sich die Informationen, die es braucht, aus verzweigten Bedeutungszusammenhängen heraus. So werden Unklarheiten in den konkreten Wahrnehmungserfahrungen z. B. dadurch präzisiert, dass Wahrnehmung in der Alltagswirklichkeit vielsinnlich erfolgt: Es werden eben nicht nur visuelle, sondern auch akustische, körperliche, atmosphärische oder gefühlsmäßige Informationen gleichzeitig aufgenommen und verarbeitet, so dass sie sich gegenseitig verbessern können. Dadurch werden die benötigten Informationen verlässlicher. Andererseits strukturieren Erinnerungen aus vorausgegangenen Erfahrungen die augenblicklichen mit und ergänzen möglicherweise Lücken, manchmal zum Vorteil, manchmal allerdings auch zum Nachteil der aktuellen Wahrnehmung (eine Erinnerung kann z. B. die aktuellen möglichen Informationen überlagern oder einschränken).

Schließlich wissen wir aus Untersuchungen über frühe Sinneserfahrungen (vornehmlich der visuellen und der taktilen), dass die frühe Entwicklung von Wahrnehmungsfähigkeiten auch auf äußere Anregung angewiesen ist. Ohne solche frühe Differenzierung von Wahrnehmungserfahrungen bleibt Wahrnehmung ungenau im Hinblick auf die spezifisch gegebenen Umweltbedingungen. Wahrnehmen muss also – im Feinbereich – in einem gewissen Maß gelernt werden. Hohe Differenzierungen von Wahrnehmungserfahrungen – z. B. in künstlerischen Arbeitsbereichen – verlangen sogar eine lebenslange differenzierende Übung und Ausbildung.

Wir müssen dem Wahrnehmen also mindestens ebensoviel Aufmerksamkeit schenken wie dem Nach-Denken. Ein erster Schluss aus solchen Überlegungen: Kinder brauchen vielfältige und vielverzweigte sinnliche Erfahrungsmöglichkeiten. Ein isoliertes Üben von Einzelfunktionen berücksichtigt nicht, dass sich die verschiedenen sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten ergänzen: Was man mit mehreren Sinnen wahrgenommen hat, kennt man genauer als das, was man nur mit einem Sinn erfasst hat – dies ist z. B. ein Teil des Problems von Erfahrungen, die nur durch Medien vermittelt werden. Es fördert auch nicht das komplexe Zusammenspiel, das notwendig ist, damit ein Mensch aus seinen vielschichtigen Alltagsbedingungen das herauslesen kann, was er zur Wahrnehmung und Deutung seines Welt- und Selbsterlebens benötigt.

Bildung der Leiberfahrung
Die Entwicklung somatosensorischer Reaktionen beim Fötus ist in der 14.-15. Schwangerschaftswoche abgeschlossen. Zunächst sind es die Berührungsempfindungen der Haut, dann die des Gleichgewichtssinnes und die der propriozeptiven (die Körperbefindlichkeit betreffenden) Wahrnehmung, die sich ausbilden.

Man kann vermuten, dass die Bedeutungen eines Sinnesempfindens für die Entwicklung des Subjekts umso größer sind, je eher sich diese Sinnesfähigkeiten in der Ontogenese herausbilden. So gesehen scheinen Berührung, Raumlage und die Wahrnehmung der eigenen Körperorgane eine Ausgangsbasis für die Entwicklung der weiteren Sinneserfahrungen zu bilden. Vermutlich können deshalb spätere Entwicklungen anderer Sinnesbereiche von Strukturierungen durch die vorausgegangenen somatosensorischen Basiserfahrungen profitieren. Dies würde die zahlreichen aber unspezifischen Befunde bestätigen, dass Förderungen des somatosensorischen Bereichs sich günstig auf die gesamte frühe Entwicklung auswirken. Insbesondere die Integration der verschiedenen Sinnesbereiche dürfte auf der Basis von Körpererfahrungen vorangetrieben werden.

Die Wahrnehmung über die Körpersinne, die Tastempfindungen der Haut, die Wahrnehmungen der Raumlage, das Wohl- oder Missbefinden des eigenen körperlichen Zustandes und vermutlich auch die dazu gehörigen emotionalen Empfindungen, sind mit der Geburt bereits so weit entwickelt und mit ersten Erfahrungen gesättigt, dass sich das Neugeborene an ihnen einigermaßen verlässlich orientieren kann. So macht das kleine Kind seine ersten Welterfahrungen zunächst mit dem Mund. Über den Mund gehen die ersten aktiven Suchbewegungen des Säuglings, um etwas über die Welt zu erfahren. Und diese Welt ist eine Welt der Nahrung und was damit zusammenhängt. Ein paar Wochen später, wenn es satt und zufrieden ist, wird es die Augen und Ohren öffnen, um eine Weile mit hoher Aufmerksamkeit das zu verfolgen, was über diese Sinne einströmt. Doch ist es diesen Reizen noch mehr ausgesetzt, als dass es ihnen nachgehen könnte. Was aber mit seinem Körper passiert, im Badewasser, auf dem Wickeltisch, in den Armen der Mutter, an der Brust usw., das ruft seine unmittelbare körperliche Antwort hervor. Es wendet sich zu oder ab; es lässt etwas mit sich geschehen oder sträubt sich mit der ganzen Kraft seines Körpers. Und wenn der Widerstand nichts nützt, wird es schreien, so schreien, dass Erwachsene es kaum aushalten können, darauf nicht zu reagieren.

Dann wird es nach der Welt fassen, die ihm nahe kommt, später krabbeln, um etwas zu erreichen. Und immer wieder werden die Dinge in den Mund genommen und gekostet. Spiele entstehen zwischen Erwachsenen und dem Kind: Man hält ihm etwas vor die Nase, es greift, man zieht daran, es folgt, es lässt los, man hält es ein Stück weiter weg, es streckt sich, man kommt ihm entgegen, bis es zupacken kann usw. Die Welt, die das kleine Kind erfährt, ist eine sinnliche Welt, vor allem die eines Körpers in Bewegung. Sein erstes Weltbild ist ein sinnlich-körpermotorisches, ein sensomotorisches, wie es Piaget beschrieben hat. Sensomotorische Empfindungen bilden die Grundlage einer Sprache des Leibes. Sie strukturiert die grundlegenden primären Erfahrungen vor der Geburt und in der ersten Zeit nach der Geburt des Kindes. Doch die Sprache des Leibes endet nicht in der Frühen Kindheit.

Später, wenn Kinder beginnen, die Wohnung zu verlassen, um sich fernere Umwelten anzueignen, zeigt es sich, dass diese Verbindung von Körperbewegung und emotionaler Bedeutung für die Wahrnehmung der Umwelt fortbesteht. Je nach Alter, Aktionsradius und subjektivem Interesse bekommen „gleiche“ Umwelten verschiedene Bedeutungen und werden auch unterschiedlich wahrgenommen.
Was für den Erwachsenen ein Kaufhaus mit seinen angehäuften Warenangeboten ist, zeigt sich für den Touristen u. U. als ein interessantes Feld, um die Menschen eines Landes im Spiegel ihrer Konsumgewohnheiten zu erfassen; ist für den Schulanfänger ein abenteuerliches Ziel, das er nur mit einer Kette öffentlicher Verkehrsmittel erreichen kann; gibt dem Vorschulkind Gelegenheit zum Untersuchen von öffentlichen Gebäuden, zum Verstecken, zu motorischen Abenteuern im Fahrstuhl und auf den Rolltreppen. Die Umwelten „verändern“ sich, je nach dem Standpunkt, von dem aus sie gesehen werden.

Emotionale Wahrnehmung und die Bildung der Gefühle
Warum emotionale Wahrnehmung? Emotionen werden in diesem Zusammenhang als eine Art der Wahrnehmung betrachtet und nicht als Begleiterscheinungen von menschlichen Handlungen oder deren Antrieb. Gefühle geben uns Auskunft über Beziehungen und signalisieren uns deren spezifische Qualität. Liebe ist genauso eine vielfältige Beziehungsqualität wie Hass. Unsicherheit, Spannung, Unbehagen, Wehmut, Trauer, Freude, Begeisterung usw. zeigen uns, wie wir zu einer Sache oder Person stehen. Doch sie zeigen uns nicht nur die Qualität dieser Beziehungen, sondern gestalten sie auch und geben ihnen eine individuelle Bedeutung vor dem Hintergrund der Geschichte der Beziehungen, die ein Individuum bis zur Gegenwart durchlaufen hat. Gefühle haben daher eine unverzichtbare Wahrnehmungs- und Orientierungsfunktion.

Zweierlei Gefühle: Um die Bedeutung der Emotionen für das „Denken der Wirklichkeitserfahrungen“ auszuloten, scheint es sinnvoll, mit Damasio (1994, 183 ff) zwischen primären und sekundären Gefühlen zu unterscheiden. Unter primären Gefühlen sind Gefühle zu verstehen, wie sie durch unsere biologische Ausstattung mitgegeben sind. Sie werden durch bestimmte Reiz- bzw. Schlüsselmerkmale in der Welt – also durch eine Beziehungserfahrung – im Körper ausgelöst und lassen eine präorganisierte Reaktion ablaufen, z. B. Kampf oder Flucht. Auch ein Säugling reagiert reflexartig mit einer Schreckreaktion, wenn er körperlich nicht sicher gehalten wird und zu fallen droht, Zumindest für den Menschen nimmt Damasio jedoch eine weitere Entwicklungsstufe der Gefühle an: Eine Umgestaltung emotionaler Reaktionsmöglichkeiten über Erfahrung und Bewusstsein (= sekundäre Gefühle). Man gewinnt damit „eine Flexibilität der Reaktionsfähigkeit, die auf der besonderen Geschichte Ihrer Interaktionen mit der Umwelt beruht“ (a. a. O. S. 186).

Gefühle müssen gebildet werden: Diese Unterteilung in primäre und sekundäre Gefühle unterstellt also eine mögliche Entwicklung der Gefühle: Primäre Gefühle sind noch nicht in eine differenzierte, psychische Organisation eingebettet und in ihrer Äußerungsform roh und „erbarmungslos“. Sie werden in sekundäre Gefühle verwandelt, indem sie durch die Beziehungserfahrungen, die ein Kind zu Personen zunächst, später auch zu Dingen erlebt, modifiziert werden. Ohne ausreichende und zureichende Beziehungserfahrungen aus zwischenmenschlichen und sachlichen Beziehungen bleiben die Gefühle aber grob und unentwickelt.

Indem Gefühle die bisherigen Beziehungserfahrungen des Kindes in den augenblicklichen Umgang mit Dingen oder Menschen einbringen, können die neuen Situationen und Gegebenheiten im Licht der alten Erfahrungen emotional differenziert bewertet werden (Damasio 1994, Goleman 1995, Greenspan 1996, Stemme 1997). Wenn Gefühle grob und ungebildet bleiben, taugen sie mit fortschreitendem Alter immer weniger dazu, in den zunehmend komplexer werdenden und vom Verstand nicht überschaubaren Situationen eine solche hilfreiche Orientierung zu bieten. Sie stören dann nur noch und müssen beherrscht, d. h. ferngehalten werden. Eine Grundbildung der Gefühle muss daher bevorzugtes Anliegen aller Früherziehung – ob in der Familie oder in Institutionen – sein. Sie setzt ein ausreichendes Maß an geeigneten Beziehungserfahrungen voraus.

Bildung der Vorstellungswelt
Eines Tages, gegen Ende des ersten Lebensjahres, beginnt das kleine Kind zu zögern, wenn sich etwas Neues zeigt. Es stutzt, blickt ins Gesicht seiner Mutter, wie wenn es fragen wollte, soll ich oder soll ich nicht zugreifen. Und wenn sie freundlich zunickt, wird es vielleicht zupacken. Doch macht sie ein abweisendes oder entrüstetes Gesicht, wird es dies vielleicht sein lassen, Was so selbstverständlich erscheint, weist aber auf einen Schritt im Denken hin, der das Kind unabhängiger im Handeln macht. Bisher hat es wahrgenommen und ohne Aufschub darauf reagiert. Nun zeigt es an, dass etwas in seinem Kopf passiert, dass nicht mehr unmittelbar gehandelt wird. Es muss so etwas wie eine Vorstellung von dem geben, was sich da abspielt, und diese Vorstellung ist vom Handeln unabhängig. Das Kind beginnt mit Hilfe seiner Vorstellungen zu denken. In diesem Sinne ist sein Denken ein vorgestelltes Handeln. Natürlich hat es im Laufe seines ersten Lebensjahres Erinnerungen gebildet, Erinnerungen an all das, was es erfahren und erlebt hat. Diese Erinnerungen sind zu Mustern geronnen, die man wieder erkennen und schließlich auch erwarten kann. Und nun können Vorstellungen und Erinnerungen miteinander verglichen werden.

Bildung der Phantasie
Wenn Kinder dann im zweiten Lebensjahr anfangen, ihre Welterfahrungen in kleinen Rollenspielen nachzuvollziehen und umzuphantasieren, dann können wir davon ausgehen, dass sie nicht nur Vorstellungen bilden, nicht nur bekannte Erfahrungsmuster erwarten, sondern das, was sie bereits kennen, zu neuen Handlungs- und Vorstellungsbildern zusammensetzen.

Kinder denken in Bildern. Wahrnehmungen rufen Bilder hervor. Bilder fügen sich zu Geschichten. Wahrgenommenes und Imagination greifen ineinander. Das ist keine Willkür, sondern folgerichtig: Im Denken des Kindes geht es noch nicht um den Gegenstand als unabhängiges Objekt, sondern um die Sache in ihrer Beziehung zum Kind. Deshalb ist die Wahrnehmung des Kindes doppelbödig: Es sieht die Wirklichkeit ein wenig so, wie sie ist, und es sieht sie ein wenig so, wie sie ihm bedeutungsvoll erscheinen will. Es nimmt sie also nicht nur als etwas Außenstehendes wahr, sondern auch als etwas, das Gefühle, Gedanken, Vorstellungen in ihm anstößt, die über die Wahrnehmung selbst hinausgehen. Diese Doppelbödigkeit artikuliert sich in seinen Phantasien: Sie sind Wahrnehmungen der Wirklichkeit und Ausdruck der persönlichen Bedeutung dieser Wahrnehmung zugleich.

Aus Vorstellung (Imagination) wird Phantasie (Umdeutung der Wirklichkeit nach inneren Bildern). Trennen wir die Phantasien von den Wahrnehmungen der Wirklichkeit, weil wir glauben, eine objektive Weltsicht der Kinder anbahnen und unterstützen zu müssen, dann nehmen wir den Dingen ihre persönlichen Bedeutungshintergründe. Doch Kinder müssen die Wirklichkeit erst einmal in ihrer subjektiven Bedeutsamkeit erfahren, bevor sie – von dieser subjektiven Dimension teilweise absehend – die Bedeutung der Wirklichkeit als Wirklichkeit erfassen können und wollen. Wirklichkeit ist zunächst nicht als solche für das Kind wichtig, sondern als ein Element, das in einer engen Beziehung zu seinem subjektiven Leben und Erleben steht. Bevor z. B. Naturerfahrung nicht einen persönlichen, emotional bedeutsamen Wert darstellt, ist es nicht mehr als eine abstrakte, moralische Übung, über Umweltschutz zu reden, die allenfalls zu Lippenbekenntnissen führt. Umwelterziehung setzt eine starke, gefühlsmäßige Beziehung zur natürlichen Umwelt voraus. Deren Grundlage sind vielfältige persönliche Erfahrungen und Erlebnisse in und mit Natur. Sie wird sicherlich nicht durch ökologisches Wissen und moralische Appelle hervorgerufen. Kinder suchen daher Gelegenheit, ihre Welt- und Selbsterfahrungen mit ihren eigenen Fantasien zu verbinden, sie in erlebbare Szenen zu betten, sie in persönlichen Träumen auszuweiten und mit diesen Erfahrungen zu spielen. Spielen, Fantasieren und Gestalten sind die Prozesse, in denen dieses Potential der persönlichen Bedeutungen der Dinge ausgebreitet, ausprobiert und ausgearbeitet wird. Legt man Kinder frühzeitig auf ein so genanntes realistisches Bild von der Wirklichkeit fest, versagt man ihnen, ihren persönlichen Sinn mit dieser Wirklichkeit zu verknüpfen, von dem aus sie dann zu einer Ordnung der Dinge vordringen könnten. So wie die Zeichnungen kleiner Kinder kein Abbild der Wirklichkeit, sondern Protokoll einer persönlichen Erfahrung mit einem Stück Realität sind, so zeugen kindliche Wahrnehmungen der Wirklichkeit von einem subjektiven Erfahrungsprozess, der sich u. a. in den imaginativen und phantasievollen Anreicherungen ihrer Wirklichkeitsvorstellungen ausdrückt.

Deshalb brauchen Kinder aber auch eine umgebende häusliche, urbane und natürliche Wirklichkeit, die ihren Phantasien und Vorstellungen Nahrung gibt. Das scheint mir der tiefere Sinn einer kinderfreundlichen Umwelt zu sein. Phantasie, die aus der lebendigen Erfahrung von Wirklichkeit hervorgeht, bereichert Wirklichkeitserfahrung. Wo Imagination und Phantasie nicht an Wirklichkeitserfahrungen anknüpfen können, laufen sie Gefahr zur Ersatz- und Fluchtwelt zu werden.

Spielen und Gestalten
Bevor das Kind spielen kann, ahmt es nach. Nachahmung ist ein wichtiger Baustein der Kommunikation. Mit Hilfe der Imitation weitet das Kind seine Möglichkeiten ständig aus. Die so gespeicherten Erfahrungsmuster setzt es allmählich in neuer und individueller Weise zusammen. Der Wechsel zwischen Nachahmung und Veränderung ermöglicht dem Kind, aus immer wieder veränderten Blickwinkeln auf das zu sehen, was es erfahren hat. Über die Imitation versetzt es sich in andere hinein und verlebendigt deren Verhaltensmuster und die daran geknüpften Gefühle in sich selbst. Damit beginnt seine Fähigkeit zur Einfühlung. Indem das Kind im Spiel eine Zeitlang ein anderer als es selbst sein kann, gewinnt es Distanz zu sich selbst und vermag sich selbst auch von außen wahrzunehmen.

Spielen ist ein elementarer, selbstregulierter Bildungsprozess: Zunächst spielen Kinder etwas, was sie kennen. Insofern besteht ihr Spiel aus Bildern, die aus der Wirklichkeit kommen. Zunehmend behandeln sie diese Wirklichkeit so, wie sie ihren Wünschen entspricht. Sie simulieren die Wirklichkeit und tun so als ob. Spiel bildet also einen Zwischenbereich zwischen äußerer und innerer Wirklichkeit: Indem sie sich im Spiel der Wirklichkeit hingeben, erfahren sie zum einen diese Wirklichkeit, ohne ihr gleich realistisch gerecht werden zu müssen. Zum anderen tragen sie ihre Wünsche in diese Wirklichkeit hinein und verändern sie danach.

– Im Spiel lernen Kinder nicht nur etwas über die Welt. Im Spiel nutzen sie die Möglichkeit, ihr Verhältnis zur Welt so einzurichten, dass sich die Notwendigkeiten der Wirklichkeit allmählich mit den persönlichen Bedürfnissen versöhnen lassen. Für diese Versöhnung brauchen Kinder Zeit.
– Die wesentlichen bildenden Momente des Spiels liegen nicht so sehr darin, dass die Kinder ihre körperliche und geistige Geschicklichkeit schulen, sondern in der Art und Weise der Welterfahrung, die Spielen ermöglicht.
– Im Spiel gebrauchen Kinder alle Formen körperlich-sinnlicher Erfahrung, sprachlichen Denkens, bildhafter Vorstellungen und subjektiver Fantasien sowie des sozialen Austausches und der Verständigung. Sie werden im Spiel in ein integriertes Geschehen verwandelt. Spiel geht also aus der Alltagssituation hervor und spaltet sie nicht in isolierte Funktionsbereiche auf.
– Im Spiel wenden sich die Kinder ihrer Umwelt freiwillig zu. Sie verbinden immer einen Sinn mit dem, was sie spielen. Sie können nicht sinnlos spielen – wohl aber sinnlos und oberflächlich etwas lernen.
– Das Spiel folgt dem Rhythmus des subjektiven Erfahrungsprozesses. Man kann Kinder durch äußere Zeitpläne aus diesem Rhythmus reißen oder sie darin unterstützen, ihn zu finden. Wo er gefunden wird, gestaltet sich Spiel als zeitliche Ordnung mit Anfang und Ende, Höhepunkten und Phasen des Dahingleitens, der Anspannung wie der Entspannung, des Alleinseins oder Zusammentreffens mit anderen. Im Spiel finden Kinder ihre eigenen Zeitgestalten, ihren eigenen Rhythmus.
– Am Spiel können sich Gleichaltrige – zuweilen auch Erwachsene – beteiligen, indem sie eigene Facetten ihrer Wahrnehmungen und Handlungsmöglichkeiten im Rahmen gegenseitiger Verständigung anbieten.
– Für das Spiel brauchen Kinder Räume, die sich als Spielräume eignen.

Ebenso wie sie aus eigenem Antrieb spielen, so gibt es eine ursprüngliche Lust der Kinder am Gestalten. Spielen und Gestalten sind oft nicht leicht voneinander zu trennen. Stärker als beim Spiel muss allerdings beim Gestalten das Material eine Berücksichtigung erfahren. Während sich das Spiel in völlig imaginären Wirklichkeitsbereichen vollziehen kann, muss das Gestalten entlang der Stoffe erfolgen, die man sich gewählt hat. Dabei nutzen Kinder, was sich ihnen gerade anbietet. Im Kindergarten sollten sie deshalb die Gelegenheit erhalten, ausgiebig mit möglichst vielen verschiedenen Materialien für ihre Gestaltungsabsichten zu experimentieren. Darauf aufbauend können sie – in der Regel erst im Schulalter – die Techniken zunehmend selbständig nutzen, die ihnen die Erwachsenen zeigen.

Auch Sprechen lernen ist eine ästhetische Erfahrung
Auch das Sprechen lernen beginnt mit einer Bildung der Wahrnehmung. Eines der grundlegenden Probleme dabei besteht darin, dass Kinder Laute unterscheiden und Wörter und Sätze als Einheiten begreifen müssen. Das ist zunächst ein Wahrnehmungs-, genauer ein ästhetisches Problem; denn es geht darum, das Wahrnehmungsvermögen so zu schulen, dass das kleine Kind dadurch in die Lage kommt, die spezifischen Klänge, Satzmelodien, Intonationsformen der Sprache zu erkennen, in die es hineingeboren wurde.

Das Problem des Sprechens beginnt nicht mit dem ersten Wort, sondern mit dem Erkennen der Laute. Jede Sprache, ja jeder Dialekt, hat seine eigenen Lautformen. Ein „a“ wird im Deutschen anders ausgesprochen als im Englischen oder Französischen. Eine fränkisches „a“ hört sich anders an als ein hessisches oder hamburgisches. Für einen Zuhörer, der in die Sprache nicht eingeführt ist – und dies sind Babys zunächst einmal – klingen diese „a“-Laute alle unterschiedlich. Um seine Muttersprache zu erlernen muss es daher erst einmal herausbekommen, welche Klangfarben dem „a“-Laut zuzuordnen sind und welche hingegen kein „a“ sind. Es gibt eine Lautreihe, in der sich z. B. der „a“-Laut allmählich in einen „o“-Laut verwandeln lässt. Rein akustisch gesehen ist dies ein kontinuierlicher Übergang. Dennoch machen wir an einer Stelle eine kategoriale Unterscheidung: Wir können sagen, bis hierher höre ich ein „a“, dies hier erkenne ich bereits als ein „o“. Diese kategoriale Grenze ist nicht eindeutig, wenn wir die unterschiedlichen Dialekte mit einbeziehen. Für jede Sprachgruppe und für jedes Individuum ist jedoch eine solche Grenze hörbar.

Das bedeutet nun, dass auch das Baby lernen muss, das Klangbild zu entziffern, das in seiner Umgebung gilt. Ähnliches gilt für das Erkennen von Wörtern. Bis zum letzten Drittel des ersten Lebensjahres haben Babys gelernt, dass es in ihrer Muttersprache bestimmte Betonungsmuster gibt, mit welchen man Worteinheiten identifizieren kann. Sie können dann bereits „Melodien“ erkennen, welche die Wörter im kontinuierlichen Fluss der Sprache abgrenzen und identifizierbar machen. Darüber hinaus haben sie in diesem Alter eine Kenntnis erworben, welche Lautkombinationen in ihrer Muttersprache möglich sind. Und später, im zweiten Lebensjahr, noch bevor sie wirklich zu sprechen beginnen, können sie auch Satzeinheiten unterscheiden, die ja auch durch ganz bestimmte Muster der Intonation, durch Satzmelodien strukturiert sind. Kinder sind also bereits Laut-, Wort- und Satzmusiker, noch bevor sie die ersten Wörter sprechen.

Ästhetische Bildung – was verstehe ich darunter?
Da der Begriff der Ästhetik im allgemeinen Sprachgebrauch zu leicht mit Kunst und Schönheit verbunden wird, verwende ich inzwischen den des „aisthetischen Denkens“ (beziehungsweise der „aisthetischen Bildung“). Damit möchte ich das Denken mit sinnlichen Mitteln von den Qualitätsurteilen, die mit dem Begriff des Ästhetischen verbunden werden, sprachlich abgrenzen.

Ästhetische Bildung hat nichts mit Kunst zu tun, sondern mit der sinnlichen Wahrnehmung und der Veränderung von Wirklichkeit mit Mitteln des Spielens und Gestaltens. Ästhetische Bildung ist daher in erster Linie Differenzierung und Bildung des Denkens der Wahrnehmung. Sie geht aus von allen Formen sinnlicher Wahrnehmung – bis hin zur Wahrnehmung der Sprache – und der Umformungen dieser Wahrnehmungserfahrungen durch Spielen und Gestalten. Jeder Sinnesbereich hat eigene Gestaltungs- und Spielformen: z. B. hat das Auge alle Formen des bildnerischen Gestaltens; das Ohr die des Gesangs, der Klänge, Geräusche und des Rhythmus; die Körpersensorik die der (rhythmischen) Bewegung und des Tanzes. Emotionale Wahrnehmungen werden szenisch (z. B. in Rollenspielen) gestaltet. Sie begleiten aber auch alle anderen sinnlichen Gestaltungsformen.

Alle Gestaltungsformen bedienen sich der Materialien, der Medien, der Werkzeuge und Instrumente. Akustische Gestaltungsformen beispielsweise sind auf Instrumente angewiesen, die Geräusche oder Klänge hervorbringen (die Stimme ist eines dieser Instrumente). Visuellen Gestaltungsformen liegt häufig der Gebrauch von graphischen, malerischen oder formenden Werkzeugen, verbunden mit entsprechenden Materialien, zugrunde. Es gibt darüber hinaus Medien, die sich mit der Bilderwelt und ihrer Gestaltung beschäftigen, wie Bilderbücher, Filme und z. T. auch Computerprogramme. Medienerziehung ist daher notwendig ein Teil der ästhetischen Erziehung.

Ästhetische Bildung ist jedoch kein ausschließlich privater Differenzierungsprozess im Wahrnehmungsbereich. Die Materialien, die Kinder benutzen, die Formensprachen, in denen sie gestalten, gebrauchen und verwandeln Muster, die ihnen die Umwelt bietet. Diese erweitern ihr subjektives Repertoire an Differenzierungsmöglichkeiten. Die Kunst ist eine Form, die Differenzierungspotenziale bis an die Grenzen zu treiben, welche auf der Basis gegebener kultureller Traditionen erreichbar sind. Dazwischen jedoch liegt das, was wir Kultur der Kinder nennen können, eigene Sprachbildungen, die aus der Interaktion der Gruppe der Gleichaltrigen hervorgehen. Sie richten sich nicht unbedingt am Vorbild der Erwachsenen aus. Kinderkulturen sind eigenständige Wege der Kinder und Jugendlichen, sich den kulturellen Traditionen zu stellen und sie eigensinnig zu verändern. Damit bilden diese – neben dem individuellen kreativen Potenzial – ein wesentliches soziales Potenzial zur produktiven kulturellen Weiterentwicklung.

Im ästhetischen Bereich begegnen Kindern aber nicht nur die Bild-, Hör-, Bewegungs- oder Medienwelten der eigenen Kultur. Sie erleben eine kulturelle Vielfalt in ihrem Alltag, sei es durch ihre eigenen Reisen, sei es durch die Aufnahme unterschiedlicher europäischer und nichteuropäischer Traditionen in die eigene Kultur, sei es durch die Koexistenz verschiedener kultureller Traditionen im sozialen und lokalen Umfeld der Kinder. Diese Vielfalt schärft die Wahrnehmung von Unterschieden und besonderen Ausprägungen. Sie gilt es, als Möglichkeit zu nutzen, eigene und fremde kulturelle Sinnes- und Medienwelten so miteinander in Verbindung zu setzen, dass diese als Erweiterung des eigenen kulturellen Reichtums erlebt werden können.

Zwölf Thesen zur Bedeutung einer basalen ästhetischen Bildung
(1) Sinnliche Erfahrungen über die Fernsinne, den Körper und die Gefühle bilden die Ausgangsbasis ästhetischer Erfahrung. Darauf baut ein „Denken“ dieser Wahrnehmungserfahrungen mit Hilfe von Vorstellungen, Bildern, Imaginationen und Fantasien auf.
(2) Vielsinnliche Wahrnehmung und imaginatives Denken dieser Wahrnehmungserfahrung fasse ich als ästhetische Erfahrungs-Bildung zusammen. Sie besteht in der Differenzierung und Strukturierung von Wahrnehmungen oder Vorstellungen, sowie in der Bildung einer sinnlichen Ordnung der Welterfahrung im Kopf des Kindes. Ästhetische Erfahrung bildet damit den Ausgangspunkt aller Selbst- und Welterfahrung jedes neuen Erdenbürgers.
(3) Nur das, was auf diese Weise in die Vorstellungs-, Fantasie- und Denkweltwelt überhaupt eingeht, kann von einem Kind als eigenständige Erfahrung verarbeitet werden. Wo solche Erfahrungen fehlen, ist das Kind auf ein Kennen lernen aus zweiter Hand angewiesen. Deshalb scheint es sinnvoll, der Bildung dieser Wahrnehmungs- und Vorstellungstätigkeit genau soviel Aufmerksamkeit zu schenken, wie dem urteilenden Denken.
(4) Wegen seiner grundlegenden Bedeutung stellte ich das ästhetische Denken dem urteilenden Denken gegenüber und meine, dass der wichtigste Bildungsprozess in der frühen Kindheit in der Ausformung und Differenzierung dieses ästhetischen Denk- und Tätigkeitsbereiches liegt.
(5) Ästhetische Erfahrung ist damit nichts, was man der kindlichen Entwicklung willkürlich oder auch ergänzend hinzufügen oder einfach von ihr wegnehmen könnte. Sie ist grundlegend dafür, dass ein Kind aus eigener Erfahrung heraus – und diese bedeutet ja, dass man eigene Wahrnehmungen gemacht hat – sich seine Welt deuten kann. (6) Man kann allerdings diesen Erfahrungsraum fördern oder einengen, unterstützen oder stören. Dementsprechend wird die Erfahrungsgrundlage des kindlichen Denkens breiter oder schmaler, differenzierter oder holzschnittartiger ausfallen.
(7) Sammeln, Phantasieren, Spielen und Gestalten (in allen Formen) sind zentrale – wenn auch nicht die einzigen – Bereiche, in denen Kinder ihre ästhetischen Erfahrungsmöglichkeiten vieldimensional ausloten.
(8) Ästhetische Erfahrung steht nicht im Gegensatz zu dem, was wir als das eigentliche Denken anzusehen gewohnt sind, nämlich das rationale. Es bildet vielmehr – bewusst oder unbewusst – dessen Grundlage, und seine Ausdifferenzierung entscheidet auch mit über die Qualität rationalen Denkens. Man könnte sagen: Denken beginnt mit der Frage: Was nehme ich überhaupt wahr?
(9) Lernprozesse, die nur die Realitätsgerechtigkeit und Rationalität kindlichen Denkens im Auge haben, lassen die Wahrnehmungs- und Erlebnisfähigkeit der Kinder unentwickelt. Damit ist Rationalität zwar leichter möglich, aber um den Preis von persönlichen Sinnfindungs- und Glücksmöglichkeiten.
(10) Wir müssen im späteren Leben von zwei unterschiedlichen Lernwegen ausgehen: Der eine geht von den eigenen Wahrnehmungen aus, die strukturiert, mit vergangenen Wahrnehmungen verglichen und mit den gegebenen Mitteln des Denkens verarbeitet werden. Der andere geht von sinnlich vorstrukturierten und vorgedachten Erfahrungen anderer Menschen aus, die dem Kind vorgestellt werden. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Lernwegen besteht darin, dass der zweite Weg kürzer ist. Er kann auf die eigene sinnliche Strukturierungsleistung des Kindes, auf eigene Fragestellungen und eigene Klärungsversuche des Wahrgenommenen verzichten. Das mag für manches Wissen und Lernen genügen. Was dabei aber nicht gelernt wird ist, neue, noch unbekannte, bislang ungedachte oder unzureichend gedachte Erfahrungen so zu strukturieren, dass sie gedacht, gelöst werden können. Darauf ist aber gerade kreatives Problemlösen angewiesen: bislang ungeklärte Wahrnehmungserfahrungen so aufzubereiten, dass man sie denken kann. Es ist also gerade das problemlösende Denken, welches auf die ästhetischen Erfahrungen, die ästhetischen Vorstrukturierungen und die ästhetischen Denkweisen angewiesen ist.
(11) Lernen wir besser wahrnehmen, das scheint die wichtigste Forderung zu sein, wenn wir ästhetische Erfahrung als Grundlage von (frühkindlicher) Bildung anerkennen wollen. (12) Lernen wir besser wahrnehmen, lautet aber auch die Botschaft, wenn wir das problemlösende Denken in unseren Kindern unterstützen wollen. Hier berühren sich die Kreativität der kleinen und die der großen Kinder.

Die vollständige Fassung einschließlich der Literaturangaben ist über die Geschäftsstelle erhältlich.

Der Beitrag ist eine leicht veränderte Fassung des gleichnamigen Artikels, erschienen in: Hildegard Bockhorst (Hrsg.) Kinder brauchen Spiel & Kunst, kopaed 2006.

Prof. Dr. Gerd E. Schäfer ist Professor für Erziehungswissenschaft, Pädagogik der frühen Kindheit und Familie sowie Jugend am Institut für Bildungsphilosophie, Anthropologie und Pädagogik der Lebensspanne der Universität Köln.

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